GabiHasmann0908Wie eine zweite Haut

„Hör‘ auf zu schreien! Ich kann nicht arbeiten, wenn du so brüllst“, erklärte der Zahnarzt in Richtung der blutunterlaufenen Augen einer jungen Frau, die kurz zuvor noch freundlich von der Theke im „Skinny Dipping“ zu ihm herüber gelächelt hatte. Er wusste nicht mehr, wie sie hieß, das war für die Prozedur allerdings auch nicht sonderlich von Bedeutung. Ohnehin spielten für ihn Namen nur eine untergeordnete Rolle, er merkte sie sich auch nicht, würde sogar seinen eigenen gerne vergessenEr hieß Dr. Christian Baumann, nannte sich selbst aber gerne „Metzger“, weil er so gerne häutete und schlachteteEr fühlte sich gefangen in einem Körper, der nicht ihm zu gehören schien, und gebrandmarkt mit einem Geschlecht, das nicht sein Innerstes widerspiegelteUnd genau aus diesem Grund versah er sich selbst regelmäßig mit einer neuen Identität!

Er musterte sein neues Opfer mit fast Übelkeit verursachendem Neid. 

„Sch … sch … sch … Es wird nicht lange wehtun …“, versprach er, fuhr der zitternden Frau über eine der kalkweißen Wangen und strich ihr eine blonde Locke aus dem Puppengesicht. 

„Neugierde ist die Gier nach Neuem. Ein loderndes Feuer, das dich verbrennt, wenn du die Vernunft nicht siegen lässt …“, murmelte er.  „Die gute Nachricht ist: Du schüttest gerade keine Kopuline aus, hast offenbar keinen Eisprung. Daher werde ich dich nach deinem Tod nicht zerteilen und portionsweise essen, um mich an deinem Östrogen zu berauschen. Dein Körper darf somit Bekanntschaft mit dem Flusssäurebad machen und sich langsam zersetzen. Das wird ordentlich prickeln, meine Liebe! Er kicherte hämisch und nahm dabei einen roten Baumwollschal aus dem rollbaren Metallkasten, der direkt neben dem Patientenstuhl stand.

Die Handgriffe, die nötig waren, um einen Menschen daran zu hindern, auf ihn einzureden oder um ihr Leben zu flehen, konnte er mittlerweile im Schlaf. Es dauerte auch diesmal nicht lange, bis nach der Knebelung nur noch ein klägliches Wimmern zu hören war. Immer wieder riss das Püppchen an den Schlaufen, die seine Arme und Beine fixierten – ohne Erfolg. Baumann besaß allerdings jahrelange Übung darin, die ledernen Riemen fest genug um die zarten, schmalen Gelenke zu schlingen, sodass seine Konstruktion auch den heftigsten Befreiungsversuchen standhielt. Seine Praxis würde auch dieses Mal das Letzte sein, das seine flüchtige Bekanntschaft sah, ehe ihr junges Leben erloschIn seiner Laufbahn als „Metzger“ war ihm bisher nur ein einziger Fehler unterlaufen, und der nagte bis heute an ihm und bescherte ihm hin und wieder Albträume. 

„Verzeih mir, dass ich dich nicht betäuben werde, ehe ich mit der Arbeit beginne. Aber deine Haut ist straffer und sitzt hinterher besser, wenn zuvor genügend Adrenalin durch deine Kapillargefäße rauschen konnte“, verkündete er mit sanfter Stimme„Ich möchte dir aber die Freude machen, dir zu erklären, was gleich mit dir passieren wird.“ Mit andächtiger Miene schlüpfte er Finger für Finger in blaue Latexhandschuhe und stülpte sich anschließend ein schwarzes Band, an dem eine medizinische Stirnlampe befestigt war, über den fast kahlen Kopf. Schließlich war er kein Stümper, ließ den „Spendern“ eine umsichtige Behandlung mit sämtlichen hygienischen Standards angedeihen und stets die größte Sorgfalt im Umgang mit dem „Material“ walten. Die Vollendung eines perfekten Werkserforderte eine professionelle Vorgehensweise, Geduld und Fingerspitzengefühl. All das besaß er mittlerweile. 

„Du bist Teil von etwas Großem …“, hob er euphorisch an. „Ich produziere wahre Kunst und werde dich unsterblich und mich glücklich machen.“ Vorfreudig lächelnd griff er nach dem Skalpell. Auf dem blitzblanken Metall spiegelte sich das Licht seiner Stirnlampe, als er das medizinische Werkzeug in die Höhe hob, um dessen Sauberkeit zu prüfen. Er nickte zufrieden, da er weder Blutspritzer, noch blinde Flecken oder gar Fingerabdrücke auf der glänzenden Klinge entdeckte.

„Zuerst entferne ich vorsichtig dein Haar“, murmelte er, während er mit dem Skalpell sanft über ihre Kopfhaut kratzte. „Anschließend löse ich die Haut von deinem Gesicht“, vorsichtig fuhr er an ihren Konturen entlang. „Danach arbeite ich mich nach unten weiter. Die Brüste sind das Schwierigste“, betonte er nachdrücklich und hob belehrend einen Zeigefinger. „Ich muss genug Fettgewebe entnehmen, um ihre Form zu erhalten, damit sie später nicht in sich  zusammenfallen. Wäre doch schade drum. Den Rest benötige ich nur für das Gesamtbild. Es sähe doch reichlich seltsam aus, wenn mein Körper eine andere Farbe hätte, als dein Gesicht, wenn ich dich anziehe“, feixte er. „Natürlich arbeite ich immer ökologisch“, setzte er erklärend nach. „Die Knochen und Gedärme der Identitätenbekommen meine Hunde, ich selbst habe dafür keinerlei Verwendung. Wenn ich eine Person, so wie dich, allerdings nicht zerteile, gehen auch die Köter leer aus. Es ist mir nämlich zu anstrengend und zeitaufwendig, einen Menschen in kleine Stücke zu hacken, wenn mir der Verzehr des Fleisches nichts bringt.                                                                                                                

Die junge Frau sackte bei seinen Worten in sich zusammen, bäumte sich kurz darauf mit einem erstickten Laut auf und begann unter dem Schal zu hyperventilieren. Sofort spritzte ihr Baumann ein leichtes Beruhigungsmittel, um ihre Körperfunktionen abzuflachen. „Eigentlich hatte ich gehofft, du würdest dich mehr darüber freuen, mit mir verschmelzen zu dürfen“, seufzte er. „Aber ich bin es gewohnt, in dieser Hinsicht immer wieder Enttäuschungen zu erlebenNun ja, wir können es nicht ändern, ich werde deine Haut trotzdem mit Stolz tragen.“

Mit routinierten Handgriffen fing er an, ihr das T-Shirt vom Leib zu schneiden. Durch die Fixierungen war es ihm unmöglich, sie auf normalem Wege zu entkleiden, und am Ende des Tages würde sie ihre Sachen ohnehin nicht mehr benötigen. „Braves Mädchen“, flüsterte er, als seine Finger schließlich den Verschluss ihres Büstenhalters lösten.

Ohne ihre Haut zu verletzen, schnitt er anschließend fröhlich pfeifend durch den Stoff am Oberschenkel seines Opfers entlang, bis er plötzlich in der Lendengegend auf einen Widerstand traf.Irritiert legte er das Skalpell zur Seite und zog er ein hellblaues Mobiltelefon aus der Tasche der Jeanshose. Verärgert grunzend hielt er es in die Höhe und zeigte es der jungen Frau, die daraufhin mit weit aufgerissenen Augen wieder panisch zu zappeln begann. Der „Metzger“ aktivierte das Gerät, das nicht einmal mit einem Passwort gesichert war, und starrte sekundenlang mit stumpfem Blick auf dashellblau aufleuchtende DisplayIn der Vergangenheit versunken erinnerte er sich an den Tag vor genau einem Jahr, an dem eine Identität hatte fliehen können, die ihn seither zeitweise in nächtlichen Horrorvisionen heimsuchte. Damals war das Klingeln eines Handys der Auslöser für eine kurze Unaufmerksamkeit seinerseits gewesen.

Plötzlich kam ihm eine teuflische Idee, mit deren Umsetzung in die Tat sich seine Stimmung wieder bessern würde. Er könnte die Mutter des Mädchens anrufen und ihre Tochter ein paar letzte Worte mit ihr sprechen lassen – als unvergessliches Erlebnis für die beiden. 

Er griff nach der Hand der jungen Frau und entsperrte das Handy mit ihrem Daumenabdruck, danach wischte er über das Display, um die Funktion „letzte Anrufe“ zu suchen. Als er dabei den Button „Galerie“ entdeckte, tippte er ihn neugierig an. Vielleicht fand er ja ein paar Nacktfotos von seinem Opfer, obwohl er in wenigen Minuten ohnehin alles in Natura sehen würde. 

Gleich darauf zuckte er erschrocken zurück, als er bereits auf dem ersten Bild sich selbst erkannte.Wie war das möglich? Mit zitternden Fingern scrollte er weiter. Noch viele weitere Male blickte er in sein eigenes Antlitz. Und viel schlimmer noch, er posierte vor all jenen Gesichtern, die er im Laufe der Zeit von ihren Besitzerinnen getrennt hatte. 

Sein Blut begann zu brodeln wie glutrote heiße Lava im Krater eines Vulkanses pulsierte in schnellem Rhythmus durch seinen Körper und zwang das Organ in seiner Brust zu einer stark erhöhten Pumpfrequenz, die bereits nach wenigen Sekunden starke Schmerzen verursachteWenn er nicht aufpasste, würde er einen Infarkt erleiden, vor dem ihn sein greiser Hausarzt seit vielen Jahren warnte. Der weißhaarige Mediziner stellte bei jedem Kontrolltermin fest, dass sich sein Patient offenbar zu großen psychischen Belastungen aussetzte und sein ohnehin von Geburt an schwaches Herz diesem Druck nicht mehr lange standhalten würde. Er riet ihm nach jeder Untersuchung, in seinem Job kürzerzutreten, da ihn dieser offenbar zu sehr anstrengte. Wenn der wüsste! Als wäre er mit den paar Stunden am Tag, die er als Zahnarzt mit der Hand im Mund fremder Leute verbrachte, überfordert. Der gute Mann ahnte allerdings auch nichts von seiner wahren Berufung als „Metzger“ und dem damit verbundenen Stress.

