KaffeekatzeWir haben immer noch Jena

„Wer auf Rache aus ist, grabe zwei Gräber.“

Konfuzius

Das Ende

Noch viel schmerzhafter als die klaffende Wunde in Constantins Brustkorb war die Erkenntnis seines größten Fehlers, die ihn tief in den Abgrund zog. Er wusste nicht ob es die schwindende Lebensenergie oder der volle Umfang der Schuld war, der seinen Körper bleischwer werden ließ. Mit seinen letzten Atemzügen versuchte er das Puzzle zusammensetzen, doch seine Gedanken konnten die Teile nicht zusammenfügen. Leise, ganze leise hörte er das Summen des Timers.

 

Noch 12 Stunden bis zum Ende

Die Herbstsonne tauchte die Frankfurter Innenstadt in goldenes Licht als Constantin von Haberkamp auf dem Weg in sein Stammcafé war. Von seiner Wohnung aus waren es nur wenige Minuten in die Innenstadt, jedoch war Constantin auch an diesem Tag wieder einmal zu spät.

Nicole, seine Agentin, saß bereits an einem kleinen Zweiertisch und tippte nervös auf ihrem iPhone herum, als er Platz nahm. „Du bist zu spät.“ sagte sie ohne aufzusehen. „Die paar Minuten.“ erwiderte er gut gelaunt. „Constantin, du bist fast eine Stunde zu spät und wir müssen noch über deine Rede für heute Abend reden.“ Constantin schwieg und nun begann auch er auf seinem iPhone herum zu tippen. Er hatte keine Lust zu diskutieren, sein Buch bedurfte keiner langen Vorstellung. Seit seinem Debüterfolg mit Deine Schuld war er der König der Thrillerszene geworden. Mit seinem zweiten Werk Eure Schuld hatte er es sogar geschafft Sebastian Fitzek vom Thron zu stoßen. Sein drittes Buch Meine Schuld, so war sich Constantin sicher, sollte den Erfolg der anderen Bücher sogar noch in den Schatten stellen. Die Lesung heute Abend war für ihn nur ein obligatorischer Punkt auf seiner Erfolgsreise.

Hätten beide in diesem Augenblick nicht so vertieft auf ihre Displays geschaut, dann wäre es unmöglich gewesen, ihn nicht zu bemerken. Den Mann, der Constantin schon so lange verfolgte. Es war ein Fehler gewesen herzukommen, leichtsinnig und dumm, das wusste er. Doch seine Wut war wie ein Gift, das durch seine Adern pulsierte.

Nach heute Abend würde es keinen Weg mehr zurück geben. Aus diesem Grund musste er sich versichern, dass Constantin heute Abend auch wirklich kommen würde. Er war bekannt dafür nicht auf Veranstaltungen zu erscheinen. Seine Managerin verkaufte dies als Ausdruck seines kreativen Seins, doch er wusste es besser. Er war schon immer unzuverlässig und arrogant gewesen, der Erfolg hatte diese Attribute nur verstärkt. Er musterte Nicole für eine Weile, auch sie hatte von seinem Erfolg profitiert. Auch ihr waren alle Mittel recht um die Trilogie noch erfolgreicher zu machen. Deshalb musste auch sie bestraft werden, dafür würde er sorgen. Seine Hand zittere leicht als er die Tasse abstellte, so erregt war er bei dem Gedanken an heute Abend. Er musste sich zügeln, wenn er jetzt dem Drang nachgab, würde er seine eigene Planung zu Nichte machen. Um sich zu beruhigen nahm er ein paar tiefe Atemzüge und tröstete sich mit dem Gedanken an die Rache. Er konnte das süße Gefühl der Vergeltung beinah auf seinen Lippen schmecken. Dann stand er auf und machte sich auf den Weg um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Bei dem Gedanken an die kommenden Stunde spürte er etwas, was er sehr lange nicht mehr gespürt hatte: Freude.

 

Noch 8 Stunden bis zum Ende

Fast ein wenig schwankend lief Constantin die Treppen hinunter. Die Mixtur aus Erfolg und Alkohol vernebelten ihm an diesem Abend einmal wieder die Sinne.

Mit jedem Schluck wurde es leichter. Es war einfacher kurz zu vergessen was er nicht war und aus der Realität auszubrechen. Am liebsten hätte er sich heute in sein Bett verkrochen, wie so oft, wenn die Wahrheit ihn zu erdrücken drohte, doch heute konnte er nicht weglaufen. Also stieg er in das Auto, das bereits auf ihn gewartet hatte. Er nickte dem Fahrer kurz zu und schloss die Augen.

Das Gedankenkarussell begann sich erneut zu drehen, doch es drehte sich viel zu schnell, er verlor die Kontrolle über seine Gedanken. Er wollte aussteigen, doch es gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht bewegen, war an seinen Sitz festgekettet.

