AnkeMuellerWintersonate

Gestern war doch noch Sommer.

Immer und immer wieder schießt mir der Gedanke durch den Kopf, während ich aus dem Fenster auf die schneebedeckte Landschaft blicke. Ich weiß, dass ich im Urlaub bin. Das sagt mir nicht nur ein Gefühl, sondern auch das Hotelzimmer, in dem ich mich befinde. Zudem erinnere ich mich, gestern am Pool gelegen, und mir beim Schwimmen einen Sonnenbrand geholt zu haben.

Fröstelnd ziehe ich die fremde Jacke enger um meinen Körper und beobachte, wie der Lift unaufhörlich Menschen auf den Berg hinauf zum Skifahren bringt. Wieso war gestern noch Sommer?

Mühsam reiße ich mich von dem verwirrenden Anblick los und erkunde das Zimmer. Es fühlt sich vertraut und gleichzeitig fremd an. Wie ein Freund, den man nach langer Zeit zufällig wiedertrifft. Ich öffne Schubladen und Schränke. Schaue in den am Boden liegenden Koffer, von dem ich annehme, dass er mir gehört. Die Klamotten haben alle meine Größe, aber ich kann mich nicht erinnern, sie gekauft oder gar schon einmal getragen zu haben. Trotzdem bediene ich mich an ihnen und schlüpfe in Jeans und Wollpullover. Mein Blick fällt auf einen Sekretär, auf dem ein Prospekt und die Bedienungsanleitung für den Fernseher liegen. «Fairview Resort», lese ich laut den Namen der Hotelkette vor. Ganz leise, wie aus weiter Ferne, klopft eine Erinnerung an. Bevor ich sie hineinlassen kann, ist sie schon wieder weitergezogen.

Ein Brummen holt mich aus meinen Grübeleien. Direkt neben dem Haustelefon liegt ein Handy, das durch einen voreingestellten Alarm auf sich aufmerksam macht.

«Öffne mich – 2904», erscheint auf dem Display. Ich tippe den Code ein und erstarre, als mich eine Frau im Bikini anlächelt, die es sich auf einer Liege am Pool gemütlich gemacht hat. Das Bild brennt sich durch meine Netzhaut und scheint Gehirnzellen zu aktivieren. Das bin ich! Wie Blitze zucken Erinnerungen an den gestrigen Tag durch meinen Kopf. Zu schnell, als dass ich sie alle fassen könnte. Was bleibt, ist eine Ahnung von Glück, Zufriedenheit und Entspannung.

Ich muss mehr erfahren. Warum habe ich das Gefühl, dass ich woanders sein sollte? Und warum verdammt nochmal, liegt dort Schnee, wo doch gestern noch Beachvolleyball gespielt wurde?

Auf dem Handy sind keine Kontakte gespeichert, keine Apps installiert oder Nachrichten vorhanden. Einzig eine Videodatei finde ich. Als ich sie öffne, sehe ich erneut in mein Gesicht, das gegensätzlicher zu dem auf dem Bild am Pool nicht sein könnte. Mein Herzschlag beschleunigt wie auf einer Autobahn ohne Tempolimit.

«Mama, Papa, ich liebe euch», höre ich mich keuchend sagen. Ich bin wohl gerannt und stehe in einem dunklen Raum. Jedenfalls erkenne ich nichts anderes, als mein angsterfülltes Gesicht auf dem Display. Ich sehe mich gehetzt um, schaue wieder in die Kamera und fahre fort: «Ich habe jemandem Unrecht getan und dafür werde ich nun bestraft. Es tut mir unendlich leid, aber ich werde es wiedergutmachen, das schwöre ich. Wenn er mich lässt. Doktor Niklas Engel ist …»

Als der Schuss ertönt, lasse ich vor Schreck das Handy fallen. Es liegt vor mir auf dem Teppich, das Display oben, und zeigt, wie mein Alter Ego blutüberströmt am Boden liegt. Der Kamerawinkel ist anders, weil ich das Handy auch im Video habe fallen lassen. Ein brauner Wildlederschuh schiebt sich vor das Objektiv, dann endet die Aufzeichnung.