„Warum hast du Bilder von mir auf deinem Handy?“, brüllte er unbeherrscht los, nachdem er ein paar Mal langsam tief ein- und wieder ausgeatmet hatte, um seinen Puls zu verlangsamen. 

Das Püppchen begann erneut, an seinen Fesseln zu zerren, während es hektisch keuchte und zeitgleich gurgelnde Laute ausstieß. Hastig riss er ihr den Schal vom Gesicht und wiederholte seine Frage, bereits etwas gefasster und schon fast freundlich, damit sich die junge Frau beruhigen und antworten konnte. 

Sie schnappte nach Luft, als sich der Baumwollschal von ihrem Mund löste, ihre rot verschmierten Lippen bewegten sich dabei wie das Maul eines Karpfens an Land. Fast hätte er gelacht, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre.

Gib Antwort, wenn ich dich etwas frage!“, schrie er wieder los und bleckte die Zähne wie ein wildes Tier, während der Speichel in seinen Mundwinkeln kleine Blasen warf

Das Mädchen starrte ihren Peiniger sekundenlang stumm an, wobei sich der Ausdruck in seinem Gesicht Zug um Zug veränderte. Die Angst schien langsam zu weichen und Überlegenheit Platz zu machen, gepaart mit Erstaunen über ihre plötzlich veränderte Situation. Zudem glomm Hoffnung in ihren Augen auf, die ihr der „Metzger“ vorerst nicht wieder zu nehmen gedachte.

Seltsam, überlegte er, wird ihr erst jetzt klar, wessen Schnappschüsse auf ihrem Smartphone gespeichert sindHat sie mich nicht erkannt? Gehört das Telefon überhaupt ihr? 

Wer hat diese Fotos gemacht?“, verlangte er zu wissen und hob drohend die Hand, besann sich aber gerade noch rechtzeitig. Er wollte das Material nicht unnötig strapazieren oder gar beschädigen, denn wenn seine Pranke zuschlug, war die Entstehung von Rissen in der Haut nicht auszuschließen. 

Die junge Frau schwieg weiterhin. Er meinte sogar, die Andeutung eines Kopfschüttelns bemerkt zu haben und empörte sich lautstark über ihre Bockigkeit: „Du kleine Nutte wirst mir jetzt sofort verraten, was es mit den Aufnahmen auf sich hat, verdammt noch einmal. Wenn du nicht gleich redest, ramme ich dir ganz langsam einen meiner zahlreichen Bohrer“, er deutete grinsend auf die zahnärztlichen Instrumente, die auf einer Metallleiste über ihrem Kopf fixiert waren, „in den Gehörgang, weil den brauche ich sowieso nicht. Nur die hübschen Ohrmuscheln müssen intakt bleiben. Also: Von wem stammen diese Bilder? Ist das dein Handy?“

Mit Genugtuung stellte er fest, dass die Panik in den Blick seines Opfers zurückkehrteseine Unterlippe  bebte, doch noch immer drang kein Laut aus seinem Mund.

„Schön, wenn du ohnehin nicht mit mir sprichst, kann ich dir auch die Zunge abschneiden. Ist mir egal, wenn ich nicht erfahre, warum du mich und meine Identitäten fotografiert hast.“ Er bluffte und ahnte, dass das Püppchen es auch wusste.

„Birte Herold“, keuchte das verstörte Mädchen plötzlich und begann heftig zu zittern. Mehr war ihm nicht zu entlocken, ehe es in eine tiefe Ohnmacht glitt. Baumann kannte diesen Namen nicht, jedenfalls nicht bewusst. 

Mit einem ratlosen Schulterzucken zog der „Metzger“ neuerlich den Baumwollschal über den Mund seines Opfers und zog ihn am Hinterkopf wieder straff. Er wollte endlich sein Werk vollenden und verhindern, dass die Kleine vom eintretenden Schmerz hochschreckte und die halbe Stadt zusammenschrie. Baumann wohnte in dem Altbau zwar alleine auf der letzten Etage, doch man musste ja nichts riskieren – die alte Frau Weber in der Wohnung unter seiner Praxis hatte Ohren wie ein Luchs. 

Birte Herold … Die beiden Worte hallte in seinem Kopf wider und wider. Aber so sehr er es auch versuchte, er konnte sich nicht an diesen Namen erinnern – falls er ihn überhaupt schon jemals gehört hatteHoffentlich keine Patientin! Fraglich war allerdings, ob es sich bei dieser Person tatsächlich um jene handelte, der das Smartphone gehörte. Egal, sie kennt jedenfalls mein Gesicht. Somit gilt es, die Unbekannte zu finden, sobald ich mit meiner Arbeit hier fertig bin, und sie unschädlich zu machen. Da bleibt mir keine andere Wahl!

Mit einem seine Gedanken bestätigenden Nicken nahm er wieder das Skalpell zur Hand und setzte es unter dem rechten Ohr der jungen Frau an. Die Haut schrumpft ein, wenn man sie vom „Spender“ trennt, das hatte er schmerzvoll erfahren müssenMittlerweile war der „Metzger“ allerdings längst routiniert und wusste, wo genau er mit der Prozedur zu beginnen musste, um ein perfektes Ergebnis zu erzielen. Gewissenhaft setzte er den ersten Schnitt. Noch zeigte das Püppchen keine Regung. Baumann musste sich während des Ablöseprozesses einige Male mit dem Handrücken das Gesicht säubernSobald er nämlich mit bloßer Muskelkraft die Haut vom Knochen zog, brachen regelmäßig die Gefäße auf, woraufhin er förmlich in Blut badete. Leider war die Sauerei aber nicht vermeidbar.Einige der dicken Spritzer landeten auf seiner Brille, deren Gläser er zwischendurch immer wieder mit einem Lappen putzte, der allerdings ebenfalls bereits vor Feuchtigkeit troffNur noch ein kräftiger Zug war nötig und ihr Haar würde allein ihm gehören. Als er fest nach der baumelnden Kopfhaut griff, öffnete die junge Frau plötzlich die Augen. Tränen schossen ihr übers Gesicht, während sie sich panisch in die Innenseite des Schals verbiss und an ihren Fesseln riss. Doch ihrem Schicksal würde sie nicht entgehen. Immer wieder weiteten sich ihre Pupillen vor Schmerz. Ihre Wangen fühlten sich mittlerweile verschwitzt und beinahe fiebrig an. 

„Was hast du denn?“, flüsterte Baumann und küsste ihre heiße blutverschmierte Stirn. „Alles wird gut, du wirst sehen! Und als Nächstes besuche ich diese Birte Herold.“ Mit einem heftigen Ruck riss er die Kopfhaut vom Schädel und das Mädchen sackte erneut in sich zusammen. Speichel tropfte ihm aus einem Mundwinkel und benetzte ihre Brüste. „Natürlich ist es für dich unangenehm …“, fuhr der „Metzger“ seelenruhig fort und tupfte vorsichtig ihrHaut mit einem Hygienetuch trocken. „Aber würdest du sehen, wie wunderschön ich dann mit dir sein werde, wüsstest du, dass dein Tod nicht umsonst ist.“ 

Gleich darauf legte er das Skalpell beiseite und griff nach den blonden Locken. Stolz platzierte er sieauf seinem kahlen Schädel und stellte sich vor den Spiegel, der sich über einem Handwaschbecken in seinem Behandlungsraum befand. Zärtlich strichen seine Finger immer wieder durch das weiche Haar. Es roch nach Orchideenblüten und Kokosöl. Unter ihnen tropfte Blut aus der abgetrennten Kopfhaut auf Baumanns Wangen. Er fühlte sich erhaben, gottesgleich. Denn genau das war er – ein Schöpfer.

„Nicht mehr lange und ich werde vollständig sein“, sagte er und setzte sich auf den Stuhl zurück, um mit der Arbeit fortzufahren. Ohne seine neue Perücke abzusetzen, griff er neuerlich nach dem scharfen Werkzeug und schnitt damit an der Hauptschlagader der jungen Frau entlang. Wieder schoss ihm heißes Blut entgegen, aber er genoss diesmal jeden einzelnen Spritzer in seinem Gesicht. Es war, als würde ihn ihr Lebenssaft sowohl von innen, als auch von außen, wärmen und vitalisieren. Der Puls der jungen Frau wurde immer schwächer. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie für immer einschlief. Wenigstens wachte sie ab diesem Stadium der Prozedur ganz sicher nicht mehr auf, und der „Metzger“ konnte in Ruhe sein Werk beenden. 

Drei Stunden später hatte er sein mittlerweile verstorbenes Opfer komplett gehäutet und die neue Identität auch bereits anprobiert. Glücklich legte er sie anschließend zusammen und verstaute sie in einem eigens für seine Trophäen angefertigten Schrank, den er sorgsam wieder verschloss. Danach schleppte er den leblosen Körper des Püppchens in die an seine Praxis grenzende Wohnung, die er zum Entsorgen der Leichen nutzte. Er steckte die Überreste in einen Bottich mit Säure, in dem sie sich langsam auflösen würden, bevor er den Holztrog schließlich im Garten seines Ferienhauses auf dem Land vergraben wollte, in dem bereits mehrere Fässer mit menschlichem Abfall vor sich hin rotteten. Dass aufgrund der giftigen Substanz, in dem die zersetzten Frauen schwammen, aus der Erde kein einziger Grashalm, ja nicht einmal Unkraut, spross, störte ihn nicht weiter.