„Nervös wegen heute Abend?“ Die Worte waren so leise, dass er sie kaum verstand, doch sie rissen ihn zurück in die Realität. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb. „Ein wenig“ presste er heraus. Sein Kopf dröhnte, seine Zunge war weinschwer. Die Fahrt kam ihm vor wie Stunden. Erleichtert atmete er auf als der Wagen endlich anhielt. Hastig fischte er das Geld aus seiner Tasche und hielt es dem Fahrer hin. „Das reicht nicht.“

Verdutzt starrte Constantin auf den Geldschein in seiner Hand. „Das sind fast 30% Trinkgeld, ich denke das ist mehr als großzügig.“ knurrte er. „Geld ist nicht die Währung, die deine Rechnung begleichen wird.“ Die Stimme des Fahrers war nun kalt und hart. Seine Hände umklammerten so fest das Lenkrad, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Constantin rüttelte am Türgriff, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. „Hast du schon alles vergessen? Hast du mich vergessen? Enttäuschung mischte sich in seine Stimme. Constantin versuchte das Gesicht des Mannes ihm Rückspiegel zu erkennen, doch er hatte sein Gesicht durch eine dunkle Kapuze und Sonnenbrille verdeckt. „Ich will jetzt aussteigen.“ Constantin schrie die Worte in Richtung des Fahrers. Er konnte seine Wut nun nicht mehr zügeln, immer heftiger riss er an der Öffnung der Autotür. „Hör mal zu alter Mann, ich weiß nicht wer du glaubst zu sein oder welche Probleme du hast, es interessiert mich auch nicht.“ „Constantin… ein wirklich schöner Name. Er passt beinahe zu dir.“ sagte der Fahrer nachdenklich, unbeeindruckt von Constantins Aggressionen. „Was reden Sie da?!“ Die Wut kroch heiß wie Lava seinen Hals hoch und er wurde noch wütender. Dann klickte es leise. Constantin riss sofort die Tür auf. „Schuld, die wir zu lange in uns tragen, ist wie ein Tumor. Sie verwächst tief mit unserem Herzen und frisst alles Gute auf. Dann gibt es keine Hoffnung mehr, nur Schuld.“ Es war nur ein Flüstern, doch Constantin verstand jedes Wort. Er erstarrte. „Woher zum Teufel…?“ begann er, doch der Wagen fuhr mit quietschenden Reifen und offener Tür davon.

„Woher kannte er das Zitat aus meinem neuen Buch?“ fragte er sich. Das Surren seines iPhones riss ihn unsanft aus seinen Gedanken. Zitternd entsperrte er sein Display. „Wo steckst du? Ich hatte Dir doch extra einen Chauffeur bestellt!“ Nicoles wütende Stimme dröhnte ihm entgegen. „An wie viele Leute hast du mein Skript noch geschickt?“ Keine Antwort. „An wie viele, verdammt noch mal? Nach allem, was ich für dich getan habe!“ „Wie viel hast du getrunken?“ fragte sie knapp. Er schnaubte. „Also gibst du es zu ja? Wen willst du mit MEINEM Buch erfolgreich machen?“ 

„Menschen ändern sich nicht nicht. Sie entwickeln sich mit den Jahren nur immer deutlicher zu dem, was sie schon immer waren.“ dachte er zufrieden als er Constantins Wutausbruch beobachtete.

Er zog mit einem Finger an seinem Kragen, er fühlte sich zu eng an – im Gegensatz zu Constantin hatte er Hemden nie gemocht. Doch sein Unbehagen war nur ein kleiner Preis, den er gerne zahlte. In seinem durchschnittlichen Anzug würde er zwischen den Gästen auffallen, aber nicht genug um von Constantin oder Nicole gemerkt zu werden. Die beiden gaben sich schon lange nicht mehr mit Leuten ab, die sie für weniger einflussreich als sie selbst hielten. Er nahm einen tiefen Atemzug, die kühle Luft füllte seine Lungen. In ein paar Stunden würde alles vorbei sein, sein Plan war perfekt, nichts und niemand konnten ihn aufhalten.

 

 

Das Ende

Wie er hatte dieses Detail übersehen können? Warum hatte er es nicht vorher kommen sehen? Er presste sich die unverletzte Hand auf seinen Bauch um die Blutung ein wenig zu stoppen. „Menschen tun überraschende Dinge, wenn sie nicht sterben wollen.“ dachte er.

Er hinkte zu Nicole, sie hatte ihre letzten Atemzüge bereits getan. Ihre rehbraunen Augen starrten leer zur Decke, ihr blondes Haar voller Staub und Blut. Mit ihr hatte er kein Mitleid, sie hatte sich ihr Grab selbst geschaufelt, sie hätte nicht sterben müssen. Langsam wich das Adrenalin aus seinem Körper und an seine Stelle traten die Schmerzen. Seine Hand konnte das Blut, welches aus der Wunde quoll, nicht aufhalten. Erschöpft sank er zu Boden. Sehnsüchtig erwartete er das Gefühl der Leichtigkeit. Er hatte sich diesen Augenblick so lange vorgestellt. Doch die Leichtigkeit kam nicht. Da war nur der Schmerz und als er dem Verlangen seines Körpers nachgab endlich seine Augen zu schließen, war da immer noch keine Leichtigkeit.

