LinayayWie viele Identitäten hast du?

 

»Hey, Entschuldigung «

 

Sie war in Träumen versunken, als sie von der bekannten männlichen Stimme in die Realität zurückgeholt wurde. Mona gehörte zu den Menschen, die morgens jeglichen Kommunikationen aus dem Weg gingen und deshalb setzte sie ein aufgespieltes Lächeln auf, das sie tatsächlich schon vor dem Spiegel geübt hatte und setzte den linken Kopfhörer ab.

 

»Sie sehen heute wieder sehr schick aus, Mona. «

 

»Mein Lieber, wie oft muss ich dir denn sagen, dass du mich duzen kannst? Wir arbeiten schon so lange zusammen. «

 

Raphael arbeitete schon ein ganzes Jahr an der Rezeption des Therapiezentrums, in dem sie neben ihres Germanistikstudiums auf Minijob-Basis arbeitete. Häufig begegneten sie sich im Aufzug, wenn beide morgens viel zu früh zur Arbeit gingen und er schien ganz nett zu sein, aber auch sehr schüchtern, weswegen sie ihn nicht genau beurteilen konnte.

 

»Schön, dass du wieder gesund bist und wieder zur Arbeit kommst. Heute hast du sehr viele Patienten. Gestern ist auch ein Brief für dich gekommen. Ich habe ihn auf den Tresen im Aufenthaltsraum gelegt. «

 

Mona bedankte sich und beide stiegen aus, als sie die fünfte Etage erreichten. Meistens ist der Aufzug so voll, dass man gezwungen ist die Treppen zu nehmen, doch morgens um sieben Uhr hatte man das Vergnügen den Aufzug nutzen zu können.

 

                Raphael nahm sofort Platz an der Rezeption und Mona ging in den Aufenthaltsraum, um sich einen Schwarztee zu kochen und Kraft zu tanken. Außerdem musste sie ja noch den Brief lesen, welcher ihr aufgrund des ungewöhnlichen Umschlages direkt in die Augen fiel. Der rote Umschlag könnte vielerlei Bedeutungen haben. Wahrscheinlich bedankte sich einer ihrer Patienten wieder für die schnelle Genesung dank der guten Physiotherapie. Das liebte Mona an ihrem Job: die meisten Patienten waren sehr dankbar und beschenkten sie. Es gab natürlich auch Ausnahmen. Vor Allem Männer interpretierten die Nähe, die sie zu den ihnen während der Massage hatte, falsch. Sie nahm den Umschlag in die Hand und stellte ihren Tee ab, den sie sich noch eben gekocht hatte.

 

                Mona wurde schlecht.

 

Das kann doch nicht wahr sein.

 

Mona schaute ein zweites und ein drittes Mal auf den Inhalt des ungewöhnlichen Umschlages.

 

Das ist doch ein schlechter Witz. Wie kann so etwas sein?

 

Sie zitterte, schwitzte und vergaß wieder zu atmen. Schon in ihrer Kindheit hielt sie den Atem an, wenn sie Angst hatte und sie hatte nicht selten Angst. Ihr Vater schaffte es regelmäßig mit seinem Verhalten für Terror zu sorgen und mehrmals ist sie deswegen schon ohnmächtig geworden. Jetzt schien wieder einer dieser Momente zu sein, in denen sie die Macht über ihren Körper verlor. Ihr wurde schwarz vor den Augen und sie setzte sich auf den Boden.

 

»Scheiße«

 

                In dem Moment wurde die Tür geöffnet und der Chef stand nun vor ihrer Nase und bückte sich.

 

»Mona? Mona, geht es dir gut?«

 

Mona packte den Brief unauffällig in die Tasche, doch der Chef schien den Brief registriert zu haben.

 

»Geht es dir gut, Mona? Ist dir schwindelig? Du scheinst noch immer nicht gesund zu sein. Warum bist du denn heute zur Arbeit gekommen? «

 

Jetzt rief der Chef Raphael zu, dass er doch bitte ein Glas Wasser bringen soll und Raphael tauchte in Windeseile auf.

 

Mona rappelte sich auf.

