AngelaDu musst es wieder tun

Sie verabschiedet sich von ihren Kolleginnen und macht sich auf den Weg zu ihrem Fahrrad, welches sie gleich hinter der Kindertagesstätte abgestellt hat. Sie grüßt noch die ältere Nachbarin, welche wie jeden Tag auf einem Klappstuhl vor ihrem Haus sitzt. Wie jeden Tag grüßt diese natürlich nicht zurück. „Unfreundliche Kuh“ denkt Ingrid, will gerade auf ihr Fahrrad aufsteigen, als sie etwas entdeckt. Moment mal. Was ist das auf dem Gepäckträger? War das vorher schon da? Sie denkt nach. Als sie heute morgen losgefahren ist, war da mit Sicherheit nichts. Vielleicht hat eines der Kinder ihr etwas ans Rad geklemmt. Vorsichtig löst sie das kleine Päckchen aus der Halterung. Kein Name, keine Zeichnung, einfach ein brauner Umschlag. „Vielleicht war es auch Aline“, überlegt sie kurz. Die beiden Kolleginnen verstecken sich in letzter Zeit gegenseitig kleine Süßigkeiten, um den ganzen Stress der letzten Tage zu überstehen. Voller Vorfreude öffnet sie den Umschlag und versteht erstmal nicht so ganz, was sie da in den Händen hält. Ein kleines schwarzes Smartphone, gängige Marke, jeder Zweite besitzt ein Solches. Aber was hat das zu bedeuten, wieso sollte jemand ein Smartphone auf ihrem Gepäckträger verstauen? In einem Umschlag! Der Hinterhof der Kita ist eigentlich nicht zugängig für jeden. Die meisten wissen nicht einmal, dass es ihn gibt. Sie will das Handy gerade in ihre Tasche stecken und nach Hause fahren, als sie bemerkt, dass das Gerät eingeschaltet ist. Was sie darauf sieht, verwirrt sie für einen Moment: „Das kann nicht sein.“ Sie schaut sich um, ob irgendjemand sie beobachtet. Außer der unfreundlichen Nachbarin ist niemand zu sehen. Wahrscheinlich gibt es eine einfache Erklärung dafür. „Wenn ich zu Hause bin werde ich mir eine Tasse Tee kochen, mich aufs Sofa setzen und mir das ganze nochmal anschauen.“

Wie eine Bombe, die jede Sekunde explodieren könnte, liegt Ingrids Tasche vor ihr auf dem Tisch. Noch hat sie sich nicht getraut sie zu öffnen. Sie klammert sich an ihren Tee und schickt Gebete zu Gott, dass alles nur ein schlechter Traum ist. „Ich weiß, ich bete nie zu dir und dann auch immer nur, wenn es mir schlecht geht oder irgendein Unheil bevorsteht. Wahrscheinlich habe ich es nicht einmal verdient Wünsche an dich zu richten. Nein, es steht mir nicht zu, das weiß ich. Bitte lieber Gott, lass das Ganze nur ein Irrtum sein.“ Ingrid atmet einmal tief durch, nimmt die Tasche vom Tisch und öffnet sie. Sie nimmt das Handy in die Hand. Es ist ganz leicht, seine Oberfläche ist schwarz und glatt. Sie drückt eine Taste. Der Bildschirm schaltet sich ein. Der Hintergrund zeigt eine Frau, die mit ihrem Fahrrad an einer roten Ampel wartet. Zuerst wird ihr heiß, dann kalt und ein eisiger Schauer läuft ihr über den Rücken. „Das bin ich!“ platzt es aus ihr heraus. Im ersten Impuls springt sie auf und schiebt das Handy ganz weit nach hinten in ihr Bücherregal, hinter ihren liebsten Fitzek. Während sie wieder und wieder durch die Wohnung läuft und an ihren Fingernägeln knabbert, fragt sie sich, wie dieses Foto auf das Handy kommt und vor allem, warum es auf ihrem Gepäckträger lag. Vorsichtig, als könnte das Smartphone jeden Moment explodieren oder giftige Gase ausspucken, schleicht sie zum Regal, schiebt die Bücher beiseite und nimmt es wieder hervor. Minutenlang schaut sie sich das Bild an. Erst jetzt kommt sie auf die Idee auszuprobieren, ob sich das Handy entsperren lässt. Bisher war sie viel zu aufgeregt dafür. PIN eingeben erscheint sofort. Sechs weiße Kreise und ein Zahlenfeld. Das könnte alles sein. Vielleicht wollte jemand, dass sie das Handy findet und entsperren kann. 1 2 3 4 5 6. PIN ungültig. „Mist. Wie war das noch, wie oft darf man einen PIN falsch eingeben? Gibt es überhaupt noch eine Begrenzung, bevor man diesen ewig langen PUK eingeben muss?“ Das möchte sie heute lieber nicht mehr raus finden.