 

Noch 7 Stunden bis zum Ende

Constantin verbarg seine Hände unter dem Tisch und versuchte seine zittrigen Finger zu beruhigen. Die Fahrt und der Streit mit Nicole hatten seine Nerven mehr strapaziert als er zugeben wollte. Hätte er die Wahl gehabt, wäre er am liebsten aufgesprungen und hätte sich in seiner Wohnung verkrochen, doch das ging nicht. In ein paar Minuten musste er auf die Bühne und sein Buch vorstellen, im besten Falle ohne Zittern. „Ich bin gleich zurück.“ sagte er zu Nicole und stand auf ohne eine Antwort abzuwarten. Er brauchte Ruhe. Constantin öffnete die Tür des Waschraums, niemand war da. Er warf sein Jackett auf ein Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. Eiskaltes Wasser floss über seine Hände und das Zittern hörte langsam auf. Constantin betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Kein breites Grinsen auf seinem Gesicht, kein Strahlen in den Augen. Er starrte sein Spiegelbild an und für einen kurzen Augenblick wollte er darin versinken. Doch nichts passierte als er sich gegen das kalte Glas presste.

Ohne Vorwarnung begann er zu würgen, mit vorgehaltener Hand rannte er zur nächsten Kabine und erbrach sich. Mit weichen Knien sank er neben der Toilette zusammen. Er schloss die Augen und versuchte gegen den Drang zu kämpfen, sich erneut zu übergeben. Seine Gedanken kreisten umher, er war zu müde um sie einzufangen. Er würde diesen Ort nicht verlassen, die Stille hier war fast tröstlich.

Wie lang er neben der Toilette gesessen hatte, konnte er nicht sagen – waren es Stunden oder doch nur Sekunden gewesen? Das leise Knarren der Tür befreite ihn aus seiner Trance. Gleich würden Nicoles Vorwürfe auf ihn einprasseln, er atmete noch einmal tief durch und stand auf. „Es tut mir…“ Constantin brach ab, es war nicht Nicole, die wütend auf ihn wartete. Stattdessen war es eine Botschaft, die ihn empfing.

Du hast dir aus Lügen ein Labyrinth gebaut, doch du hast vergessen, dass du mit deiner Schuld den Minotauros nährst. 

 

Leise wiederholte Constantin den Satz. Er kannte ihn. Er kannte diesen Satz sogar sehr gut. Er stand auf Seite 234 seines unveröffentlichten Romans. Vorsichtig trat er an den Spiegel und berührte die Buchstaben. Die schwarze Farbe verschmierte und hinterließ schwarze Flecken an seinen Fingern. Hastig versuchte er die Farbe an seiner Hose abzuwischen, doch es gelang ihm zur mäßig.„Das ist unmöglich.“ sagte er zu sich selbst. Erst dieser Fahrer und jetzt diese Botschaft am Spiegel. „Was ist unmöglich?“ Constantin drehte langsam seinen Kopf in Richtung Tür und sah Nicole mit zwei Männern im Schlepptau im Türrahmen stehen. Ihre Augen weiteten sich als sie zunächst auf ihn, dann auf beschmutzen Hände sah. „Was zum Teufel hast du hier drin gemacht? So kannst du unmöglich auf die Bühne!“ Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihm fehlte die Kraft für einen erneuten Streit mit ihr. „Ich spreche mit Jakob, ich lass mir etwas einfallen.“ sagte sie und drehte sich ohne ein weiteres Wort um, die Männer folgten ihr.

Dann war es wieder leise. Doch diesmal war die Stille nicht tröstlich, ganz im Gegenteil sie hatte etwas Bedrohliches. Erneut lief ihm ein Schauer über den Rücken. Er musste raus aus diesem Raum, weg von dieser Feier – weg von alldem. Als er fast in Richtung Ausgang rannte, sah er Nicole auf der Bühne stehen, doch er war zu weit weg um ihre Wort zu verstehen, es spielte auch keine Rolle. Wichtig war nur von hier weg zukommen.

Da stand sie nun, ganz allein – ohne ihren Goldjungen. Nicoles Lächeln wirkte aufgesetzt, sie hatte es nicht geschafft ihre Enttäuschung vollkommen abzuschütteln. „Wie einige von euch vielleicht bemerkt haben oder auch nicht…“ Nicole füllte die Pause mit einem nervösen Lachen. „Steht hier nicht Constantin, um sein neues Buch vorstellen. Kurz vor seiner Rede bekam er einen Anruf, leider geht es seiner Mutter sehr schlecht. Aus diesem Grund hat sich Constantin sofort auf den Weg zu ihr gemacht.“ Er biss sich auf die Zunge. „Arme Nicole. Nicht einmal in diesem Punkt war er ehrlich zu dir, sonst hättest du diese Ausrede nicht gewählt. Seiner Mutter geht es bestens. Nun gut, abgesehen davon, dass sie tot ist natürlich. Aber warum sollte Constantin dir auch erzählt haben, dass sie vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam.“ dachte er verbittert. Er hatte sie gemocht. Maria war all das gewesen, was Constantin nicht war. Warmherzig, ehrlich und vor allem loyal. Zum Glück hatte sie nie erfahren, was aus ihrem Sohn geworden ist, das hätte ihr das Herz gebrochen.