Baumann begann, nachdem der das Gefäß fest verschlossen hatte, fröhlich pfeifend einen Plan zu schmieden, mit dem er an diese Birte Herold heranzukommen gedachte. Zuerst einmal wollte er in dem Handy nach ihrem Namen suchen, schlimmstenfalls müsste er sie anrufen und mittels einer Fangfrage herausfinden, wo sie wohnte, falls sich keine Adresse bei ihren Kontaktinfos befand.

Gesagt, getan, und er hatte Glück. Bei den Einstellungen und fand er sie als Besitzerin des Smartphones heraus, sogar ihre Anschrift war vermerkt: Birkenallee 73, 50679 Köln. Noble Gegend, dachte er und rieb sich die Hände. Vermutlich eine reiche Tussi, die sich dort in einer super schicken Villa einquartiert hat. Ich glaube, ich werde dieses Mal eine Ausnahme und sie zu meiner nächsten Identität machen, ohne ein Jahr abzuwarten. Denn die Zeit drängt, ich muss es rasch tun. Sobald meinsoeben gehäutetes Püppchen nämlich als vermisst gilt, erfährt diese Birte vermutlich davon und wird sofort zur Polizei rennen. Natürlich hat sie keine Beweise, weil das Telefon ja nun in meinem Besitz ist. Es wäre jedoch auch möglich, dass weitere Fotos existieren. Allerdings ist mir schleierhaft, warum diese Weiber Stillschweigen über meine Taten bewahren … sie wissen doch bestimmt, dass ich mir die Gesichter geholt habe, die auf den Bildern zu sehen sind. Warum sollte ich wohl sonst dabeistehen?

Der „Metzger“ scrollte sich noch einmal durch die zahlreichen Schnappschüsse und stellte fest, dass sie direkt im Behandlungszimmer seiner Praxis aufgenommen worden sein mussten. Hier bewahrte er auch seine Identitäten auf, denn das verschaffte ihm einen zusätzlichen Kick – sie befanden sich im Schrank direkt hinter dem Stuhl, auf dem seine Patienten Platz nahmen, ohne auch nur im Geringsten etwas von den menschlichen Hautanzügen im selben Raum zu ahnenDass die Fotos hier aufgenommen worden waren, hatte er zuerst in seiner Aufregung gar nicht bemerkt. Seltsam fand er allerdings, dass er seinen Arztkittel trug, den er normalerweise ablegte, wenn er eine Modeschau mit den Hüllen seiner Püppchen veranstaltete. Und er sperrte stets gewissenhaft die Tür zu, wenn er die intimen Momente in Gesellschaft der Frauen genießen wollte, die ihn so glücklich machten, um nur ja nicht dabei ertappt zu werden. Wann also war diese Luder in sein Allerheiligstes gelangt? Und vor allem wie? Es handelte sich bei ihr um keine seiner Patientinnen, so viel stand fest. Erneut überwältigte ihn heißer Zorn, den er mit langsamer Atmung wieder halbwegs erfolgreich zum Verebben brachte, um sein Herz zu schonen. Mit einem letzten Rest Wut stellte er fest: Birte Herold … du hast zum letzten Mal eingebrochen und unerlaubt den wertvollsten Besitz fotografiert, den ein Mann haben kann: Püppchen.

Baumann beschloss, die Unbekannte noch am selben Tag aufzusuchen und in Erfahrung zu bringen, was sie wussteZum Glück war es nicht notwendig, sich mit einer erfundenen Geschichte mühsam an sie heranzupirschen und zeitaufwändig ihr Vertrauen zu gewinnen, denn sie kannte ja sein Gesicht und wusste, um wen es sich bei ihm handelte. Er malte sich den Moment aus, in dem ihr klar wurde, wer vor ihr stand und in dem ihr Körper Angstschweiß zu produzieren begann, den er so gerne an Frauen roch. Am liebsten würde diesen Duft jedes Mädchens einfangen und immer dann auftragen, wenn er in dessen Haut schlüpfte. Ein diesbezügliches Verfahren entwickelte er gerade, hatte aber noch nicht herausgefunden, wie man dieses flüchtige Aroma dauerhaft konserviere. Und er konnte ja schlecht einen Experten fragen. 

Der „Metzger“ kicherte, besann sich aber sofort wieder auf das Wesentliche und wollte keine Ablenkung mehr zuzulassen, bis Birte Herold aus dem Weg geschafft und sein Geheimnis wieder sicher war. Wenn es nicht auch noch andere Menschen wissen, dachte er mit Schaudern, aber das wird mir die Tussi im Angesicht des Todes sicher gerne mitteilen, zumal ich ihr in Aussicht stellen werde, dass sie das Ganze überleben könnte, sollte sie kooperieren. 

Er nahm erneut das Handy zur Hand, durchforstete die Galerie nach weiteren Fotos und hoffte, einen Hinweis auf das Aussehen dieser Birte zu entdecken. Die Chancen darauf standen nicht gut, aber möglich wäre es. Mit Bedauern stellte er jedoch kurz darauf fest, dass sie anscheinend keine Freundin von Selfies und der damit verbundenen Selbstdarstellung warEs befanden sich neben den Bildern von ihm und seinen Identitäten auch nur noch sehr wenige Fotos auf dem Gerät, die meisten davon zeigten einen hässlichen Hund, der einmal mit einem Ball spielte, einmal mit allen Pfoten von sich gestreckt schlief oder einfach nur dasaß und doof in die Kamera glotzte. Er würde also erst direkt vor der Haustür erfahren, wie hübsch oder weniger hübsch die Frau war, die er unplanmäßig töten musste.Hoffentlich ist sie zumindest blond, denn dann darf sie meine neue Identität werden, dachte er voller Vorfreude und geriet dabei in einen fast ekstatischen Erregungszustand

Er warf einen letzten Blick auf das Handydisplay, ehe er lächelnd die Wohnung verließ, in der sich sein letztes Opfer langsam zu zersetzen begann, und zu seinem Auto marschierteDie Neugierde auf Birte Herold und deren Aussehen brachte ihn schier um, er war allerdings nahezu sicher, dass sie blondgelockt sein würde. Immer wieder fragte er sich, wie ihre letzten Stunden mit ihm werden würden. Er fühlte schon förmlich, wie ihr heißes Blut seinen Körper benetzte und ihre Haut mit seiner verschmolz. Aus dieser Prozedur wollte er etwas ganz Spezielles machenvor allem deshalb, weil er sie unverhofft einschieben musste. Er nahm sich vor, dabei besonders hohe Anforderungen an seine Kreativität zu stellen und zu neuer Höchstform aufzulaufen. 

Euphorisch setzte er sich in seinen Wagen, startete den Motor und fuhr in eine Ungewissheit, deren Ausgang er allerdings kannte

Keine halbe Stunde später parkte er das Fahrzeug vor der Villa, in der Birte Herold wohnteSie lagwunderschön hinter einem parkähnlichen Vorgarten, besaß eine cremefarbene Fassade und ein hohes, rotes Ziegeldach. Dem „Metzger“ war klar, dass es kein leichtes Unterfangen werden würde, die Frausowohl aus der Reserve als auch aus dem Haus zu locken und sie anschließend in seine Praxis zu bringen. Über dem schwarzen Holzzaun, der das Gebäude von der Straße abschirmte, prangten überall Überwachungskameras. Die kann es sich leisten, sich vor Einbrüchen zu schützen. Aber bei mir ist sie ungeniert eingedrungen und hat meine Räume durch ihre unbefugte Anwesenheit entweiht.Zähneknirschend blieb er noch eine Weile in seinem Wagen sitzen, kurbelte das Fenster hinunter und beobachtete die Szenerie: in der riesigen Grünanlage wiegte sich raschelnd der Wind in den Laubkronen der Bäume, in den blankgeputzten Fensterscheiben der Villa spiegelte sich funkelnd dieSonne, eine alte Frau mit Mops – auch so ein hässlicher Köter, fand er – schlenderte auf der Straße an dem Anwesen vorbei, ein kleines rotes Auto näherte sich von vorne und … wurde direkt vor seinemabgestellt. 

Nachdem sich die Tür auf der Fahrerseite geöffnet hatte, streckten sich lange schlanke Beine in pinkfarbenen High Heels aus dem Fahrzeug, welchen gleich darauf ein wohlgeformter Körper folgte, auf dem ein Kopf mit langem, blondem Haar saß. Keine Locken, aber die könnte man zur Not auch selbst hineindrehen, dachte Baumann. In der Not frisst der Teufel Fliegen. Die Frau wandte ihm nur kurz ihr make-up-verkleistertes Gesicht zu und stöckelte dann mit majestätisch erhobenem Haupt in Richtung Villa. Sie öffnete das Gartentor mit einer winzigen Fernsteuerung und verschwand kurz darauf durch die doppelflügelige Eingangstüre im Haus.

Für seine „Beutezüge“ hatte Baumann immer einen blauen Müllsack im Handschuhfach. Ihm fiel es nicht sonderlich schwer, die von ihm auserwählte „Spenderin“ zu überfallenzu betäuben, in sein Auto zu zerren und unbemerkt mit ihr zu verschwinden. Wie er es jetzt anstellen sollte, sich Birte Herold zu holen, war ihm allerdings schleierhaft. 

Plötzlich kam ihm die rettende Idee. Natürlich würde diese Vorgehensweise gegen seine Gepflogenheiten verstoßen, und allein dieser Gedanke widerstrebte ihm, aber es schien auf den ersten und auch zweiten Blick keine Alternative zu geben. Zudem drängte die Zeit, diesen Umstand durfte man nicht vernachlässigen. Er würde das Mädchen zu einem Kontrolltermin in seiner Praxisüberreden. Für gewöhnlich tötete er keine Patientinnen, weil er sich niemals an den Menschen vergreifen würde, die ihm ihr Gebiss anvertrauten und ihn als guten Zahnarzt schätzten. Aber streng genommen war sie das ja auch nicht, wenn er sie noch vor einer Behandlung in seine Gewalt brachte.