 

Ich sitze im Bad und schaue mir immer und immer wieder meinen eigenen Tod an. Es ist perfide, aber ich kann damit nicht aufhören.

«Wer ist Doktor Niklas Engel?», murmle ich und grabe wie ein Archäologe in meinen spärlichen Erinnerungen. Ich kenne meinen Namen, weiß wo ich wohne, wer meine Eltern sind, dass ich Doktorandin bin und nach dem Urlaub eine Stelle in der Berliner Charité antreten werde, für die ich jahrelang hart gearbeitet habe. Trotzdem fehlen mir etliche Bruchstücke, um das große Ganze vor mir zu sehen. Ich grabe hier und putze dort, aber außer brauner Erde kommt nichts zum Vorschein.

Irgendwann knurrt mein Magen und nimmt mir auch das letzte bisschen Denkvermögen. Ich reibe meine Schläfen und gehe hinunter in den Frühstücksraum.

«Guten Morgen, Frau Doktor Bernhard», werde ich von einem Hotelangestellten begrüßt. «Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Wie gewünscht habe ich Ihnen den Earl Grey besorgt, den Sie so mögen. Nehmen Sie doch schon einmal Platz und ich sage in der Küche Bescheid. Wie immer ist Tisch 17 für Sie reserviert. Ihr Mann wartet schon.»

Wieso weiß dieser Mensch mehr über mich, als ich selbst? Ich bemühe mich, nicht in hysterisches Lachen zu verfallen. «Das ist sehr nett. Vielen Dank …», ich werfe einen verstohlenen Blick auf sein Namensschild, «… Nate.»

So als ob ich auf dem Weg zu meiner Hinrichtung wäre, nähere ich mich mit zögerlichen Schritten dem mir zugewiesenen Tisch. Meinem Stammtisch. Vor Aufregung ist mir inzwischen der Hunger wieder vergangen. Aber vielleicht kann mir die Person, deren Gesicht hinter einer Tageszeitung verborgen ist, ja mehr erzählen. Mein Ehemann, laut Nate. Ich blicke auf meine Hände, sehe aber keinen Ehering.

«Guten Morgen», sage ich und bleibe unschlüssig vor dem Tisch stehen.

Die Zeitung wird gesenkt und bringt einen gutaussehenden Mann zum Vorschein, dessen Gesicht meine Unsicherheit widerspiegelt. «Guten Morgen, Alex», begrüßt er mich. Meine Verwirrung hebt sich teilweise durch seine warme, weiche Stimme auf. Ich kenne sie und fühle mich zu ihr hingezogen. «Setz dich doch.» Er steht auf, schiebt meinen Stuhl zurück und lächelt dabei. Wie gerne würde ich mich an unsere Hochzeitsnacht erinnern.

Dann nimmt er wieder Platz und legt die Zeitung zur Seite, um mir seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. «Du hast bestimmt tausend Fragen, die ich dir allesamt gerne beantworte. Vielleicht kann ich dir vorweg schon ein wenig helfen. Dafür musst du mir aber verraten, auf welchem Wissensstand du heute bist. Kennst du deinen Namen?»

Ich nicke und erhalte zur Belohnung wieder dieses herzerwärmende Lächeln.

«Gut. Das ist sehr gut. Dann können wir direkt mit den Bildern anfangen.» Er greift nach dem Telefon, das schon auf dem Tisch bereit liegt, tippt kurz darauf herum und reicht es mir dann. Zum dritten Mal sehe ich mich in Situationen, an die ich mich nicht erinnern kann. Ich trage ein wunderschönes Brautkleid, küsse den Mann, der mir gerade gegenübersitzt, und sehe dabei richtig glücklich aus.

«Wir sind also wirklich verheiratet?»

Er nickt.

«Wieso trage ich keinen Ring?»

«Vorsichtsmaßnahme. Du bist einmal aufgewacht und hast das Zimmer verwüstet, als du ihn an deinem Finger entdecktest.»