Für einen Augenblick ließ er zu, dass die Erinnerung ihn wie einen alten Freund umarmte. Die Küche war erfüllt vom wohligen Geruch nach Marias Apfelkuchen. Obwohl er schon zwei Stücke gegessen hatte, legte sie lachend noch ein drittes seinen Teller. Constantin saß neben ihm und grinste ihn an. „Mama, wenn er noch ein Stück isst, liegt er gleich im Foodkoma und wir können nicht weiterarbeiten.“ scherzte Constantin.

Dann wurden die Bilder immer kleiner und verschwanden letztendlich wieder aus seiner Erinnerung. Da war kein Glück mehr, sondern nur noch Wut. Constantin hatte alles Glück aus seiner Welt ausradiert und dafür würde er bezahlen. Die Botschaft am Spiegel war nur ein kleiner Vorgeschmack gewesen. Den Schlüssel zu seinem Verderben hatte er bereits bei sich. Zu gerne wäre er dabei, wenn Constantin ihn finden wird. Zu gerne würde er die Angst in seinen Augen sehen, aber er musste sich noch gedulden. Zuerst musste er sich um seine kleine Agentin kümmern um Constantin endgültig zu brechen.

Noch 5  Stunden bis zum Ende

Constantin war sofort eingeschlafen als er sich ins Bett gelegt hatte. Er war dankbar für Gedankenunterbrechung gewesen. Doch die Gnade des Schlafes war ihm nur kurz vergönnt.

And I need that fire just to know that I’m awake

Until we go down. Until we go down. Until we go down.

Zunächst dachte Constantin, er würde träumen. Doch die Musik kam nicht aus seinem Kopf, sondern von außerhalb und wurde immer lauter. Sie hämmerte unbarmherzig gegen seinen Kopf. Er tastete nach dem Lichtschalter und suchte schlaftrunken nach der Quelle. Sein Blick glitt von seinem iPhone zu seiner Musikanlage, beide gaben keinen Ton von sich. Langsam stand er auf und folgte der Musik.

„Until we go down. Until we go down. Until we go down. Until we go down.” 

 

Sein Herz klopfte schneller. Weder sein Fernseher, noch ein anderes elektronisches Gerät waren angeschaltet. Inzwischen begann das Lied zum dritten Mal. Constantin sank erschöpft auf sein Sofa und drückte seine Finger an die Schläfen.

Dann spürte er es. Ein sanftes Vibrieren an seinem Rücken. Als hätte ihm die Vibration einen elektrischen Schlag verpasst, dreht er sich ruckartig um. Sein Blick fiel auf sein Jackett. Wie gelähmt betrachtete er das zitternde Kleidungsstück. Vorsichtig hob er sein Jackett an und griff in die Innentasche. Seine Hand ertastete einen kleinen Gegenstand, er zog ihn heraus. Es war ein Smartphone. Auf dem Display lief ein Timer mit 3 Stunden und den Worten Bist du bereit deine Schuld zu begleichen? Der Kloß in Constantins Hals wurde so groß, dass er glaubte zu ersticken. Er atmete immer schneller. Am liebsten hätte er das Smartphone von sich geworfen, aber seine Hände verkrampften und schlossen das Telefon wie einen Schraubstock ein. Das Letzte, was er sah, bevor er bewusstlos wurde, war das Wort Schuld, das sich in seine Augen gebrannt hatte.

 Noch 4 Stunden bis zum Ende

Der Schlafmangel forderte seinen Tribut, doch er musste wach bleiben, die Zeit saß ihm im Nacken. Seine Augen schmerzten und er versuchte mit aller Gewalt seinen Blick auf die Straße zu richten. Wenn er einen Unfall bauen würde, würde würden ihn die Polizeibeamten sicher fragen, warum er eine bewusstlose Frau im Kofferraum mit sich rumfuhr.

Er hatte Nicole unterschätzt. Zu schnell hatte sie begriffen, dass er nicht der bestellte Fahrer gewesen war. Der Schlag mit ihrer Faust und dem Schlüsselbund hatte ihn für einen kurzen Augenblick außer Gefecht gesetzt. Doch er war schneller und stärker als sie gewesen. Kurz hatte er überlegt sie direkt zu töten, um sich Arbeit zu ersparen, aber Constantin mochte sie. Er wollte ihn vollkommen brechen, also musste sie vor desen Augen sterben.

Er betrachtete sein Gesicht im Rückspiegel. Seine Stirn war blutverklebt und seine Augen gerötet, doch er würde nicht auffallen. Das Gute an Frankfurt war, dass die meisten Leute hier schon alles gesehen hatten. Sie würden ihn für einen Junkie mit seiner zugedröhnten Freundin halten, im Bahnhofsviertel wunderte man sich über nichts mehr.