Da der „Metzger“ mit seinen Kahlkopf bedeckenden Haaren recht attraktiv aussah, zog er ein schwarzes Toupet aus dem Handschuhfach. Dieses hatte er sich nicht selbst geholt, da er erstens keine Männer tötete und zweitens privat nur blond trug, sondern ganz profan gekauft. Diese Herrenperücke führte er für alle Fälle immer mit sich, die während jeder Autofahrt direkt neben der Mülltüte lagMit Blick in den Rückspiegel war sie innerhalb einer Minute perfekt auf seinem nackten Schädel platziert. 

Er stieg aus dem Auto und rückte noch einmal sein Hemd zurecht, ehe er sich zur Villa der Unbekannten aufmachte. Die meisten seiner „Spenderinnen“ waren einfach gestrickt und leicht zu beeindrucken, es handelte sich um primitive Weibchen, die ein maskuliner Duft und eine enge Jeans, gefügig machten. Er musste es schließlich wissen, machte er sich doch immer zuerst – und in nahezu 100 Prozent erfolgreich – in einschlägigen Bars an seine Opfer heran, eher er sie auf ihrem Nachhauseweg mit dem Auto verfolgte und überwältigte. 

Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es Punkt 15 Uhr war. Mittlerweile hatten sich dicke graue Wolken vor die Sonne geschoben und den Himmel verdunkelt.

Vorsichtig näherte er sich der Videoüberwachung und drückte auf den KlingelknopfIn Gedanken ging er noch einmal den Dialog durch, den er mit Birte Herold führen wollte, um sie in seine Praxis zu lockenEr erschrak, als fast im selben Augenblick der Öffner summte, und drückte rasch gegen das Gartentor, welches leise aufsprang. Das ging ja erstaunlich einfach. Ob sie mich schon gesehen hat? Sind diese Kameras am Zaun überhaupt echt, oder dienen sie nur der Abschreckung? 

An der Haustür nahm den „Metzger“ ein Mann mit ausdrucksloser Miene im schwarzen Frack in EmpfangVermutlich der Butler … solche Schnösel leben hier also. Aus dem Hintergrund drang lautes Lachen, Gläserklirren und Musik an seine Ohren.

„Ah, Herr Baumann …“, begann der „Pinguin“. „Wir erwarten Sie bereits als Ehrengast auf unserem bescheidenen Fest.“ 

Im ersten Moment dachte er, dass es sich bei dem blonden Wesen im Auto vorher vielleicht gar nicht um sein Zielobjekt handelte, denn wenn hier eine Party stieg, war sie als Gastgeberin doch sicher nicht eben erst eingetroffen. Erst im zweiten Moment wurde ihm bewusst, was sein Gegenüber gerade gesagt und ihn dabei namentlich angesprochen hatte.

Verwirrt stammelte er: „Ich … äh … wusste gar nicht, dass ich eingeladen bin. Das wurde mir nicht mitgeteilt.“

Da eilte eine blonde Frau heran, eine andere als die aus dem roten Flitzer, und schob den Bediensteten beiseite. Sie trug einen riesigen Sonnenhut mit einer Art Moskitonetz vor dem Gesicht, ein weißes wallendes Kleid und rote Stöckelschuhe.

„Willkommen!“, säuselte sie mit unecht klingender Freundlichkeit. „Ich bin Birte Herold, wie sie sicher bereits vermuten.“ Sie streckte ihm eine schmale Hand entgegen, an der mehrere teuer aussehende Ringe glänzten. „Treten Sie doch näher!“

Was der Zahnarzt nicht wusste: Auf dem in seine Hände gelangten Handy war eine Tracking-App installiert worden, sodass man hatte nachverfolgen können, wann er das Grundstück betreten würde. Häppchen konnten die Angestellten jederzeit spontan herrichten, die Zutaten dafür standen in dem feudal geführten Haushalt immer zur Verfügung, die Gäste hatten sich für die Inszenierung, die in der Villa stattfand, täglich auf Abruf bereitgehalten. Sein Erscheinen und alles, was diesem folgen sollte, war bis ins Detail geplant!

Immer noch total benommen vor erschrockener Verwunderung konnte Baumann nichts anderes tun, als tatsächlich in den Flur der Villa zu treten, der kühl und vornehm wirkte.

Die Gastgeberin wandte sich dem Butler zu und bat ihn, in der Küche nachzusehen, wann mit den neuen Häppchen zu rechnen wäre, da die „hungrige Meute“ im Salon die erste Fuhre bereits restlos verputzt hätte. Der Diener wandte sich daraufhin zum Gehen, nicht ohne dem „Metzger“ hinter dem Rücken der Hausherrin einen hämischen Blick zuzuwerfen. 

Birte Herold drehte sich wieder um, ihre dunklen Augen funkelten durch das feinmaschige Netz vor ihrem Gesicht wie zwei blank geschliffene Turmaline. „Sie erkennen mich nicht, oder?“, frage sie, wartete dann allerdings keine Antwort ab, packte den Besucher resolut am Ärmel und zog ihn mit sich. Gleich darauf stand er in einem großen Raum voller blonder Frauen, die ihn mit großem Hallo begrüßten.   

Der noch immer irritierte Baumann wurde auf ein Sofa im gesetzt, und der von zwei Serviermädchenmit Silbertabletts voller belegter Brötchen eskortierte Butler reichte ihm ein eiskaltes Bier. Alkohol war für ihn im Moment definitiv nicht die schlechteste Wahl, und so kippte er den Inhalt des Glases mit einem Schwung hinunter. 

Der „Metzger“ fühlte sich beklommen. Das lag vor allem daran, dass er die Situation noch immer nicht einzuordnen wusste geschweige denn einschätzen konnte. Von den Partygästen her müsste er sich in seinem persönlichen Himmel befinden, irgendetwas störte ihn jedoch gehörig an dieser surrealen Szenerie. Während er die ausgelassene Feier mit den vielen fröhlichen Damen auf sich wirken ließ, beschlich ihn das Gefühl, dass er beobachtet wurde. So unangenehm wie die monotone ununterbrochene Berührung ein und derselben Körperstelle, fühlte es sich an, wenn man in regelmäßigen Abständen lauernde Blicke zugeworfen bekam. Musterte er dann die Frau, von welcherer glaubte, angeschaut worden zu sein, schweifte das betreffende Augenpaar sofort ab, als hätte es nur beiläufig über ihn hinweggeschwenkt. 

Mit einem Mal spürte Baumann Übelkeit in sich aufsteigen, in seinen Armen und Beinen begann es zu kribbeln und sein Kreislauf drohte abzusacken. Normalerweise vertrug er Bier recht gut, auch bei hohen Temperaturen. Diese geringe Menge an Alkohol konnte allerdings ohnehin nicht verantwortlich für seinen Zustand seinIch habe schon lange nichts mehr gegessen, vielleicht ist das der Grund, überlegte er und beschloss, sich ein paar Häppchen zu holen, sobald der Schwindel nachließ. Er griff sich mit voranschreitendem Unwohlsein auf den Brustkorb, in dem die Speiseröhre wie mit ätzender Flüssigkeit gefüllt zu brennen anfing, sah sich nach einem Fluchtweg zur Toilette um und stellte dabei fest, dass der Butler die Verschlechterung seines Zustands neugierig zu verfolgen schien.

Plötzlich verfinsterte sich der Salon, draußen setzte ein Unwetter ein. Man hörte die Regentropfen derart heftig gegen die Scheiben trommeln, als würden sie unbedingt eingelassen werden wollen. In der Ferne grollte der Donner derart heftig, dass die Erde zu beben schien. Und schon zuckte vor den Fenstern der erste Blitz grell vom Himmel.

Im selben Moment begann sich der Raum vor den Augen des „Metzgers“ zu drehen, immer schneller und schneller, bis sich sein Mageninhalt auf dem floralen Muster des Sofas befand. Er stöhnte laut auf und verkrampfte seinen Unterleib, als ein stechender Schmerz in seinem Bauch rumorte und die Gedärme zu verknoten schien. Langsam senkte er den Oberkörper nach hinten ab, bis er waagrecht auf dem Sitzmöbel lag. Feucht spürte er unmittelbar danach das bereits erkaltende Erbrochene durch den dünnen Stoff seines Hemds auf seinem Rücken kleben. Sein Sichtfeld verengte sich in Zeitlupentempo, währen immer mehr blonde Frauen an ihn herantraten und ihn begafften. Einige von ihnen lächelten erfreut, andere starrten mit weit aufgerissenen Augen, aber keine machte sich Sorgen, keine wollte ihm helfen und sich um ihn kümmern.

Diese Schlampen haben mich hereingelegt, dachte Baumann, seine letzten klaren Gedanken formulierend, wenn die jetzt die Bullen zu mir schicken, finden die das Püppchen im Bottich. Diese Birte Herold weiß ja offenbar, wo sich meine Praxis befindet. Verdammt, ich hätte die Überreste loswerden sollen, ehe ich hierhergefahren bin. 

„Was ist denn?“, hauchte die Gastgeberin der Party süffisant in sein Ohr. „Sag nicht, dir ist schlecht?“ 

„Wasch … hascht … du mir … insch Bier getan?“, lallte er und kämpfte gleich darauf gegen eine neue Welle der Übelkeit anMit zitternder Hand griff er sich an die schweißnasse Stirn. Die pulsierenden Kopfschmerzen hinter seinen Schläfen waren nicht von dieser Welt. 

„Sch … sch … sch …“, antwortete Birte Herold mit verklärten Gesichtszügen, setzte den Sonnenhut ab und zog sich mit einem Ruck die Haut vom Gesicht. Es kam eine verstümmelte, hässliche Fratze zum Vorschein, mit bis auf die Sehnen vernarbten Wangen, eingefallenen Augen und einemkraterähnliches Kinn. Baumann erschrak beinahe zu Tode und spürte gleich darauf eine feuchte Wärme, die sich in seinem Schritt ausbreitete. Erkennst du wenigstens, wenn schon nicht mich, dein ‚Kunstwerk‘ wieder?“, fragte die Frau, in deren Augen der Hass loderte. Es war der letzte Satz, dender „Metzger“ vernahm, ehe er endgültig das Bewusstsein verlor. 