«Unsinn. So etwas würde ich niemals tun. Ich bin viel zu beherrscht.» Wenigstens das ist etwas, das ich mit Gewissheit über mich sagen kann.

«Das stimmt. Wenn du ein Ziel verfolgst, dann blendest du alle Emotionen aus.» Die Bitterkeit in seiner Stimme lässt mich aufhorchen. Sie legt Schatten über sein sonst so freundliches Gesicht, die mich verwirren.

Kurz darauf hat er sich wieder gefangen. «Du hast das Video gesehen, nehme ich an?»

Ich nicke zustimmend und stelle die Frage, die mich mehr als alles andere umtreibt. «Wieso bin ich noch am Leben?»

«Nun, als wir dich fanden, warst du das kaum noch. Ich habe dich selbst operiert. Zwar konnte ich dich retten, aber dafür wurden Teile deines Erinnerungsvermögens beschädigt. Du weißt an den meisten Tagen noch sehr viel aus deiner Vergangenheit, kannst aber neue Erinnerungen nur ungefähr 24 Stunden lang speichern. Sobald du schläfst, hast du am nächsten Morgen alles wieder vergessen. Das Video hilft dir dabei, klarer und ruhiger in den Tag zu starten. Deswegen lege ich es dir Abends immer bereit, bevor du einschläfst.»

Wie ein Schwarm Bienen schwirren Millionen Fragen in meinem Kopf herum und bereiten mir Kopfschmerzen. Nate tritt an den Tisch und serviert das Frühstück mitsamt meinem Earl Grey, was mir Zeit verschafft, die Bienen zu sortieren. Als wir wieder allein sind, beginne ich meinen Mann zu verhören. «Wo habt ihr mich gefunden?»

«Du warst auf dem Heimweg vom Krankenhaus, als du überfallen wurdest. Man hat dir Geld und Kreditkarten abgenommen.»

Irgendetwas stimmt an dieser Geschichte nicht, aber je mehr ich darüber nachdenke, umso schlimmer wird der Kopfschmerz. Der Earl Grey hilft, ihn zu betäuben.

«Wie haben wir uns kennengelernt?»

«Schatz, vielleicht solltest du dich lieber hinlegen.»

«Mir geht es gut», presse ich mühsam hervor, während die Bienen erbarmungslos zustechen.

Er seufzt so, als ob wir diese Unterhaltung schon Millionen Mal geführt hätten. «Bei der Arbeit. Du hast auf meiner Station dein praktisches Jahr gemacht. Ich bin Neurologe und du wolltest dich ebenfalls dahingehend spezialisieren.»

«Aber …» Eine tiefe Traurigkeit gesellt sich zu dem Schmerz. «Ich habe die Stelle doch bekommen. Das weiß ich ganz genau.» Dann zwingt mich ein mulmiges Gefühl, noch einmal nachzufragen. «Oder etwa nicht?»

«Doch, die Stelle hast du bekommen. Allerdings ist das schon zwei Jahre her.»

«Was?», rufe ich entsetzt. Ich spüre, wie eine heiße Träne über meine Wange rinnt. Nachdem ich meinen Schock halbwegs überwunden habe, frage ich: «Zwei … Jahre?»

«So lange leben wir schon hier in dem Hotel. Ich kann dich nicht unbeaufsichtigt lassen, wenn ich arbeiten gehe. Das habe ich versucht, aber du bist jedes Mal weggelaufen und wärst einmal fast erfroren, weil du den Weg nach Hause nicht mehr gefunden hast. Also habe ich das Haus verkauft und einen Deal mit dem Hotel gemacht. Du hast hier sehr viele Urlaube verbracht, was deiner Erinnerung auf die Sprünge hilft und dich auch ruhiger erwachen lässt. Das Personal ist instruiert und tut alles, damit dein Tag nicht zu grauenvoll wird, sobald du die Wahrheit kennst, die ich dir immer und immer wieder erzählen muss. An den guten Tagen, so wie heute, verläuft das Gespräch ruhig. An anderen wiederum …»

Die unausgesprochenen Worte treiben mir die Schamesröte ins Gesicht. Wie oft bin ich wohl schon ausgerastet? Habe jemanden beleidigt, oder schlimmer, verletzt? Ich dachte doch, ich wäre so beherrscht. Worin habe ich mich denn noch geirrt?