Noch 2  Stunden bis zum Ende

Als Constantin wieder zu sich kam hielt er die Augen fest geschlossen. Die Dunkelheit war das Einzige, was ihn von der Realität trennte. Es könnte alles ein Alptraum gewesen sein und er jetzt die Augen öffnete, dann würde er in seinem Bett liegen. Ohne zweites Smartphone. Er wollte seine Augen nicht öffnen, er wollte nur daliegen und alles vergessen, doch Stück für Stück drängten sich die Erinnerungen an den gestrigen Abend in sein Bewusstsein.

Langsam öffnete er die Augen. Das Sonnenlicht offenbarte unbarmherzig die Szenerie der letzten Nacht. Constantin lag auf dem Boden seines Wohnzimmers, mit dem Kopf auf seinem Jackett. Und direkt neben ihm lag die Quelle seiner Angst. Sofort kam das Zittern zurück, dicht gefolgt von der Übelkeit. Er erbrach sich auf sein Jackett. Rote Schlieren hingen an seinen Mundwinkeln, hastig wischte er sie an seinem Arm ab.

Zunächst war das Display schwarz, doch mit einem Tipp seines Zeigefingers, erwachte es zum Leben. Schuld. Dieses Wort stand in großen Lettern auf dem Display. Doch das war es nicht, was ihn so sehr beunruhigte, es war der Timer, der 2 Stunden anzeigte. Constantin suchte im Menü nach einer Uhr oder einer TimerApp, doch er fand nichts um den Countdown zu beenden. Auf dem Display befanden sich nur zwei Apps: Fotos und Nachrichten. Er schloss die Augen und öffnete die erste App. Er hatte viel erwartet, was er auf dem Display sehen könnte, doch seine Vorstellungskraft hatte ihn nicht auf die Fotos vorbereiten können, die er jetzt sah: sich selbst. Doch es waren keine Bilder, die auf Presseterminen und TV-Auftritten entstanden waren, es waren Bilder, die ihn in privaten Augenblicken zeigten. Nachts allein in seiner Wohnung vor dem Computer, beim Joggen im Park oder beim Einkaufen im Supermarkt. Es waren hunderte von Bildern. Wer auch immer diese Fotos gemacht hatte, kannte seine Gewohnheiten inzwischen genauso gut wie er selbst, wenn nicht sogar besser. Bei der Hälfte der Bilder schien es ihm unmöglich, dass man ihn hätte fotografieren können, ohne dass er dies bemerkt hätte. Es sei denn, es war jemand aus seinem engsten Kreis, jemand, dem er vertraute. Constantin scrollte immer weiter und kam schließlich zum letzten Bild in der Galerie. Doch es war kein Bild, es war ein Textbild. Bist Du bereit wie Elias zu handeln?

Sein Mund wurde trocken. Die Erkenntnis fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Constantin zog sich schwerfällig mit einem Arm an seiner Couch hoch und legte sein Gesicht in seine Hände. „Sie kann mich nicht so sehr hassen. Dazu ist sie nicht fähig. Doch wie gut kenne ich Nicole überhaupt? Ich habe ihr meine Karriere anvertraut, ohne sie zu kennen.“ sagte er leise zu sich selbst. Kein anderer Mensch außer Nicole und ihm kannte den Namen des Protagonisten seines neuen Romans, nicht einmal sein Lektor, dafür hatte er gesorgt. Doch er konnte sich nicht vorstellen, warum sie ihn so quälen wollte, das passte nicht zu ihr. Er würde jetzt direkt zu ihr fahren um sie zur Rede stellen. Die letzten Stunden waren eine Tortur gewesen, jede Faser seines Körpers sehnte sich nach Ruhe. Nach dem Gespräch mit Nicole würde er zum Flughafen fahren und den ersten Flieger nach Italien nehmen. Er lächelte bei dem Gedanken an Wein und die Wärme der Sonne auf seiner Haut. „In ein paar Stunden ist alles vorbei.“ dachte er, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde, dass er aus dieser Tür ging.

Er versuchte die Schreie zu ignorieren, irgendwann musste sie sich doch heiser geschrien haben, sie schrie jetzt schon seit fast einer Stunde. Langsam stand er von der kaputten Couch auf und ging in Richtung Bad. „Bitte lassen Sie mich gehen.“ Nicole schaute ihn aus ihren geröteten Augen an. Ihre Kleidung war vollkommen verdreckt, ihr Haar zerzaust. Er empfand eine Spur Mitleid für sie. „Bald. Wir müssen noch auf jemanden warten.“ erwiderte er knapp. „Wenn Sie mich wieder allein lassen, schreie ich solange weiter, bis mich jemand hört.“ Er zog das Messer aus seiner Hosentasche und drückte das kalte Metall an ihre Wange, Nicoles Augen weiteten sich. „Dann schneide ich Dir deine Zunge raus. Entscheide selbst.“ Dann war es still. Sie würde nicht mehr schreien, das wusste er. Er ging zurück zur Couch und legte sich hin. Kurz erlaubte er sich die Augen zu schließen. In ein paar Stunden war er frei.