Mit einem erschrockenen Keuchen erwachte er in einem Gewölbekeller, ohne Zeitgefühl, umgeben von Ziegelwänden, schwarzem Schimmel und einer feuchten DeckeEr lag auf einer Art Holzbrett, gefesselt und geknebelt. Der Wind heulte durch die geschlossenen Fenster und brachte deren Rahmen zum Klappern, durch die schmutzverschmierten Scheiben fiel fahles Mondlicht direkt auf seinen nackten Körper. Um ihn herum waren seine zahlreichen Identitäten gestapelt. 

Wo bin ich? Wo haben mich diese verrückten Weiber hingebracht? 

Noch während der erste Schock abebbte, begann er zu frieren. In dem Keller hatte es bestimmt nicht mehr als 15 Grad.

Baumann hob seinen pochenden Kopf, soweit er konnte, und drehte ihn in sämtliche Richtungen, um sich Orientierung zu verschaffen. Augenscheinlich befand sich außer ihm keine lebende Person im Raum. Als er an sich hinunterblicke bemerkte er, dass er an seinem rechten Handgelenk eine zusätzliche Fessel trug, die aussah wie ein StarkstromkabelEr ahnte, was ihm blühen sollte, ein hoch dosierter Stromschlag würde ausreichen, um sein Herz zu stoppen. Tränen füllten seine Augen, jedenfalls dachte er das. Tatsächlich aber drang die Flüssigkeit aus einem nassen Schwamm, der ihm auf die Stirn gelegt worden war.

Der Zahnarzt versuchte, sich an die Vorkommnisse in der Villa zu erinnern. Man hatte ihm Drogen verabreicht, um ihn wehrlos zu machen und einsperren zu können.

Aber um wen handelte es sich bei den vielen Frauen? Und habe ich das nur geträumt, oder hat sich diese Birte Herold tatsächlich die Haut abgezogen, um mir diese widerwärtige blutrote Masse aus Fleisch, Sehnen und den Andeutungen von Augen, Nase und Mund zu präsentieren, diese traurige Karikatur eines einst hübschen weiblichen Antlitzes? War es jedoch überhaupt möglich, ein menschliches Gesicht derart professionell zu tragen, ohne dass es auf den ersten Blick auffiel? Und wie konnte sie es so schnell abreißen? Ohne Befestigung müssten die Züge doch entgleisen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich selbst überlege schon seit langem, wie ich dieses Problem lösen könnte und muss mir meine Identitäten immer noch unprofessionell an den Kopf binden.

Es reckte ihn, wenn er an den Moment dachte, als aus der hübschen Blondine vor seinem bereits verschleierten Blick ein Monster geworden war. Mit hektischer Peristaltik schluckte er die hochsteigenden Verdauungssäfte in den Magen zurück.

Gleich darauf setzte der „Metzger“ seine Überlegungen fort. Wieso hatte Birte Herold ihn gefragt, ob er sie nicht erkannte? Nach einigen Minuten des Grübelns dämmerte ihm, dass sie ihn an jemanden erinnerte … nur an wen? Verschiedenste Annahmen versuchten sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen, doch jede einzelne davon blieb irgendwo in den Gehirnwindungen hängen, die vor Schmerz zu pulsieren schienen. Der Schwamm auf seiner Stirn schien plötzlich mehrere Kilos zu wiegen.

Da hörte Baumann das Quietschen einer Tür und die Gastgeberin der Party, die, wie er annahm, ihm zu „Ehren“ veranstaltet worden war, trat ein. Sie trug wieder das falsche Gesicht, falls er sich nicht doch alles nur eingebildet hatte. 

„Und? Ist dir schon eingefallen, wer ich bin?“

„Mach mich sofort los, oder …“, fauchte er der Frau entgegen, die er aufgrund der zahlreichen Wassertropfen in seinem Wimpernkranz nur verschwommen wahrnahm. Trotz der Panik, die sich Nervenzelle für Nervenzelle in ihm ausbreitete, versuchte er, seiner Stimme den Klang von maskuliner Bestimmtheit, gepaart mit Souveränität, einer Spur Gefährlichkeit und einem Hauch Arroganz zu verleihen. Er wusste, dass die Püppchen vor dieser Mischung den meisten Respekt hatten und Männern, die diese Eigenschaften ausstrahlten, nicht widerstehen konnten.

„Oder was?“, zischte sein Gegenüber, funkelte ihn bedrohlich an und zeigte sich kampfbereit. Er würde kein leichtes Spiel mit dieser Person haben, wurde ihm schlagartig klar.

„Komm …“, versuchte er es nun schmeichlerisch, „das hier führt doch zu nichts, und diese Tatsacheist dir als intelligentem Wesen auch klar. Entweder, du musst mich töten, was furchtbar riskant wäre, weil du erwischt werden könntest. Und ich glaube nicht, dass eine Lady wie du gerne viele Jahrzehnte lang im Gefängnis sitzen möchte. Oder du hältst mich hier eine Weile gefangen und dann … ja, was dann? Hm? Hast du dir das eigentlich schon überlegt? Also ist es wohl das Beste, du lässt mich gehen. Ich werde auch niemandem etwas verraten und das alles hier sofort vergessen. Ich steige draußen in mein Auto und fahre aus deinem Leben. Er blinzelte so lässig, wie es die Flüssigkeit in seinen Augen zuließ, zu ihr empor.

Es gibt zwischen umbringen und freilassen als Schwarz und Weiß noch sehr viele Grautöne“, lächelte Birte Herold feinsinnig. „Und vor allem liegen in diesem Bereich sehr viele Schmerzen! Wie fühlt sich übrigens der Schwamm auf deiner Glatze an, ist er auch schwer genug oder muss ich ihn schon bald wieder nass machen?“

Der „Metzger“ blickte sein Gegenüber verständnislos an, ehe ihm klar wurde, was sie mit dieser Andeutung meinte. Sie bezog sich auf eine Foltermethode, bei der die auf der Stirn befindliche Wassermenge immer mehr zu wiegen schien, bis man meinte, sie würde einem die Schädeldecke eindrücken.

Mit kleinen federnden Schritten ging die Frau in der Zwischenzeit zu einem Schrank in der Ecke des Kellerraums, öffnete dessen Türen und entnahm dem Inneren einen kleinen Metallkoffer. Den platzierte sie auf einem Tisch, den sie in seine Richtung schob, wobei die Beine des Möbelstücks mit einem fast unerträglich penetranten Geräusch über den Ziegelboden schabten. Gleich darauf sprangen die Öffnungen des Kästchens mit vernehmlichem Klacken auf und offenbarten Baumanns Seitenblick eine Auswahl an Geräteaufsätzen in verschiedensten Formen. Mit einem leise gesungenen Lied auf den Lippen tänzelte Birte Herold anschließend noch einmal zu dem Schrank und holte einen Akkubohrer hervor, den sie kurz darauf ebenfalls auf den Tisch legte, der direkt neben seinem Kopf stand

Was hat diese Verrückte vor, um Himmels willen? Der „Metzger“ begann unkontrolliert zu zittern, nicht nur, weil er entsetzlich fror, sondern auch aus Angst vor der Unberechenbarkeit dieser Frau, das zu allem entschlossen zu sein schien.

„So, dann schauen wir einmal, was wir mit diesen Dingern Feines anstellen können … Ich denke, zuerst werde ich dir mit einem dieser Schätzchen hier den Gehörgang säubern“, erläuterte ihm BirteHerold in fast monotonem Singsang ihre weitere Vorgehensweise. Sie wandte sich dem Metallkoffer zu, zog mit einer fast andächtigen Miene einen dünnen, spiralförmigen Aufsatz aus seiner Halterung und steckte ihn in die Maschine. „Damit du mich besser verstehst, sollte ich dir weitere Fragen stellen. Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir damals auch mit deinen Bohrern und Schleifern gedroht, falls ich nicht aufhöre, zu schreien!“

Gleich darauf klang ein unangenehmes hohes Sirren durch das Gewölbe, während sich der rotierende Bohrer seinem Schädel näherte. Baumanns Herz begann zu rasen, schmerzhaft hämmerte es von innen gegen seine Brust. Plötzlich drang eine leise Melodie sein Ohr, es schien sich um einen Handyton zu handeln. Die junge Frau nahm ihren Finger vom Einschaltknopf der Bohrmaschine und zog ein Smartphone aus ihrer Westentasche. Nachdem sie einen kurzen Blick auf das Display geworfen hatte, wischte sie mit dem Zeigefinger strahlend über die Oberfläche und stellte die Verbindung her

Baumann lauschte angespannt. Um wen es sich bei dem Anrufer handelte, konnte er dem Gespräch jedoch nicht entnehmen. Ab und an fiel sein Name, aber weitere Hinweise gab es nicht. Einewarallerdings relativ rasch klar: Die Person am anderen Ende der Leitung musste ihn kennen. Was um alles in der Welt passiert hier gerade? 

Birte Herold schien zunehmend ungeduldig zu werden. Schnippisch entgegnete sie „na und?“ oder „das ist mir völlig egal!“ Plötzlich schrie sie los: „Du hast damals fast mehr gelitten als ich! Komm sofort her und hilf mir!“ Kurz darauf breitete sich Erleichterung auf dem Gesicht der jungen Frau – sei es nun ihr wahres, oder doch ein falsches – aus. Anschließend legte sie auf, steckte das Handy in ihre Tasche zurück und wandte sich wieder ihrem „Gast“ zu. 