 

»Mir ist nur schwindelig geworden. Jetzt geht es mir besser. Ich setze mich noch kurz hin und beruhige mich bis mein erster Patient kommt.«

 

Der Chef und Raphael verließen den Aufenthaltsraum und Mona hörte wie die ersten Patienten eintraten. Sie schaute sich das Bild in ihrer Tasche noch einmal an und drehte das Bild noch einmal um, um die Notiz auf der Rückseite des Bildes lesen zu können. Sie hatte sich nicht vertan. Sie konnte sich das Bild und die Notiz anschauen so oft sie wollte und es würde sich rein gar nichts ändern. Sie verließ den Aufenthaltsraum, um ihren ersten Patienten, den sie übrigens bemitleidete, weil sie das Gefühl hatte, dass er psychisch nicht mehr zu retten ist, zu empfangen.

 

»Guten Tag, Herr Lemcke. Gehen Sie doch bitte in den fünften Behandlungsraum und bereiten sich auf die Sitzung vor. Heute werden wir die Heißlufttherapie überspringen, weil ich Ihnen das Ganze bei knapp dreißig Grad ersparen möchte. «

 

Mona ging noch zur Rezeption, um Raphael zu fragen, ob er die letzten zwei Termine noch absagen könnte. Mona musste nach Hause. Weg von diesem Ort. So schnell wie möglich. Im Behandlungsraum angekommen, schaute sich Mona um. Aus welcher Perspektive konnten die Bilder geschossen worden sein, die zeigten wie sie David- ihrem Lieblingspatienten- viel zu nahekam?

 

»Wie stehen Sie dazu?«

 

Diese Frage riss Mona aus ihren Gedanken und sie wusste nicht worum es ging.

 

»Erzählen Sie mir doch viel lieber wie Sie dazu stehen, Herr Lemcke. «

 

Fehler. Es war ein großer Fehler. Ich hätte mich nicht verführen lassen sollen. Und erst recht nicht auf der Arbeit; von einem verheirateten Patienten. Fuck. Fuck. Fuck. Die Kamera müsste doch genau dort gelegen haben, wo die Handtücher liegen. Warum? Wie konnte mir das passieren? Es war dumm. Sehr, sehr dumm.

 

»Sie drücken zu fest, Mona. Sie sind auch sehr verträumt. Geht es Ihnen gut? «

 

»Alles bestens. Ich bin gedanklich noch bei meiner Schwester. Sie schreibt gerade ihre Abiturprüfung. Verzeihen Sie mir. Reden Sie ruhig weiter. Ich höre Ihnen zu. «

 

Angenommen dort hätte jemand wirklich eine Kamera platziert. Wer platziert denn dort eine Kamera? Das Techtelmechtel war alles andere als geplant. Außerdem war außer ihr und David niemand in dem Therapiezentrum, was dann bedeutet, dass David die Kamera dort platziert haben müsste, aber warum um Himmelswillen sollte er sich selbst ins Bein schießen? Er ist verheiratet und hat ein Kind.

 

»So Herr Lemcke, Sie haben es überstanden. Sie können sich jetzt wieder anziehen. «

 

Mit diesen Worten verließ Mona das Behandlungszimmer und betrat erneut den Aufenthaltsraum, um sich die Worte hinter den Bildern erneut anzuschauen. Es ergab einfach keinen Sinn.

 

Wer bist du und wer möchtest du sein? Beantworte diese Fragen zum richtigen Zeitpunkt und folge meinen Anweisungen. Wenn du keine Fehler machst, verschone ich dich.

 

Wer könnte denn so ein Psychospiel spielen? Mona ging an die Rezeption, um herauszufinden welchen Patienten sie als nächstes behandeln musste, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach Raphael.

 

»Ich habe all deine Termine abgesagt und du kannst jetzt nach Hause gehen. Wenn dich etwas bedrückt, dann kannst du es mich gerne wissen lassen. Ist der Brief der Grund deiner Abwesenheit?«

 

Mona verneinte die Frage und verließ das Therapiezentrum. Diesmal wartete sie nicht auf den Aufzug. Sie wollte alleine sein. Ganz alleine. Sie musste ihre Gedanken sinnvoll sortieren und über ihre nächsten Schritte nachdenken.

 

Wie um Gottes Willen soll ich in Kontakt mit dem Psycho treten? Wie soll ich ihm diese sinnfreien Fragen beantworten? Welchen Zusammenhang sollen diese Bilder mit den Fragen haben?

 

                Zu Hause angekommen, warf sich Mona auf die Couch und wartete auf ihre Schwester, mit der sie dringend sprechen musste, denn wenn sie alles noch weiterhin für sich behielt, würde sie durchdrehen. Wenn ihr kleiner Fehler ans Tageslicht käme, würde sie große-sogar sehr große- Probleme bekommen. Das Studium und die Wohnung bezahlten sich nicht von selbst und irgendwie musste sie ja noch den Magen ihrer Schwester füllen. Zudem konnte sie die hohe Summe, die sie aufgrund eines Vertragsverstoßes zahlen müsste, sowieso nicht zahlen.