Noch 1,5 Stunden bis zum Ende

Constantin rieb seine geröteten Handknöchel. Mehrere Minuten hatte er an Nicoles Tür gehämmert, doch sie hatte ihm nicht geöffnet. Auch auf seine Anrufe hatte sie nicht reagiert. Er schlug noch ein letztes Mal die Faust gegen ihre Tür bevor er sich auf dem Absatz umdrehte. Es knackte hässlich unter seinen Schuhen und Constantin verharrte in seiner Bewegung. Vorsichtig hoch er seinen linken Fuß um die Ursache des Geräuschs zu finden. Doch er sah nichts, unter ihm war nur die schwarze Fußmatte, sonst nichts. Kurz war sich nicht sicher ob er sich das Geräusch nur eingebildet hatte. Ein paar Sekunden starrte er gedankenverloren den Boden und fast intuitiv hob er die Matte ein paar Zentimeter vom Boden. Inmitten von kleinen Scherben lag ein winziger Lavendelstrauch. Tief in ihm regte sich etwas, er kannte den Geruch und die Szenerie kam ihm so vertraut vor, doch sein Unterbewusstsein erlaubte ihm nicht die Erinnerung zu durchleben. Der Geruch, der Ort – das alles war ihm vertraut, doch je stärker er versuchte sich zu erinnern, desto mehr entglitt ihm das Gefühl. Das alles ergab für ihn keinen Sinn. Nicole, die Nachrichten, die letzte Nacht – er konnte sich keinen Reim darauf machen. Gerade als er beschlossen hatte zurück in seine Wohnung zu fahren, vibrierte es in seiner Hosentasche.

Eigentlich hatte er es gar nicht mitnehmen wollen, eigentlich hatte er es nach dieser Nacht in die nächste Mülltonne werfen wollen. Doch das hatte er nicht getan. Die Neugier war größer als die Angst gewesen, also hatte Constantin das Telefon eingesteckt.

Ben oder Elias? Wer willst du heute sein?

Schon wieder eine Verbindung zu seinem neuen Buch. Constantin lachte, als er die Nachricht auf dem Display las. Es war ein kurzes, nervöses Lachen. „Spielt das überhaupt eine Rolle?“ antwortete er. Erneut vibrierte das Telefon in seiner Hand. Die Antwort war nur ein Satz. Und dann wusste er es. Nochmals lachte er, doch diesmal war es ein freudloses lachen. Es hatte keine Rolle gespielt, für wen der beiden er sich entschieden hatte. Elias und Ben hatte eins gemeinsam, sie waren beide tot.

Noch 40 Minuten bis zum Ende

Wir haben immer noch Jena.

Constantin hatte diesen Satz seit Ewigkeiten nicht mehr gelesen, geschweige denn gehört. Es war ihm vorgekommen, als stammte er aus einer anderen Zeit. Und in gewisser Weise stimmte dies auch.

Constantin klopfte.. Daniel hatte ihm nach seiner Antwort die Adresse gesendet. Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür. Daniels blaue Augen durchbohrten ihn. Obwohl ihm das Gesicht so vertraut war, war es nicht mehr der Mensch, der vor ihm stand. Da war keine Freundlichkeit mehr in Daniels Gesicht, sondern nur noch blanker Hass. Constantin fröstelte. Die Jahre hatten ihn verändert. In jener Nacht hatte er nicht nur den Laptop, sondern viel mehr aus Daniels Leben gestohlen.

„Hallo Tom.“ Mit diesen Worten bedeutete Daniel ihm einzutreten. „Also, Elias oder Ben?“ es lag ein Lächeln auf Daniels Lippen als er die Frage stellte, doch es erreichte seine Augen nicht. „Daniel, ich…“ begann er, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er sich im Raum umsah. Nicole saß gefesselt am Ende des Raums. Daniel folgte seinem Blick. „Du hast noch nie eine gute Menschenkenntnis besessen, Constantin. Ich wusste, du würdest deine kleine Managerin verdächtigen, deswegen habe ich auch den Lavendel unter ihre Fußmatte gelegt.“ Nicoles Augen weiteten sich bei seinen Worten. Abwechselnd schaute sie Daniel, dann Constantin an. Verzweifelt versuchte sie ihre Fesseln zu lösen, doch der Kabelbinder schnitt ihr nur noch tiefer ins Fleisch. Constantin stand wie gelähmt da. Sein Kopf brummte und er hatte das Gefühl jeden Augenblick umzukippen. Daniel sagte immer noch nichts, er starrte ihn nur an. Als Constantin immer noch keine Anstalten machte, etwas zu tun, ging Daniel mit schnellen Schritten auf Nicole zu. „Tom mag Menschen nicht einschätzen können, aber du kannst es. Also warum zum Teufel hast du so getan als würdest du ihm die Autorennummer abkaufen?“ Nicole wimmerte. „Wieso nennt er Dich Tom, Constantin?“ fragte sie verständnislos. Daniel lachte kalt.  „Euer Erfolg basiert auf einer Lüge. Tom hatte nie die Idee zum Bestseller und das wusstest du.“ Daniel wartete nicht auf ihre Antwort, sondern zerrte sie unsanft auf ihre Füße. Zu Nicoles Überraschung löste er ihre Fesseln. „Du kannst heute einen Teil deiner Schuld begleichen indem du den Menschen bestrafst, der nicht nur dich, sondern uns alle ins Verderben gerissen hat. Er hat dir nicht einmal seinen richtigen Namen verraten, oder?“ sagte Daniel. „Wer bist du?“ presste sie hervor und schaute zu Constantin direkt an. „Eine sehr gute Frage, Nicole. Also, erzähl uns, wer du bist. Je länger du redest, desto länger bleibst du am Leben.“ ergänzte Daniel. Er wusste nicht, was schlimmer war: Nicoles Fassungslosigkeit oder der Hass, der von Daniel ausging. „Constantin Haberkamp ist nicht mein richtiger Name…sondern Tom Müller.“ stotterte Tom. Auf einmal fühlte er sich nackt und verwundbar. Seinen richtigen Namen zu nennen bedeutete sich nicht mehr hinter dem erfolgreichen Autor Constantin verstecken zu kennen. „Aber wieso? Constantin .. oder Tom.. oder wer auch immer du bist. Ich verstehe das alles nicht.“ Nun mischte sich auch Enttäuschung in Nicoles Stimme. „Weil er gehofft hatte, ich würde ihn unter falschem Namen nicht finden. Was auch funktioniert hätte, wenn du nicht so oft im Blitzlichtgewitter gesonnt hättest.“ antwortete Daniel für ihn„Aber..“ begann Nicole, doch Daniel hob eine Hand um sie zum Schweigen zu bringen. Ohne ein weiteres Wort drückte er seine Waffe in Nicoles Hände. Sie schluckte