„Ich spüre das Messer noch immer auf meiner Haut …“, begann sie, hob die Hand und befühlte ihreKonturen. „Es ist, als wäre es gestern gewesen … Bei vollem Bewusstsein habe ich den Schmerz ertragen. Dabei war ich unglaublich tapfer, findest du nicht? Die Genugtuung, mich zu brechen, wollte ich dir nicht geben. Und so habe ich damals weder geweint noch geschrien und schon gar nicht um mein Leben gebettelt. Das konntest du mir nie verzeihen, stimmt’s? Du hast weiter gemacht, als hätte es mich nie gegeben und mich einfach vergessen. Aber ich sehe dich, und zwar jedes verfluchte Mal, wenn ich in den Spiegel blicke.“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst“, murmelte Baumann. „Du hast einen unschuldigen Mann vor dir und wirst es teuer bezahlen, mich gegen meinen Willen hier festgehalten und bedroht zu haben!“ 

Hör auf zu lügen“, zischte Birte Herold und beugte sich so weit zu ihm hinunter, dass er gezwungen war, sie aus der Nähe zu sehen. Er blinzelte die Wassertropfen beiseite und musterte ihr Gesicht, das ihm eigenartig leblos vorkam und immer wieder vor seinen Augen verschwamm. Trug sie eine Identität? Keine von seinen, da war sich der „Metzger“ sicher, die Züge seiner Püppchen kannte er in– und auswendig. 

„Inzwischen ist es beinahe irrelevant, was du sagst …“, beschloss sie dann seufzendnoch ehe Baumann überhaupt hätte antworten können. „Es war kein Zufall, dass du gestern Nacht im ‚Skinny Dipping‘ warst“, fuhr sie dann fort.

Der Name dieses Lokals sagt mir nichts … und selbst wenn, hätte ich mich durch meinen freien Willen dort aufgehalten. Auf billige Tricks falle ich bestimmt nicht herein.

„Das denkst du jedenfalls, so wie du von dir selbst eingenommen bist. Aber ich kenne deine Masche nur zu gut, immerhin bin auch ich dir auf den Leim gegangen …“, begann sie. „Mareike hat sich für uns geopfert …“, äußerte sich Birte Herold schließlich kryptisch und machte Baumann mit ihren Andeutungen immer nervöser. 

Mareike? Könnte so mein letztes Püppchen geheißen haben? Mit M fing ihr Namen auf alle Fälle an.

„Bitte lass mich einfach verhaften!“, flehte er im nächsten Moment und spürte, wie sich sein Herzschlag neuerlich beschleunigte. Er versuchte, nach der Hose seiner Peinigerin zu hangeln, kam jedoch mit seinen Fingerspitzen nicht einmal in die Nähe ihrer Beine. „Wir finden gemeinsam eine Lösung“, wimmerte er. Von seiner einstigen Überlegenheit war nichts mehr zu spüren. Der „Metzger“ war mittlerweile nur noch ein Schatten seiner selbst, ohnmächtig und klein, nichts war von seiner selbstsicheren Überlegenheit übrig geblieben. „Beende das hier, du musst dir nicht die Finger an mir schmutzig machen. Lass das Gericht urteilen und mich bestrafen“, flehte er eindringlich weiter, erntete von seinem Gegenüber allerdings nur einen verächtlichen Blick, dem ein müdes Kopfschütteln folgte.

„Nein …“, hauchte sie in seine immer noch intakten Ohren. „So leicht werden wir es dir nicht machen!“ Dann holte sie ein Taschentuch hervor und tupfte ihm fast zärtlich das Wasser aus den Augen, ehe sie sich erneut das Gesicht abzog und es ihm dieses Mal zur genaueren Inspektion entgegenhielt. Es handelte sich um keine menschliche Haut, stellte Baumann fest, sondern um eine Art Gummimaske. Das hatte er in der Villa aufgrund seines benebelten Zustands nicht mehr erkennenkönnen. Die hier muss ich tragen, seit du mich abgepasst, entführt und beinahe umgebracht hast. Falls du dich als Fan lebensechten ‚Materials‘ …, sie zeichnete Gänsefüßchen in die Luft, „… fragst, was das sein soll … bitte, ich erklär es dir. Es handelt sich um medizinisches Silikon, aus dem meine Züge nachgebildet wurden. Ich musste mir Magneten unter meine … Gesichtsreste … implantieren lassen, damit dieses Ding, in dem sich die Gegenpole befinden, an mir hält. Spaßig, nicht wahr?“ Birte Herold stieß ein sarkastisches Lachen aus und schwenkte die Maske vor seinen Augen hin und her.Danach legte sie diese wieder auf, rückte sie zurecht und zog einige Grimassen, vermutlich um sicherzugehen, dass ihr falsches Antlitz passgenau saß. Im Anschluss nahm sie erneut die Bohrmaschine zur Hand, lächelte dem „Metzger“ zu und setzte den dünnen Aufsatz am Knorpel in seiner Ohrmuschel an. Dann drückte sie auf den Einschaltknopf. Zuerst vernahm er nur ein lautes Knacksen neben dem hohen Sirren, danach nur noch seine eigenen Schreie. Als der den Kopf drehte, um dem wahnsinnigen Schmerz zu entrinnen, sah er ein Meer aus roten Tropfen seitlich von ihm wegspritzen. Er roch seinen eigenen Angstschweiß und erbrach sich würgend, wobei ein bitterer Geschmack seinen Mundraum ausfüllte. Er spürte eine warme Flüssigkeit über seine Schulter rinnenund fragte sich einen winzigen Moment lang, ob es sich dabei um Gallensaft oder Blut handelte. Sein Blick fiel auf einen Stoß seiner Identitäten; eine davon war halb vom Stapel gerutscht und schien ihn höhnisch anzugrinsen.

Birte Herold stand, unbeeindruckt von seinen Befindlichkeiten, in gebeugter Haltung an seiner Seite und bediente das Gerät mit einer Heiterkeit auf den künstlichen Zügen, als wäre sie eine leidenschaftliche Heimwerkerin und bohrte für ihr Leben gerne Löcher in Oberflächen. Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Silikonlippen, während sie den rotierenden Spiralstab ganz langsam immer tiefer in seinem Ohr versenkte. In dem Moment, als Baumann das Gefühl hatte, sie würde gleich die Naseninnenhöhle erreichen, versagte sein Kreislauf und er fiel in eine gnädige Ohnmacht. 

Grinsend ließ die Frau von ihrem Opfer ab und schritt danach wehmütig durch das „Museum des Todes“. Jedenfalls fand sie, dass dies genau die richtige Bezeichnung für die Überreste der unzähligen Frauen war, die der „Metzger“ geschlachtet hatte. Ihr stiegen Tränen in die Augen, als sie an Mareike dachte, die sie nicht mehr rechtzeitig hatten retten können. Das einzige, was sie jetzt noch für ihre Freundin tun würde, war, sie nach dem Fund ihrer Leiche würdig zu bestatten

Ich werde mich jetzt erst einmal um das kranke Arschloch hier kümmern. Irgendwann wird er mir verraten, wo du bist. Dieses Mal werden wir dich nicht im Stich lassen! Birte Herold warf einen Blick zur geziegelten Decke des Raums, als würde sie telepathisch mit dem Geist ihrer Freundinkommunizieren. Wir helfen alle zusammen, um dich zu rächen. Du hättest uns sehen sollen, als wir ihn in die Falle gelockt haben. Der gesamte Cheerleaderinnen-Club hat mitgemacht, die Dunkelhaarigen mit blonden Perücken, weil sich das keine entgehen lassen wollte. Sein blödes Gesicht, als er uns erblickt hat, war wirklich zum Schießen. 

Birte Herold stiegen Tränen in die Augen. Sie hatte gemeinsam mit Mareike, die perfekt in Baumanns Beuteschema passte, den tödlichen Plan entworfen, sie dachten, er wäre unfehlbarWir mussten nur noch abwarten, bis er in sein Stammlokal „Skinny Dipping“ ging und dich als perfekten Köder auf ihn ansetzen. Dass es noch nicht aufgefallen ist, dass er von dort aus schon etlichen Mädchen gefolgt ist und diese in seine Gewalt gebracht hat … Eigentlich müsste die Polizei längst geschnallt haben, dass sich die meisten der vermissten Frauen vor ihrem Verschwinden in dieser Bar aufhielten. Aber die hatten nicht einmal konkrete Anhaltspunkte für ein Verbrechen, da die Leichen nie auftauchten. Fest stand nur, dass jedes Jahr zur selben Zeit eine blonde Frau spurlos aus der Stadt verschwand. Birte Herold fuhr sich seufzend mit den gespreizten Fingern über ihr künstliches Gesicht, sorgsam darauf bedacht, es mit dieser Geste des Bedauerns nicht unbeabsichtigt zu verschieben.

So kann man sich auf den Freund und Helfer also verlassen … Besser, man nimmt die Gerechtigkeitselbst in die Hand. Wir müssen nur alles genau durchdenken, ich habe keine Lust, im Gefängnis zu versauern. Wobei wir Mädels uns ja ausgemacht haben, sollte man uns auf die Schliche kommen, dass wir uns alle zusammen des Mordes aus Rache schuldig bekennen. Beweise gegen Baumann gibt es genug. Mal sehen, ob sie dann wirklich 28 Damen einsperren und was die Presse dazu sagt.

Birte Herolds Gedanken wanderten wieder zurück zum Vortag. Der „Metzger“ hatte gar keine andere Wahl gehabt, als auf die blonde Schönheit anzuspringen, ihr ins „Skinny Dipping“ zu folgen und sie mit einem Vorwand zu sich in die Praxis zu locken. Nur mit deiner Schnelligkeit war nicht zu rechnen gewesen, dachte die junge Frau tieftraurig. Mareike hätte dir lediglich bei der erstbesten Gelegenheit das Handy unterjubeln und danach sofort fliehen sollen, damit du deine Fotos und meinen Namen auf dem Gerät findest und wir dich dann ihn in die Falle locken und für deine Taten bestrafen können. Hätte ich den Köder gespielt, hättest du mich vielleicht doch als eines deiner ehemaligen Opfer erkannt und gewusst, dass etwas faul ist

Die junge Frau fühlte den tiefen Stich der Schuld in ihrer Brust. Sie hätte es ahnen müssen! Selbstverständlich war ein Monster gestoppt worden, aber zu welchem Preis? Gerade sie wusste doch, wie leicht es dem „Metzger“ fiel, die von ihm auserwählten Frauen zu kontrollieren, zu überwältigen und schließlich zu töten. Sie selbst wäre damals auch fast draufgegangen und hätte vermutlich nie zulassen dürfen, dass Mareike sich auf dieses Vorhaben einließ – obwohl sie es unbedingt wollte, voller Zuversicht und Vertrauen in das Gelingen ihres Plans.