 

»Mona, bist du zu Hause?«

 

Monica ging ins Wohnzimmer und sah ihre Schwester in einem ungewöhnlichen Zustand. Selten sah sie ihre starke Schwester so kränklich und gedankenversunken. Sie setzte sich zu ihr auf die Couch und umarmte sie.

 

»Alles okay?« flüsterte sie ihr ins Ohr.

 

»Ich habe einen Brief mit Bildern erhalten, die mich meinen Job kosten, wenn mein Chef sie sieht und kann uns nicht länger versorgen, wenn ich die Kündigung kriege. Von dem Geld, das ihr aufgrund des Verstoßes gegen meinen Arbeitsvertrag zahlen müsste, will ich gar nicht sprechen. Der Absender dieser Briefe spielt ein Spiel mit mir. Er möchte, dass ich ihm sage wer ich bin und wer ich sein möchte. Ich weiß gar nicht wie ich ihm die Antworten geben soll und ich verstehe auch nicht warum diese Fragen ihn davon abhalten sollen diese Bilder an die Öffentlichkeit zu bringen. Diese Bilder bringen auch einen weiteren Menschen in Gefahr und ich möchte nicht, dass diese Person wegen diesen Bildern leiden muss. Bitte sag mir was ich machen soll und frage mich auf gar keinen Fall um was für Bilder es sich handelt.«

 

Monica schien überfragt zu sein.

 

»Egal, was du gemacht hast. Ich stehe hinter dir. Du hast mich aus der Hölle geholt und tust alles für mich. Ich bin mir sicher, dass du deinen Fehler bereust und alles richtig machen wirst.«

 

                Als Mona am nächsten Tag in den Aufzug stieg, hallten sie Sätze ihrer Schwester in ihrem Kopf.

 

Ich mache jetzt alles richtig und hoffe, dass das perverse Schwein schweigt, wenn ich ihm die Antworten auf die Fragen liefere. Alles wird gut.

 

Sie ging mit einem breiten Lächeln in die Praxis, doch das Lächeln sollte ihr sofort entgehen.

 

»Hier bitte, der ist für Sie.« Raphael reichte Mona einen Umschlag, der weniger spektakulär aussah als der am Vortag. Mona wusste es aber sofort. Der Inhalt wird sie genauso verstören wie es der Inhalt des letzten Briefes getan hatte. Es war nicht bloß ein Gefühl. Der Brief hatte eine negative Wirkung auf sie. Er schien so schwer und der Adressat hatte wieder keine Adresse auf der Rückseite notiert.

 

Mona ging in das Behandlungszimmer, in dem die Bilder entstanden waren und öffnete den Umschlag. Diesmal befanden sich keine Fotos in den Umschlag.

 

Welche Fotos hätte man auch noch an mich schicken können? Einen weiteren Fehler habe ich nicht gemacht.

 

Auf einem weißen Blatt stand eine weitere Frage.

 

Wie viele Identitäten hast du?

 

Was soll das bitte heißen?

 

Mona verließ das Behandlungszimmer und ging an die Rezeption, um sich nach dem einzigen Patienten zu erkundigen, den sie heute hatte. Zum Glück arbeitete sie nur auf Minijob-Basis dort und musste nur von Montag bis Mittwoch arbeiten und das viel kürzer als die Vollzeitangestellten. Früher, bevor sie sich in die Universität eingeschrieben hatte, arbeitete sie dort in Vollzeit und dachte, dass sie ihren Traumberuf ausübte, jedoch merkte sie eines Abends, als sie wieder schlaflos in ihrem Bett lag und darüber nachdachte, ob sie glücklich ist, dass sie dieser Beruf nicht vollständig erfüllt.

 

                Mona empfing ihren einzigen Patienten, den sie auch schon seit gestern kaum aus dem Kopf bekommen hatte. David spazierte gerade durch die Tür ein.

 

»Hallöchen, ihr beiden.« sagte er.

 

Raphael ging an das Telefon und Mona führte David in das Behandlungszimmer.

 

»Zieh schonmal deine Hose aus und leg dein Handtuch auf die Liege. Ich hole noch das Babyöl.«

 

Mona verließ mit diesen Worten das Behandlungszimmer und ging nochmal das Szenario durch, das sie seit gestern geplant hatte.