Er greift meine Hand. «Mach dir keine Sorgen. Wir alle haben gelernt, damit umzugehen. Richtig schlimm ist es nur, wenn du aufwachst und direkt deine Narbe schmerzt.»

Automatisch gleitet meine Hand an meine Schläfe und muss nicht lange nach der Narbe suchen. Sie ist wulstig und zieht sich fast bis zum Hinterkopf. Ich weiß, dass mein Mann recht hat. Hätte ich diese zuerst gefühlt, wäre ich völlig ausgerastet. Mir wird schwindelig. «Entschuldige, ich glaube, ich muss mich doch noch einmal hinlegen.»

Er hilft mir auf, muss mich dabei leicht stützen. Nate eilt zur Hilfe, doch ich wehre ihn ab. Bedanke mich noch einmal für den Tee und betrete den Aufzug. Die Nähe meines Mannes beruhigt mich. «Wie heißt du eigentlich?» Die Frage kostet mich sehr viel Kraft. Meine Lider fallen immer wieder zu.

«Du nennst mich gerne deinen Engel. Das gefällt mir.»

Mit aller Macht versuche ich, die Erinnerung zu fassen, die bei dem Namen aufkommt. Zu allem Übel fängt nun auch mein Kopf an, mir nicht mehr zu gehorchen. Mein Engel öffnet die Tür zu meinem Zimmer (oder ist es unser Zimmer?), lässt mich aus seiner Umarmung auf das Bett gleiten und in dem Augenblick, als mein Kopf das Kissen berührt, falle ich in einen sanften Schlaf.

 

Jemand klopft mit einem Vorschlaghammer an die Tür. Zumindest kommt es mir so vor. Träge öffne ich erst ein Auge, dann das andere, orientiere mich und weiß zum Glück noch, dass ich nichts weiß. Am liebsten würde ich liegenbleiben, bis mein Mann wiederkommt, aber jemand da draußen scheint etwas dagegen zu haben. «Ja doch, ich komme», brülle ich, was mein Kopf direkt mit Schmerz bestraft. War Denken schon immer so anstrengend?

Ich öffne die Zimmertür und blicke in die Augen einer Zimmerdame. «Sie können später putzen», sage ich und will schon wieder die Tür schließen, doch sie schiebt sich an mir vorbei. «Hey!»

«Entschuldigung, aber Sie müssen dringend verschwinden.»

«Was erlauben Sie sich», begehre ich auf, was sie kalt lässt.

Stattdessen greift sie unter ihre Schürze, holt ein Handy hervor und spielt ein Video ab, das mich fassungslos auf das Bett zurücksinken lässt.

«Du musst verschwinden», höre ich mich zu mir selbst sagen. «Er ist nicht dein Mann! Scheiß auf Wiedergutmachung.» Im Video stehe ich im Flur vor meinem Zimmer, was ich an der Vase im Hintergrund erkenne. «Alex?», ertönt die Stimme meines Mannes. Keine Spur von Wärme. Genau wie der Sommer über Nacht gewichen ist, ist jetzt nur noch frostige Kälte in ihr zu hören.

«Hau ab!», raune ich mir eindringlich zu, bevor das Video endet. Aber anstatt auf mich zu hören, bleibe ich sitzen und versuche meine Gedanken zu sortieren.

Die Zimmerdame will mich am Handgelenk hochziehen. Ich habe keine Kraft, ihr dabei zu helfen. «Ach, verdammt, Sie machen es mir aber auch wirklich nicht einfach. Mir egal, ob Sie Angst haben eingewiesen zu werden. Wenn Sie jetzt nicht mitkommen, gehe ich morgen zur Polizei. Seit zwei Wochen versuche ich Sie abzupassen, aber immer ist dieser Doktor da. Ich glaube, er wird langsam misstrauisch.»