Mit Schaudern erinnerte sich Birte Herold an jenen regnerischen Juliabend, an dem ihr ihre Leichtgläubigkeit und ein selbstsicherer Übermut fast zum Verhängnis geworden wären. Ironischerweise rettete mir ausgerechnet ein Handy das Leben, während ein anderes Mareike den Todbrachte. Der elende Dreckskerl hat sich damals durch das Klingeln des Telefons ablenken lassen, als er gerade mein Gesicht fertig gehäutet hatte und mich anschließend vermutlich töten wollteAn dem Tag befand er sich ganz sicher nicht auf dem Höhepunkt seiner mörderischen Karriere, war leicht aus der Ruhe zu bringen und fahrlässig im Fixieren seines „Spenders“. Nur aus diesem Grund ist es mir gelungen, mich von den Fesseln zu befreienWütend über die Störung durch den Anruf verließ er den Raum, um das Telefon zu entsorgen, und besaß die Arroganz, zu glauben, er hätte die Situation ohnehin im Griff. 

Birte Herold hatte es in jener Nacht als einzige von Baumanns Opfern geschafft, sich zu befreien und aus der Praxis zu fliehen. Auf der Straße war sie triefend vor Blut und ohne Gesichtzusammengebrochen, kurz darauf gefunden und sofort ins Krankenhaus gebracht worden. 

Ich habe ausgesehen, als wäre ich mit dem Kopf in den Fleischwolf geraten. Aber Rache schmeckt kalt am besten, und unsere Zeit ist jetzt gekommen. Erneut blickte sie zur gewölbten Decke empor, als spräche sie im Gedanken mit Mareike. Oder vielleicht auch mit allen Frauen, die der „Metzger“ ermordet hatte, um ihre Identität zu stehlen. 

Ein leises Ächzen riss die junge Frau aus ihren Überlegungen, Baumann war wieder aufgewacht. Sie trat an das Brett, auf dem der Mann lag, heran und blickte voller Abscheu zu ihm hinunter. Ihr wurde eisig kalt, zugleich erfüllte sie eine innere Ruhe, wie sie es das allererste Mal seit dem Angriff auf sie verspürte. Sie wusste, das Ende des Albtraums war gekommen.

Da ging die Tür auf und ein etwa 30-jähriger Mann trat ein. Er ging mit sorgenvollem Blick auf Birte Herold zu, nahm sie in den Arm und flüsterte: „Alles in Ordnung, Liebling?“

Bei Jonas handelte es sich um die einzige männliche Unterstützung im Team, er agierte im Hintergrund und passte die ganze Zeit über auf, dass den Mädchen nichts passierte. Er machte sich große Vorwürfe, dass Mareike ihr Leben lassen musste, weil auch er die Schnelligkeit und Professionalität des „Metzgers“ unterschätzt hatte. Ansonsten wusste außer ihm und den Mädels aus dem Cheerleaderinnen-Club nur noch der Butler Bescheid, und der hatte sich zwar nicht selbst die Finger schmutzig machen wollen, aber gegen die Eliminierung des Mörders während seiner Anwesenheit ansonsten nichts einzuwenden gehabt.

„Ja, Schatz, alles okay“, antwortete Birte Herold und schmiegte sich in Jonas Arme. Sie dachte, wie glücklich sie sein konnte, dass er sie nicht verlassen hatte, obwohl sie letztes Jahr monatelang aussah wie Freddy Krüger aus „Nightmare on Elm Street“.  Im Gegenteil, er war am Kummer, seine Freundin so leiden zu sehen, fast zugrunde gegangen. Seit einer Therapie und der dort gemeinsam bewältigten Trauer standen sich die beiden nun näher denn je, nichts würde sie jemals trennen können

Der junge Mann lächelte zärtlich, doch als sein Blick auf den langsam wieder zu sich kommenden Mädchenmörder fiel, wurde seine Miene sofort wieder ernst. Er verzog angewidert das Gesicht, als ihm das Geruchsgemisch aus Angstschweiß, Erbrochenem und Blut in die Nase stieg.

„Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte er vorsichtig. Jonas wusste, dass seine Freundin den „Metzger“ so lange wie möglich Höllenqualen bereiten wollte, um sich für die Schmerzen zu rächen, die er ihr zugefügt hatte. Doch das Leid, dem sie beide ausgesetzt waren, würde dadurch nicht verschwinden, lautete seine Meinung. Er plädierte nach wie vor dafür, den Mann mit seiner Opferrollezu demütigen und ihm danach mittels Starkstromschock den Garaus zu machen. Für diese Prozedur hatte er den Mädchen den alten, nicht mehr in Verwendung befindlichen Weinkeller seiner Familie in einer der einsamsten Gegenden im Umkreis zur Verfügung gestellt. An diesem entlegenen Ort kümmerte es niemanden, was hinter verlassenen Mauern vor sich ging. Jonas verspürte nicht das Bedürfnis, das Scheusal lange zu martern, er plante es einfach nur dauerhaft aus der Welt schaffen. Er wollte sich und Birte den langwierigen Weg über die Justiz ersparen, der aufgrund der Aussagen im Prozess die alten Wunden mit Sicherheit wieder monatelang oder vielleicht sogar über viele Jahre hinweg aufriss. Aus genau diesem Grund hatte seine Freundin den „Metzger“ nach dem Angriff nicht angezeigt – zuerst war es ihm schwergefallen, ihren Entschluss zu akzeptieren, aber mittlerweile verstand er, warum sie so handelte. Sie verlangte persönlich nach Genugtuung, und die wollte er ihr verschaffen. Gott sei Dank hatte ihr Baumann erzählt, dass er sich nur an jedem seiner Geburtstageeine neue Identität verschaffte, um sich einmal im Jahr wie neu geboren zu fühlenSo wussten die beiden, sie hätten ein Jahr Zeit, ohne während der Vorbereitungen auf den Rachefeldzug weitere Opfer zu riskieren. Und endlich war es so weit gewesen, ihm höchstpersönlich das Handwerk zu legen, bevor er sich eine weitere Frau holte. Deshalb ist Mareike gestern im „Skinny Dipping“ gewesen … und zu seinem letzten Püppchen geworden. Jonas presste seine Fäuste gegen die geschlossenen Augenlider. Er würde lange Zeit brauchen, um über sein persönliches Versagen als Beschützer hinwegzukommen.

„Ich werde ihn noch ein wenig ‚behandeln‘, unseren Zahnarzt mit Identitätsproblemen“, erklärte Birte Herold in seine Gedanken hinein und wandte sich Baumann zu, in dessen Miene mittlerweile das nackte Grauen stand. 

Weint der Scheißtyp endlich, oder sind das immer noch die Wassertropfen aus dem Schwamm? Sie grinste zufrieden, nahm wieder den Bohrer zur Hand und schaute zu ihrem Freund, der zuerst leicht den Kopf schüttelte, ehe er mit den Schultern zuckte.  Soll sie ihren Spaß haben, dachte er.

In dem Moment ertönten in der Ferne Polizeisirenen. Die waren in dem Kaff, in dem sie sich befanden, eigentlich kaum zu hören, weil so gut wie nie etwas passierte, das einen Einsatz der Exekutive nötig machte. Auch Birte Herold lauschte angespannt und vergaß für einen Moment ihre Rachegelüste, die seit Jahren heiß in ihr loderten. Erschrocken wandte sie sich dem jungen Mann an ihrer Seite zu, als das Martinshorn lauter und lauter wurde. 

Jonas flüsterte verschwörerisch ein bestimmendes „du bleibst hier“ und verließ mit Riesenschritten den Raum. Im Freien angekommen, positionierte er sich wie ein Wächter vor dem Eingang, um bereit zu sein, wenn die Polizei kam, um seine Freundin zu verhaften und den „Metzger“ aus seiner Zwangslage zu befreien. Er würde, müsste es sein, bis zum Äußersten gehen, hoffte aber, dass dies nicht nötig wäre.

In der Ferne sah er Blaulichter die Abenddämmerung durchbrechen, einige Fahrzeuge näherten sich in rasender Geschwindigkeit und hinterließen dicke Staubwolken, die sich von der sandigen Fahrbahn aus aufplusterten und in die Höhe schraubten.

Im Inneren des Gewölbekellers bekam Baumann in der Zwischenzeit wieder Oberhand, da er mit dem noch intakten Ohr die Sirenen ebenfalls vernommen hatte. 

„Jetzt wird es brenzlig für dich, Püppchen“, raunte er seinem Gegenüber zu, das seinem Freund ängstlich nachgeschaut hatte und jetzt angestrengt nach draußen lauschte. „Schade, dass es in diesem Land keine gemischten Gefängnisse gibt, es wäre mir eine Ehre gewesen, als dein Zellennachbar Wand an Wand mit dir alt zu werden. Und vielleicht, ja vielleicht hätte sich irgendwann die Gelegenheit ergeben, dir auch dein zweites Gesicht zu nehmen und direkt in die hässliche Fratze zu schauen.“

„Halt dein Maul, du Arschloch!“, krächzte die junge Frau, die ihre Tränen fast nicht mehr zurückhalten konnte. Doch sie wollte sich die Blöße, vor ihrem Peiniger zu weinen, um keinen Preis der Welt geben. „Und nenn mich nie wieder Püppchen“, wisperte sie, „sonst steche ich dir mit dem Bohrer die Augen aus.“ 

Wenn er jetzt schreit, sind wir erledigt! 