 

Ich sage ihm, dass es Bilder gibt, auf denen man uns beide klar und deutlich sieht. Ich frage ihn, ob er etwas damit zu tun hat. Oh Gott, was soll er denn schon damit zu tun haben? Wir sind beide auf derselben Seite. Dann frage ich ihn, ob er Feinde hat und im besten Fall kann er mir Namen geben und wir haben dann zumindest einen Verdächtigen.

 

»Ich bin bereit, Süße.«

 

Das hatte noch gefehlt. David hatte nicht nur seine Hose ausgezogen. Er lag unbekleidet auf seinem Handtuch und schaute Mona gierig an.

 

»Nein« entfuhr es Mona. David griff zu seiner Unterwäsche und zog sie schnell an. Er musste sich auf den Termin gefreut haben und wirklich gedacht haben, dass es ein zweites Mal passieren würde. Mona konnte ihm nicht widerstehen und das wusste er ganz genau. Sie fasste die Geschehnisse der letzten beiden Tage zusammen, während sie sich auf den Hocker setzte und die manuelle Lympfdrainage durchführte.

 

                »Du kleine Schlampe.«

 

Mona schaute ihn geschockt an.

 

Hat er mich gerade wirklich als Schlampe beschimpft?

 

»Du wolltest mich doch von Anfang an vögeln. Wie konnte ich denn so dumm sein und so einem Flittchen wie dir so eine Chance geben?«

 

Chance? Flittchen?

 

»Du kleine Schlampe, willst du Geld? Ist das alles ein Spiel? Ist das gerade lustig?«

 

Spiel? Lustig?

 

Mona fasste David an seiner Verletzung bewusst fester an und er schrie fast stumm. Sie wusste ganz genau, dass er ein Problem hätte, wenn Raphael, ihr Chef, oder weitere Kollegen ihn schreien hörten. Er hatte Angst, dass sie alles beichten würde. Sie würde nichts beichten, weil sie eine verdammte Angst vor den Folgen hätte, doch er konnte nicht klar denken und stand noch unter Schock.

 

»Du sagst mir jetzt, ob du Feinde hast. Gibt es jemanden, zu dem du genauso ein Arschloch warst, wie du es gerade zu mir bist? Hast du eine andere gevögelt oder hat deine Frau Verdacht geschöpft?«

 

Mona kannte die Frau von David. Sie kam bis vor Kurzem noch regelmäßig zur Massage. Sie gehörte zu den Privatpatienten, die Holger, ihr Chef, ganz besonders mochte. Sie ließ regelmäßig zwanzig Euro pro Sitzung hier und war ganz schön unterhaltsam und auch gepflegt; sie hatte alles, was eine gute Patientin ausmachte. Mona konnte nachvollziehen, warum David sich nicht mit ihr zufrieden gab. Sie war rund zwanzig Jahre älter als Mona und war bei Weitem auch nicht so hübsch wie sie. Sie bekam ihre ersten weißen Haare, was äußerst spät passierte.

 

»Ich habe keine Feinde und meine Frau weiß nichts. Wenn sie etwas mitbekommen hätte, hätte sie sich bestimmt schon die Kugel gegeben.«

 

David hatte also keine Feinde und somit musste sie die Person sein, der man Schaden zufügen möchte.

 

Aber warum?

 

Nach fünfundvierzig Minuten, in denen sie diesem Arschloch das Bein massiert hatte, verließ sie, ohne etwas zu sagen, das Behandlungszimmer und wollte gerade gehen, als Raphael sie auf einen weiteren Brief hinwies. Aleyna, eine gute Freundin und Kollegin, schaute sie im Vorbeigehen an und zwinkerte ihr zu.

 

»Hast du einen heimlichen Verehrer? Du scheinst ja sehr beliebt zu sein.«

 

Mona setzte erneut das Lachen auf, das sie vor dem Spiegel geübt hatte.

 

»Ja, natürlich habe ich meine Verehrer. Was dachtest du denn?« Mona hörte an ihrer eigenen Stimme, dass sie nicht sehr glaubhaft klang, doch Aleyna hatte es eilig und ist nicht näher auf den Brief eingegangen.