Daniel lachte kalt und schüttelte den Kopf. „Du hast eine Minute Zeit dich zu entscheiden.“ Einen Augenblick lang starrte Nicole zu Boden. Tom konnte nicht sagen ob sie nachdachte oder sich in einer Schockstarre befand. Dann hob sie ganz langsam ihre Hände, fast automatisch richtete sie mit zitternden Armen die Waffe auf seine Brust. Eine Träne lief ihre rechte Wange hinunter und hinterließ eine feine schwarze Linie auf ihrem Gesicht. „Es tut mir Leid.“ Ihre Stimme brach. Tom nahm einen tiefen Atemzug und schloss seine Augen. „Das ist das wohl das Ende.“ flüsterte er zu sich selbst. Bevor er hierhergekommen war, hatte er überlegt die Polizei zu alarmieren oder wegzulaufen – doch er hatte sich dagegen entschieden. Er hatte Daniel leiden lassen, wissentlich und doch war er all die Jahre vor seiner Schuld davon gelaufen. Er wollte nicht mehr wegrennen, er wollte sich seiner Schuld stellen. Er war bereit zu sterben.

Klick. Nichts passierte. Klick. Klick. Tom öffnete langsam seine Augen und sah in Nicoles schockiertes Gesicht. Statt auf ihn war die Waffe nun auf Daniel gerichtet. Immer wieder zog sie hektisch am Abzug. „Schade, du hattest wirklich eine Chance.“ sagte Daniel kalt. Ohne Vorwarnung schlug er ihr mit voller Kraft ins Gesicht. Tom wollte zu ihr rennen, doch nun war es Daniel, der mit einer anderen Waffe auf ihn zielte. „Ich bin beeindruckt, Tomilein. Du bedeutest ihr wirklich etwas. Kannst du ihre Gefühle erwidern?“ Tom starrte zu Nicole, die zu Boden zusammengesunken war. Blut floss zwischen ihren Fingern hindurch, sie weinte leise. Tom fühlte sich so hilflos und unendlich müde.

„Du hast nicht einmal die Kraft gehabt dich zu retten, wie willst du dann sie retten? Du kannst niemanden retten, du kannst nur zerstören.“ Da war keine Kälte mehr in Daniels Stimme, sondern Schmerz. Glühender Schmerz in jedem Wort. Die Zeit hatte seine Wunden nicht geheilt, sie hatte alles nur schlimmer gemacht. „Es ist meine Schuld. Nicht ihre.“ Daniel erwiderte sein Flehen nur mit Kopfschütteln. „Es war meine Geschichte! Ohne mich hättest du nicht einmal das erste Semester in Jena geschafft! Ohne meinen Vater hättest dir nicht mal das Zimmer leisten können!“ Die Wahrheit traf ihn so schmerzhaft, als hätte Daniel auch ihn ins Gesicht geschlagen. „Dein Vater…er war der Fahrer.“ stellte Tom langsam fest. „Auch ihn hast du schnell vergessen, genauso wie mich. Du hast alles von mir bekommen und im Gegenzug hast du mir alles genommen. Unsere Geschichte war das einzig Gute in meinem Leben.“ Nun liefen auch Daniel Tränen die Wangen hinunter. „Es tut mir Leid, Daniel. Ich..“ begann Tom, doch Daniel unterbrach ihn. „Es tut dir leid?! Während du ein gefeierter Autor wurdest, musste mein Vater in Doppelschichten arbeiten um irgendwie meine Therapiestunden zu bezahlen. Weißt du wie es war, als ich aufwachte und du warst mit dem Laptop weg? Ich war ein Wrack!“ Tom fühlte sich als hätte jemand Blei in seine Lunge gegossen, seine Brust fühlte sich so schwer an, er konnte kaum atmen. „Noch nicht einmal jetzt findest du die richtigen Worte. Ich hätte nicht gedacht, dass du mich noch mehr enttäuschen kannst. Aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.“ Daniel wischte sich mit dem linken Ärmel seine triefende Nase und drehte sich zu Nicole. Doch sie saß nicht mehr hinter ihm.