In der Zwischenzeit blickte Jonas den Polizeiautos entgegen und wappnete sich für die drohende Auseinandersetzung. Im Gedanken ging er bereits durch, was er auf mögliche Fragen oder Anschuldigungen der Beamten antworten würde. Wovon sprechen, Sie Herr Inspektor? Wo Sie Birte Herold finden? Ist sie nicht auf ihrer Party, die sie heute gibtNein? Dann hab ich leider keine Ahnung. Wer? Baumann? Kenne ich nicht! Was ist passiert? Und Sie unterstellen uns …

Das Martinshorn verstummte, die Autos blieben hintereinander in etwa zehn Meter Entfernung von ihm stehen, die Motoren erstarben. Für einen kurzen Augenblick blieb es nahezu mucksmäuschenstill. Nur das Summen der Bienen, welche die Weinranken an der Außenseite des Gewölbekellers umschwärmten, störte die Ruhe vor dem Sturm. Dann öffneten sich die Türen der Autos und einige Beamten stiegen aus. 

Jonas wusste, dass die Exekutive nicht in das Gebäude hinter ihm eindringen konnte, ohne einen Durchsuchungsbefehl in der Hand zu halten, wenn keine Gefahr in Verzug war. 

„Herr Förster?“, fragte ihn einer der Männer in Uniform. Er nickte. „Dürfte ich mich nach dem Verbleib Ihrer Lebensgefährtin Birte Herold erkundigen? Ist Sie bei Ihnen?“

Sie dürfen! Eigentlich gibt sie heute für ihre Mädels aus dem Cheerleader-Club ein Fest in der Villa ihrer Eltern, und ich dachte eigentlich, sie feiert noch. Ist sie dort nicht?“

„Nein, zu Hause haben wir sie nicht angetroffen. Wir würden sie dringend suchen … also wenn Sie wissen, wo sie ist, müssen Sie uns das sagen!“

„Keine Ahnung, wirklich nicht. Was ist denn passiert?“

Der Beamte blickte sich zu seinem Kollegen um, der fast unmerklich nickte, dann fuhr er fort: „Wir haben einen anonymen Hinweis aus der Villa der Herolds erhalten, dass dort wohl ein gewisser Herr Dr. Baumann eingeladen gewesen wäre, den die Damen betäubt und anschließend aus dem Haus geschafft hätten. Wissen Sie etwas darüber?“
„Ganz sicher nicht, meine Freundin hat nur Frauen zu der Party eingeladen!“, entgegnete Jonas resolut. „Und wer hat bei der Polizei angerufen?“

„Das darf ich Ihnen nicht sagen. Es war ein Herr, der dachte, er würde Geld für den Tipp erhalten.“

Der Scheiß-Butler, der mochte Birte ohnehin noch nie und hat offenbar nur darauf gewartet, um ihr in den Rücken fallen zu können. Und das nur, weil sie ihn vor Jahren hatte abblitzen lassen, als er dachte, er könnte sich die reiche Tochter des Hauses angeln und damit seinen Status verbessern.

„Ich frage Sie ein letztes Mal: Wissen Sie, wo sich Birte Herold aufhält?“

„Ich antworte ein letztes Mal: Nein, ich dachte, sie würde daheim feiern! Wie kommen Sie überhaupt hierher? Woher wussten Sie, wo Sie mich finden?“

„Derselbe Mann aus der Villa“, entgegnete der Beamte knapp. „Er mutmaßte auch, dass sich das Opfer hier im alten Weinkeller Ihrer Eltern aufhalten könnte und wir uns beeilen sollten, um ihn noch lebend vorzufinden. Dürfen wir nachsehen?“

„Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl? Wenn nicht, müsste ich Sie ersuchen, das Eigentum meiner Familie und unsere Privatsphäre zu respektieren. Ich mache da unten heute nur endlich wieder einmal sauber.“

Der Polizist nickte, dann stiegen die Männer wieder in ihre Fahrzeuge, die gleich darauf, eingehüllt in Staubwolken, davonfuhren

Jonas seufzte tief und erleichtert auf, dann kehrte er zu seiner Freundin zurück. 

Birte Herold starrte ihm mit weit aufgerissenen Augen ängstlich entgegen, doch er konnte sie beruhigen. Als sie vom Verrat des Butlers erfuhr, sagte sie: „Er ist der nächste!“ Anschließend wandte sich die junge Frau wieder ihrem Opfer zu. 

„Das wäre jetzt deine Chance gewesen … warum hast du nicht auf dich aufmerksam gemacht?“ Der „Metzger“ schloss die Augen und lächelte. 

Die Kleine soll nicht erfahren, dass sie mir einen Gefallen damit tut, wenn sie mich umbringt … damit sie vielleicht wenigstens ein bisschen das schlechte Gewissen plagt – vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann sicher. 

Als brutaler Mädchenmörder mit perversen Neigungen verhaftet zu werden, wenn man zuvor als Zahnarzt einen ausgezeichneten Ruf genoss, würde ich nicht ertragen – ebenso wenig, wie den Rest meines Lebens hinter Gitter eingesperrt zu sein. Hoffentlich lässt sie mich zumindest nicht leiden … Ich gebe mich geschlagen, werde mich meiner Ermordung nicht mehr widersetzen und dem Tod mutig ins faulige Antlitz blicken. 

„Wir müssen uns ein wenig beeilen, dafür hast du doch Verständnis, nicht?“, fragte Birte Herold und fuhr im selben Atemzug fort: Es sollte dich freuen, ich hab keine Zeit mehr zum Foltern, da die Bullen möglicherweise zurückkommenAber: Wir können dich trotzdem schnell oder langsam töten. Es wird Strom im Spiel sein, soviel sei verraten. Wenn du mir jetzt sagst, dass es dir leid tut, was du mir und anderen Frauen angetan hast, und mir verrätst, wo wir Mareikes Leiche finden, dann musst du nicht lange leiden.“

Während auch Jonas auf eine Antwort wartete, dachte er daran zurück, wie er sich einige Monate nach dem Angriff auf seine Freundin als Patient bei Baumann eingeschlichen und den Zahnarzt nach dem Abschluss eines Bleachings „voller Stolz auf sein schneeweißes Gebiss“ um ein paar Selfies ersuchthatte – mit Erfolg. Noch in derselben Nacht war er in die Praxis eingebrochen, um die Identitäten zu fotografieren – allerdings ohne Spuren zu hinterlassen, denn das konnte er dank eines Kumpels, der als Einbrecher Karriere machte. Dass er wusste, wo sich Menschenanzüge befanden, lag an der Eitelkeit des „Metzgers“: Er hatte sie aus dem Schrank geholt und seiner Freundin stolz gezeigt, ehe er dazu übergegangen war, sie zu häuten. 

Für mich als Webdesigner ist es natürlich ein Kinderspiel, sein Gesicht aus dem einen Bild zu isolieren und in das andere zu importieren. Und er ist auf den Trick hereingefallen!

„Also?“, fragte Birte Herold nach, „hast du dich entschieden?“

Baumann konnte zu jenem Zeitpunkt ohnehin kaum mehr einen klaren Gedanken fassen, da der Schwamm auf seiner Stirn seinen Schädel einzudrücken schien. Seine letzten Kraftreserven sammelnd, flüsterte er mit verebbender Stimme: „Es … tut mir leid. Praxis … gegenüber in der Wohnung im Fass … ich … bitte …“

Die junge Frau lächelte milde, nickte Jonas zu, der sich in eine Ecke des Raums begab, um dort einen Schalter zu betätigen. Gleich darauf schossen 25.000 Volt durch die Nervenbahnen des „Metzgers“, der sich mit hervorquellenden Augäpfeln zuckend aufbäumte, eher sein lebloser Körper in sich zusammensackte und schwer zurück auf das Brett knallte. Der Mörder war tot, und in dem Raum roch es nach verbranntem Fleisch.

Die junge Frau strahlte ihren Freund an, der die Starkstromleitung extra für dieses Vorhaben in den Keller hatte legen lassen, und wisperte gleich darauf: „Danke! Für alles!“

Dann sammelten sie die Gesichter all jener Frauen ein, die der nach außen hin ehrenwerte Zahnarzt Dr. Baumann seinen Opfern gestohlen hatte. Die Hautanzüge waren in der Praxis verblieben, sollte die Polizei diese ruhig finden, wenn sie noch heute einen anonymen Anruf erhielten mit dem Hinweis auf den Verbleib von Mareike. Die Identitäten sollten als Beweise für Baumanns Schuld an einem sicheren Ort verwahren werden … auch für den Fall, dass Birtes und Jonas‘ Tat doch noch ans Tageslicht kam.

Gemeinsam schafften die beiden anschließend die Leiche aus dem Keller, luden sie in ihr Auto und fuhren zum nahen See. Dort beschwerten sie den nackten Körper des „Metzgers“ mit mehreren Steinen und warfen ihn ins nachtschwarze Wasser, das ihn glucksend verschlang und bis zum Grund in rund zehn Metern Tiefe hinunterschluckte. Wenn alles gut ging, fraßen ihn die Fische, denn in diesem See tummelte sich eine große Anzahl riesiger Hechte, für die sein fetter Wamst einen Festschmaus abgeben würde. 

Zwei Tage später stand in der Zeitung: Gestern wurde nach einem anonymen Hinweis die Leiche der vermissten Mareike S. in einer Innenstadt-Wohnung gefunden, die vom hiesigen Zahnarzt Dr. Baumann angemietet worden war und die sich neben seiner Praxis befand. Der Körper der jungen Frau wies bereits starke Spuren der Zersetzung auf, da offenbar der Mediziner selbst das Mädchen in ein Fass voller Säure gesteckt hatte. Ebenso entdeckte die Polizei Häute von mindestens 20 weiteren weiblichen Opfern in einem Schrank des Akademikers, von dem bisher jede Spur fehlt. 

 

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