 

Mona setzte sich in den Aufenthaltsraum, in dem sie sich immer sehr wohl gefühlt hat. Gestern hat sie diesen Brief genau an diesem Ort gelesen und dies hat diesem Ort die Magie teilweise genommen. Trotzdem blieb sie gerne, auch nach der Arbeitszeit, hier, um ihre Seminare und Vorlesungen vor- oder nachzuarbeiten. Auch heute setzte sie sich nach der Arbeitszeit an den großen Tisch, doch heute wollte sie sich nicht auf die nächsten Veranstaltungen der Uni vorbereiten. Sie wollte den Brief öffnen und die nächste Frage des Irren lesen. Danach würde sie alle Fragen beantworten und auf dem verdammten Zeitpunkt warten, in dem sie diese Antworten geben und das Spiel gewinnen würde. Sie öffnete diesmal den Brief zwar erneut mit zitternden Händen, aber sie war mental darauf vorbereitet was in dem Brief stehen würde. Es kann ja nur eine weitere absurde Frage folgen.

 

                Jetzt schlug ihr Herz wieder genauso schnell wie gestern. Sie dachte, dass sie schon für eine Konfrontation bereit wäre und dass sie dem Ganzen einfach nur noch ein Ende setzen möchte, doch jetzt ging alles schneller als sie dachte. Sie dachte daran regelmäßig zu atmen, denn sie durfte nicht ohnmächtig werden. Sie musste sich vorbereiten, denn es blieben ihr nur noch vier Stunden, elf Minuten und ungefähr 32 Sekunden bis zur Konfrontation. Sie betrachtete das alte Handy erneut und schaute sich die Galerie und die Nachrichten an. Wer auch immer dieses Spiel spielte, hatte die Fragen und die Bilder auf diesem Handy gespeichert. Das einzig Neue war die letzte Nachricht, die in Großbuchtaben verfasst worden war.

 

AUFZUG UM 17:37UHR.

 

Der Irre wollte seine Antworten und Mona wollte ihre Ruhe. So einfach war das Ganze, dennoch hatte Mona Angst. Sie wusste nichts über ihr Gegenüber. Sie wusste nichts, ob das Gegenüber weiblich oder männlich war. Außerdem wusste sie nicht, ob ihr Gegenüber in diesem Gebäude arbeitete oder wie es in den Behandlungsraum gekommen war. Sie hatte keine Ahnung, ob sie ihm oder ihr schonmal begegnet ist, oder ob sie sich sogar gut mit ihm oder ihr verstand. Vielleicht mag sie das Gegenüber nicht. Vielleicht entpuppt sich das Ganze auch als ein schlechter Witz, wie sie es ja am Anfang vermutet hatte.

 

Vielleicht, vielleicht, vielleicht…

 

Das Schlimmste war jedoch die Frage: Wozu ist mein Gegenüber fähig?

 

Mona machte eine weitere Entdeckung auf dem Handy. Sie fand eine Sprachnachricht, die sie sofort abhörte. Es würde endlich etwas geben, was ihr helfen würde die Identität des Gegenübers herauszufinden. Leider musste sie sich erneut täuschen, denn die Stimme war verzerrt.

 

Hallo Mona. Schön, dass Sie diese Sprachnachricht entdeckt haben. Ich finde es gut, dass Sie all ihre Aufgaben mit einer großen Sorgfalt bearbeiten. Sie hätten das Handy ja auch nach der Entdeckung der neusten Nachricht auf die Seite legen können. Ich bitte Sie darum den Anweisungen Folge zu leisten. Ich muss sie auch darum beten die Polizei nicht zu kontaktieren. Ich kann mir denken, nein ich weiß, dass sie ohnehin nicht vorhatten die Polizei zu kontaktieren, weil sie auf gar keinen Fall wollen, dass ihr Chef diese Bilder entdeckt, aber ich möchte gleich nicht überrascht werden und warne sie nochmal. Zudem bitte ich Sie jegliche spitze Gegenstände abzulegen. Ich möchte auf gar keinen Fall noch eine Verletzung erleiden müssen.

 

 

 

Noch eine Verletzung?!

 

 

 

Der Aufzug wird um dieser Zeit leer sein. Sorgen sie dafür, dass außer Ihnen niemand den Aufzug betritt. Bis gleich. Ich freue mich schon.

 

 

 

                Mona holte sich ein Blatt Papier und einen Stift. Sie wollte sich auf diese Konfrontation vorbereiten. Sie hatte seit gestern nichts mehr gegessen und drohte nun auch zu dehydrieren. Der Stresspegel war zu hoch und sorge dafür, dass sie alltägliche und notwendige Sachen, wie das Trinken, vergaß. Sie hatte noch die Möglichkeit alles zu beichten. Sie konnte jetzt noch zu ihrem Chef gehen und ihm die Wahrheit erzählen.