«Da haben Sie recht.» Mein Engel steht mit einer Pistole in der Tür und zielt auf die Zimmerdame. Die weicht erschrocken zurück und stammelt Entschuldigungen. «Ich habe für so etwas keine Zeit», antwortet er und drückt ab.

Den Schuss höre ich nicht, dafür sehe ich überdeutlich, was die Kugel mit ihrem Gesicht angestellt hat. Kurz wird es zu meinem eigenen, wie ich in der Dunkelheit blutüberströmt am Boden liege.

In aller Ruhe schließt mein Engel die Tür und schüttelt bedauernd den Kopf. «Das hätte nicht passieren müssen. Warum musstest du sie da mit reinziehen?»

Erstaunlicherweise ist mein Kopf in dem Moment zum ersten Mal an diesem Tag klar. «Du bist Doktor Niklas Engel.»

Er schnalzt mit der Zunge. «Irgendwie war mir klar, dass heute einer der Tage ist, an denen du mich erkennst. Du hast dann immer diesen lüsternen Blick. Genau so hast du mich das erste Mal angesehen.»

Er steigt über die am Boden liegende Frau, zieht einen Stuhl heran und setzt sich in aller Ruhe darauf. Die Waffe zeigt ununterbrochen auf mich. Keine Chance zu fliehen. Ich starre auf seine braunen Wildlederschuhe und weiß mit unerschütterlicher Sicherheit, dass er mich diesmal umbringt.

«Das ist wirklich, wirklich unschön», sagt er mit Blick auf die Leiche. «Wir werden wohl wieder umziehen müssen. Du bist aber auch ein halsstarriges Biest. Ich hätte eine Lobotomie vornehmen sollen, als ich dich operierte. Dann wäre mir viel Ärger erspart geblieben. Andererseits mag ich unsere kleinen Scharmützel.»

«Warum?», stelle ich die vermutlich letzte Frage in meinem Leben.

Er lächelt müde. «Ich weiß nicht, wie oft ich das schon beantwortet habe. Vielleicht sollte ich das auch auf Video aufnehmen, inklusive der …», er tippte mit dem Fuß gegen die tote Frau, «… Konsequenzen. Wobei dich das bestimmt auch nicht abhalten würde, deinen Willen durchzusetzen. Du benutzt eben andere gerne. So, wie du mich benutzt hast, um diesen Job zu bekommen. Keinen Tag, nachdem ich dich mit dem Chef der Charité bekannt machte, hast du mich fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel und bist mit ihm ins Bett gehüpft. Du wolltest nur Spaß haben, hast du gesagt. Ist das für dich Spaß genug?» Den letzten Satz schleudert er in mein Gesicht, sodass ich Mühe habe, mir die Angst nicht anmerken zu lassen. Die Pistole zittert in seiner Hand.

«Das wollte ich nicht.» Ich fühle die Ehrlichkeit in diesen Worten. Aber ich fühle auch, dass Doktor Engel nicht die erste Person ist, die ich auf meinem Karrierepfad geopfert habe. Erinnerungsfetzen wabern durch mein Gehirn. Wie ich heftig mit ihm streite, ihn schlage, ihn endgültig loswerden will und einen perfiden Plan entwickle. «Ich wollte deine Karriere zerstören. Dich … zerstören. Es tut mir unglaublich leid, was ich dir angetan habe. Das ich auf deinen Gefühlen herumgetrampelt bin und dich dazu gebracht habe auf mich zu schießen.» Ich ekel mich vor mir selbst.

Er sieht überrascht aus, fängt sich aber schnell wieder. «Das glaube ich dir sogar. Nur ändert das leider nichts an deinem Schicksal.» Er greift in seine Jackentasche und zieht eine Spritze hervor. «Die benutze ich nur ungern, weil du dann mehrere Tage hintereinander Probleme bereiten wirst, aber ich fürchte, es muss sein. Dann erhöhen wir einfach deine tägliche Dosis Earl Grey

Ich rutsche panisch auf dem Bett so weit wie möglich weg von ihm, aber die Wand und seine Pistole halten mich in Schach. «Ach, Schatz», seufzt er und kommt langsam auf mich zu. «Dein Leben könnte so einfach sein, wenn du nur endlich lernen würdest, mich zu lieben, zu ehren und vor allem mir zu gehorchen.»