Daniel war so sehr auf Tom fixiert gewesen, dass er nicht bemerkt hatte wie Nicole sich das Messer, welches er hatte liegen lassen, genommen hatte. Nicole stürzte sich auf ihn. Daniel reagierte gerade noch rechtzeitig und hielt sich schützend eine Hand vor sein Gesicht. Das Messer schnitt tief in seine Hand, schmerzerfüllt schrie er auf. Er versuchte Nicole von sich zu drücken, doch sie war auf einmal unerwartet stark. Sie hob erneut das Messer und diesmal traf sie seinen Bauch. Der Schmerz vernebelte ihm die Sinne, hektisch suchte er nach der Waffe. Er spürte wie Tom versuchte ihn von hinten wegzuzerren. Gerade als er befürchtete beide würden ihn überwältigen, fanden seine Finger die Waffe. Er wollte ihr eigentlich direkt den Kopf schießen, aber Tom zog ihn dieser Sekunde ruckartig nachhinten, sodass er Nicole unweit ihres Halses traf. Erneut brach sie zusammen.

„Nein!“ Sofort ließ Tom von Daniel ab und rannte zu Nicole. Blut floß unkontrolliert aus ihrer Wunde, Tom presste seine Hände auf die Wunde. Nicoles Brustkorb hob sich noch ein paar Mal, ihre Augen flatterten. Stille.

Tom legte seinen Kopf auf ihre blutverschmierte Brust. „Das hast du nicht verdient.“ flüsterte er ihr zu.

Die Trauer war so überwältigend, dass die Schuld für einen kurzen Augenblick seine Gedanken überdeckte. Ein letztes Mal drückte er sich an Nicole und küsste sie sanft auf die Stirn. „Wenn man im Labyrinth der Schuld keinen Ausweg findet, dann gibt es nur eine Möglichkeit um frei zu sein: Man muss sich dem Minotaurus opfern.“ zitierte Tom aus seinem Roman. Daniel hatte ihm die Wahl gelassen. Elias, der in seinem Roman starb um alle zu retten oder Ben, der starb, weil er versucht hatte, nur sich zu retten. Er sank auf die Knie und hob seine Hände über den Kopf.

„Elias.“ 

Dann schoss Daniel.

Das Ende

Das Piepen des Timers dröhnte in Toms Ohren. Der Schmerz in seiner Brust schien inzwischen im Takt des Wecktons zu pulsieren und doch lächelte Tom. Mit dem Ablaufen des Timers endete der Alptraum. Und sein Leben.

Das Alles hatte für ihn keinen Sinn ergeben – bis jetzt.

Zwar war das all hier Daniels Werk, doch er hatte den Samen gesät. Vor drei Jahren, als ich mit Daniels Laptop verschwunden war. Die Schuld klebte an seinen Händen, genau wie das Blut. Daniel hatte ihn bedingungslos geliebt, ihn vergöttert. Doch er konnte diese Liebe nicht verstehen, nicht erwidern können. Alles was er gesehen hatte, war die Erfolgsgeschichte. Um sich von Daniel zu lösen hatte er eine neue Identität angenommen. Doch er hatte die Person Constantin Haberkamp nie richtig ausleben können, es hatte ihn erdrückt. Als Daniel ihn nach so langer Zeit wieder mit seinem richtigen Namen angesprochen hatte, war dies wie ein Befreiungsschlag gewesen. Nicht er war Elias, sondern Daniel hatte sie beide auf seine paradoxe Art und Weise gerettet.

Alles um ihn herum war schwarz, die Dunkelheit war allgegenwärtig – da war nichts mehr außer allumfassender Schwärze, nicht einmal mehr die Schuld. Eine Hand griff nach seiner und er umschloss sie, ganz sanft. Daniel und er würden hier zusammen sterben. Und jetzt ergab alles einen Sinn. Er selbst hatte sein Schicksal besiegelt, als er der Triologie den treffenden Namen Schuld gab. Daniel hatte die Geschichte unter dem Titel Labyrinth veröffentlichen wollen. „Doch im Grunde beschreibt beides dasselbe. Schuld wird zum Labyrinth, wenn sie wächst wie die Hecken eines Labyrinths.“ dachte Tom als er noch einmal die Hand von Daniel drückte. „Wir haben immer noch Jena.“ krächzte Daniel ein letztes Mal.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit war da keine Schuld mehr.

One thought on “Wir haben immer noch Jena

  1. Du hast dir ein tolles Oberthema ausgesucht und super umgesetzt! Deine Einleitung mit dem Ende hat mich neugierig gemacht, genau so muss es sein. Mir gefällt auch dein Schreibstil, ich war richtig gebannt beim Lesen. Top Geschichte!

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