 

Es würde mich nur einpaar Tausender kosten.

 

Sie stellte sich die erste Frage erneut.

 

Wer bist du und wer möchtest du sein?

 

»Ich bin Mona und bin dreiundzwanzig Jahre alt. Ich bin Physiotherapeutin und studiere Germanistik. Ich möchte, wenn ich mein Studium erfolgreich abgeschlossen habe Lektorin werden.«

 

Wie viele Identitäten hast du?

 

Diese Frage schien irgendwie sinnlos zu sein. Was sollte das denn heißen? Wie viele Identitäten kann ein Mensch denn bitte haben?

 

»Ich denke, dass ich eine Identität habe. Ich bin kein komplizierter Mensch. Ich bin bloß Mona. Die Schwester von Monica, die Angestellte von Holger, die Streberin von nebenan.«

 

                Nach dem Beantworten dieser Fragen kamen Mona diese Fragen noch seltsamer vor als zuvor. Wer sollte sich denn so sehr mit ihr beschäftigen? Kann es ein perverser Stalker sein?

 

                Mona schaute auf die Uhr und bemerkte, dass die Zeit schneller verging als gedacht. Es gab kein Zurück mehr. Sie hatte noch sieben Minuten. Ihr Herz schien gerade eine Höchstleistung zu erbringen und sie hatte das Gefühl, dass es ihr aus dem Körper springt. Jede verstrichene Sekunde brachte sie dem Psycho nahe, genauso wie jeder Schritt, den sie gerade in Richtung Aufzug ging. Raphael schien ihr noch etwas zugerufen zu haben, doch Mona war nicht imstande das Gesagte zu verarbeiten und ihm dann eine Antwort darauf zu geben. Um genauer zu sein, war sie gerade zu gar keiner Handlung zustande. Sie bemerkte gar nicht wie sie vor der Tür stehen geblieben war, bis Raphael sie antippte.

 

»Erde an Mona. Ich rede mit Ihnen… dir.«

 

Mona sah, dass Raphael nun neben ihr stand und die Tür öffnete.

 

»Ladies first.« sagte er und unterstützte das Gesagte mit der entsprechenden Geste. Mona rappelte sich auf, doch konnte diesmal kein Lächeln erzwingen und sich auch nicht bedanken. Sie schaute auf ihr Handy, das ihr ankündigte, dass die gefürchtete Konfrontation in einer Minute erfolgt. Raphael drückte auf den Knopf des Aufzuges und Mona reagierte blitzschnell.

 

»Kannst du bitte die Treppe nehmen?«

 

Raphael schaute sie verwirrt an und wusste offensichtlich nicht genau was er jetzt sagen sollte. Er entschied sich dazu zu lachen und die Frage seiner Kollegin als misslungenen Witz oder etwas Ähnliches zu bewerten. Es öffnete sich die Tür des Aufzuges und beide gingen in den Aufzug. Einerseits war Mona erleichtert, denn nun hatte sie einen Zeugen. Falls der Stalker es auf sie abgesehen hatte, würde Raphael ihr bestimmt helfen. Er war muskulös und machte bestimmt schon seit einigen Jahren Sport. Er war zwar erst 19 Jahre alt, aber hatte den Körper eines Profisportlers.

 

Und wenn er ausrastet, wenn er Raphael sieht?

 

Mona wartete darauf, dass der Aufzug sich öffnete und der Stalker einstieg. Es fühlte sich so an, als würde sie auf den Tod warten. Sie wartete darauf, dass etwas Schlimmes passierte und konnte gar nichts tun, um es zu verhindern. War es rücksichtslos, dass sie Raphael nicht gewarnt hatte? Er hatte rein gar nichts mit diesem Vorfall zu tun und begab sich gerade vielleicht in Gefahr. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn warnen muss, doch entschied sich nun, dass er mehr als nur notwendig war ihn über den Stand der Dinge zu informieren bevor es zu spät war.

 

»Raphael, du musst hier sofort raus. Sofort.«

 

Raphael guckte sie an als hätte sie ihm gesagt, dass sie fliegen kann. Er musste schon die ganze Zeit bemerkt haben, dass sie sich anders benahm als gewohnt, doch jetzt hatte er einen endgültigen Beweis dafür, dass sie ganz offensichtlich spinnte.