«Ich schreie», drohe ich halbherzig.

«Das nutzt gar nichts. Die Wände sind extra isoliert worden und das Personal kennt deine Wutanfälle bereits und weiß, dass sie uns besser alleine lassen, bis du dich beruhigt hast.» Er macht eine auffordernde Geste. «Nun komm schon. Ich muss noch einmal ins Krankenhaus und habe nicht ewig Zeit für deine Sperenzchien.»

Tränen sammeln sich in meinen Augen. «Ich will nicht vergessen.»

Fast mitleidig sieht er auf mich herab, dann hebt er die Pistole und zielt zwischen meine Augen. «Auch diesen Punkt hatten wir schon so oft. Hier stelle ich dich vor die Wahl. Entweder nimmst du die Spritze, vergisst und bleibst am Leben. Oder du wählst die Pistole und lässt mich beenden, was ich angefangen habe. Wie entscheidest du dich heute?»

Ich schluchze und schlage mir die Hand vor den Mund. «Bitte …», flehe ich und weiß noch nicht einmal um was genau.

Er blickt auf die Uhr. «Na los. Lass mich das beenden. Mir ist inzwischen sogar egal auf welche Art und Weise.»

Die Sekunden verstreichen, aber entschieden habe ich mich längst. Irgendwann befehle ich meinem Körper, sich in Bewegung zu setzen. Ich krieche auf ihn zu, wimmere und schäme mich dabei so unglaublich. Mein Blick fällt auf die Tote. Ich schluchze, verfluche ihn und mich zugleich. Zärtlich umfasst er mein Kinn, wischt die Tränen weg und rollt den Ärmel meines Pullovers hoch. Dann hebt er sein Hemd an, löst die Gürtelschnalle und zieht den Gürtel langsam aus seiner Hose heraus. In seinen Augen sehe ich die kranke Liebe, die er für mich empfindet, und erschrecke darüber, wie sehr mir das gefällt. «Morgen ist ein neuer Tag», sagt er, als er mir den Arm abbindet. «Ein besserer Tag. Bald löst auch der Sommer den Winter ab und dann bist du wieder entspannter. Und dieses Zimmermädchen wird es für dich nie gegeben haben.»

Damit drückt er den Inhalt der Spritze in meine Venen und erlöst mich auf sanfte Weise aus diesem Albtraum, der mein Leben ist.

One thought on “Wintersonate

  1. Hallo Anke,
    Ich bin auf deine Geschichte aufmerksam geworden, da sie scheinbar Dank der hohen Anzahl an hier veröffentlichten Geschichten noch nicht so oft gesehen wurde – und ich bin froh, dass ich sie entdeckt habe, denn sie hat mir wirklich gefallen.
    Zwar gibt es ein paar inhaltliche Dinge, die vielleicht noch etwas Bearbeitung bedürfen. So habe ich relativ zu Beginn bereits geahnt, worauf es hinausläuft. Eventuell könnte an der einen oder anderen Stelle der Spannungsbogen etwas höher gehalten werden, indem manches etwas offener gelassen wird. Auch stellten sich mir beim Lesen ein paar Fragen wie (Achtung: evtl. Spoiler für alle, die es noch nicht gelesen haben): Warum lässt er sie ein Video gucken, in dem sein Name vorkommt? Warum wird sie dadurch nicht stutzig? Was meint sie mit, sie habe ihn dazu gebracht, zu schießen?
    Was mir aber sehr gefallen hat, ist dein Schreibstil. Beschreibungen wie “Ganz leise, wie aus weiter Ferne, klopft eine Erinnerung an. Bevor ich sie hineinlassen kann, ist sie schon wieder weitergezogen.” haben die Geschichte für mich wirklich zum Leben erweckt. Ich würde gern mehr von dir lesen!
    Beste Grüße
    Sandra
    (https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/gefangen-2)

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