 

»Mona, ich denke nicht, dass ich raus muss. Entspann´ dich doch ein bisschen.«

 

Er war total locker. Lockerer als sonst. Er siezte sie nicht mehr, was auch gut war, doch irgendwie sprach er jetzt mit ihr als würden sie sich länger kennen und befreundet sein.

 

Wo bleibt der Psychostalker???

 

Mona hatte sich in die rechte Ecke des Aufzuges gestellt, um so weit wie möglich von der Tür des Aufzuges entfernt zu sein. Von dort sollte der Psycho in den nächsten Sekunden auch einsteigen. Raphael stellte sich in die andere Ecke und jetzt viel der Groschen.

 

Er wollte im Aufzug sein und er hat nicht gesagt wann er diesen betreten würde.

 

Er hat mich gesiezt, was völlig komisch war. Welcher Erpresser siezt die Erpresste?

 

Er schien mich zu kennen. Er konnte wissen wie ich handeln würde und dass ich nicht die Polizei rufen würde. Er hat mich also schon des Öfteren gesehen und sich mit mir unterhalten.

 

Wie konnte ich nur so blind sein?

 

Wie konnte ich nicht bemerken, dass der Aufzug sich schon lange nicht mehr bewegte und wahrscheinlich irgendwo zwischen dem zweiten und dritten Stock ins Stehen geraten ist?

 

Raphael schien begriffen zu haben, dass Mona nun den Verdacht schöpfte, dass er die Person war, die dieses Spiel mit ihr spielte. Er steckte seine Hände in seine Hosentasche und schaute abfällig auf Mona, welche inzwischen schneller atmete und auch Tränen in den Augen hatte. Es musste sie überrascht, nein schockiert, haben. Das letzte, womit sie gerechnet hatte, war dass dieser stets freundliche, hilfsbereite und wohlerzogene Junge solche Gemeinheiten geplant hatte.

 

Warum?

 

Die Zeit stand still und es herrschte eine kurze Ruhe.

 

Die Ruhe vor der Flut.

 

Mona schaute ihn von oben bis unten an, um Anzeichen einer Änderung zu erkennen, doch optisch nahm man keine Änderung war. Er war der Alte. Er sah immer noch freundlich aus, doch er hatte seine Maske abgenommen und damit hatte sie sein hässliches Inneres gesehen.

 

»Du bist eine schlaue Frau, Mona. Ich muss ehrlich sagen, dass ich nicht vermutet habe, dass du auf dieses bescheuerte Spiel eingehst. Du hast mich ehrlich enttäuscht.«

 

»Was willst du von mir?« sagte Mona mit einer hasserfüllten Stimme.

 

Warum?

 

Es musste irgendetwas geben, was sie übersehen hatte.

 

 Warum???

 

»Du fragst dich sicherlich warum ich dir solche Briefe geschickt habe.« sagte er und schaute sie sehr selbstbewusst an. Dieses Selbstbewusstsein kannte Mona an ihm nicht. Es war ihr völlig neu.

 

»Ich wüsste es nur viel zu gerne.« antwortete sie, ohne anmerken zu lassen wie enttäuscht, überrascht und schockiert sie war.

 

»Ich sage es dir natürlich. Dafür haben wir uns doch an diesem schönen Platz getroffen. Bevor ich die Fragezeichen in deinem Kopf durch Gewissheit ersetze, musst du etwas machen. Kannst du mir auf meine Fragen antworten. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt.«

 

Mona nickte und eigentlich wollte sie ihm in die Eier treten. Wie absurd war das Ganze denn bitte? Was möchte der Rezeptionist von ihr? Sie kennen sich kaum und deswegen macht das alles gar keinen Sinn.

 

Raphael wiederholte die ersten beiden Fragen, die er ihr gestellt hatte.

 

»Wer bist du und wer möchtest du sein? «

 

»Ich bin Mona, 23 Jahre alt, Physiotherapeutin und Germanistikstudentin. Ich möchte einmal Lektorin werden.«

 

»So einfach ist es. Jetzt beantworte mir die nächste Frage. Sag mir wie viele Identitäten du hast.«

 

Mona fragte sich was das alles soll und machte sich Gedanken darüber, ob ihr Kollege ein psychisches Problem haben könnte. Eigentlich schien er psychisch in einer guten Lage zu sein, aber sie konnte sich das Alles nicht erklären. Welches Motiv konnte er haben?

 

»Ich habe eine Identität. Ich bin diejenige, die du kennst. Die 23-jährige Physiotherapeutin, die Germanistik studiert.«

 

Raphael guckte sie ausdruckslos an und nickte zweimal. Sie konnte sich nicht zusammenreimen was das bedeuten soll.

 

»Liebe Mona, ich habe mir gedacht, dass du genau diese Antworten geben würdest. Schon wieder hast du mich enttäuscht. Du bist eine wahre Enttäuschung. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich muss dir jetzt mein Motiv verraten, aber dafür werde ich diese Fragen ebenfalls beantworten. Ich werde aber ganz andere Antworten geben, liebe Mona. Da ist ein sehr großer Unterschied zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung.«

 

Mona hatte keine Idee was dieser Typ im Schilde führte und ob es bei einer harmlosen Unterhaltung blieb. Sie hätte einfach auf den Hilfeknopf im Aufzug drücken und laut losschreien können, doch damit würde sie nur ein Eigentor schießen. Dann hätte sie gar keine Chance mehr diese Bilder zu eliminieren. Inzwischen fragte sie sich, ob er diese Bilder auch wirklich löschen würde, der ob er sich jetzt erstmal mit ihrem Leid und ihrer Angst vergnügte, um sie später noch zu potenzieren, indem er ihrem Chef die Bilder aushändigte.

 

»Mona, du bist eine 23-jährige, die versucht auf ihren eigenen Beinen zu stehen. Du kümmerst dich um deine jüngere Schwester, die vor einiger Zeit bei dir eingezogen ist. Du hast ihr das Leben gerettet, denn bei diesem Vater hätte sie es keine Sekunde mehr ausgehalten. Das schätze ich wirklich an dir. Du hast wirklich noch etwas Gutes in dir, doch ich bin der Meinung, dass nicht die Liebe und das gute Verhalten deiner Familie gegenüber reicht, um dich zu einem guten Menschen zu machen, denn für mich bist du ein grauenvoller Mensch. Du bist eine Frau, die einen verheirateten Mann vögelt. Wahrscheinlich hattest du einfach mal Lust darauf und die Ehefrau und das Kind des ohnehin viel zu alten Mannes waren dir völlig egal.«

 

Worauf wollte er hinaus? Was hat der denn bitte damit zu tun?

 

Er sprach weiter.

 

»Du weißt selbst nicht wer du bist und was du willst. Du kannst doch nicht ernsthaft wollen, dass sich jemand wegen dir umbringt.«

 

»Das verstehe ich nicht.« sagte Mona mehr zu sich selbst als zu ihm.

 

»Ich behaupte, dass jeder Mensch mehrere Identitäten hat. Für mich bist du eine ganz andere Person als du es für deine Schwester bist.«

 

                Umbringen, mehrere Identitäten. Diese Wortfetzen haben doch gar keinen Zusammenhang. Warum soll den jemand wegen meines Geheimnisses, das ja jetzt kein Geheimnis mehr ist, sterben wollen? Das ist doch so ein Schwachsinn. Warum??? David hat eine Ehefrau und einen…

 

Mona schaute Raphael nochmal an. Er machte noch sein Abitur und musste demnach ungefähr 18 oder 19 Jahre alt sein. Sein Vater war rund vierzig Jahre alt. Seine Mutter war in dem Alter seines Vaters.

 

»Dein Vater heißt David.«

 

Jetzt applaudierte er und schien sehr glücklich zu sein. Er schaute auf seine nicht vorhandene Armbanduhr und signalisierte ihr, dass sie sehr lange überlegt hatte. Jetzt war alles viel klarer. Raphael war der Sohn und sie hatte so lange gebraucht, um diese Tatsache zu begreifen, weil sie mit dem Begriff „Sohn“ andauernd ein Kind verbunden hatte.

 

Wie dämlich ich bin.

 

»Und was tust du jetzt mit mir? Wirst du mich verraten?«

 

Raphael schien tatsächlich nachzudenken und gab zu, dass er noch nicht so weit gedacht hatte. Er schien sich zu amüsieren, denn Mona konnte ihre Sorgen nicht verbergen. Sie traute ihm nicht zu, dass er gewalttätig würde, doch hatte sie sich nicht schon einmal in ihm getäuscht?

 

»Meine Mutter liebt meinen Vater und sie könnte es nicht verkraften, wenn sie herausfinden würde, dass er untreu war. Sie würde sich das Leben nehmen und da bin ich mir ganz sicher. Deshalb musst du dir das Leben nehmen.«

 

Diese Antwort kam unerwartet. Genauso wie das Messer in der Hand und die Tür des Aufzuges, die plötzlich aufgegangen war.

 

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