Natürlich hat Ingrid letzte Nacht kein Auge zugetan. Sie ist ein Mensch, welcher immer über alles nachdenkt. Gibt es gerade nichts, über das sie grübeln kann, meldet ihr Gehirn sich mit einer Erinnerung von früher und flüstert ihr diese leise ins Ohr, damit sie ihr Verhalten von damals nochmal reflektieren kann.

Selbst der dritte Kaffee bringt nichts. Ingrid fühlt sich wie durch den Wolf gedreht. Auch die Kolleginnen bemerken das und schicken sie zwei Stunden eher nach Hause. Vielleicht kann sie noch etwas schlafen. Mittlerweile ist sie so müde, dass sie fast die Balance auf ihrem Rad verliert während sie wartet, dass die Ampel grün wird. Als sie die Haustür öffnet ist sie in Gedanken schon in ihrem Bett, sie fühlt die Bettdecke schon förmlich unter ihren Fingerspitzen. Doch als sie in die Wohnung kommt stolpert sie fast und kann sich gerade noch an der Wand abstützen, um nicht auf die Nase zu fallen. „Bett, ich muss dringend ins Bett!“ Sie möchte die Tür schließen, aber da liegt schon wieder ein Umschlag. Vorsichtig geht sie darauf zu. Sie streckt den Kopf aus der Tür und schaut sich im Hausflur um. Niemand zu sehen. Kein Geräusch zu hören, nur der Nachbar von ganz oben hört schon wieder diesen schrecklichen Elektro-Krach. Ihre Wangen sind ganz heiß, ihre Hände eiskalt, sie hört wie ihr Herz schlägt. So laut und so fest, dass es fast in der Brust weh tut. Ihre Knie zittern. So schnell sie kann hebt sie den Umschlag auf, knallt die Eingangstür zu und drückt ihn an die Brust. Sie zieht die Schuhe aus und setzt sich auf ihr Bett. Wieder kein Name. Keine Zeichnung. Nichts. Ein kleiner Zettel befindet sich darin. 2 8 0 4 1 7. Sechs Zahlen. Sie muss nicht lange überlegen, was dies zu bedeuten hat. Sie geht zu ihrem Bücherregal, wo sie das Smartphone gestern Abend versteckt hat und nimmt es in die Hand. 280417. Das Handy entsperrt sich. Welche Applikation soll sie zuerst öffnen? Viel Auswahl gibt es nicht. Es gibt nur vier Icons auf der Startbildfläche. Galerie, Nachrichten, Kontakte und einen Internetbrowser. Zaghaft berührt sie das Symbol für Nachrichten. Keine Nachrichten. Es gibt auch keine eingespeicherten Kontakte. Ihr Herz macht einen Satz, als sie die Fotogalerie öffnet. Hier gibt es mehrere Ordner. Jedoch wird ihr sehr schnell bewusst, dass alle Fotos das gleiche Motiv haben, nämlich sie selbst. Sie sieht sich auf dem Fahrrad, beim Einkaufen, mit einem Handtuch auf dem Kopf an ihrem Fenster stehend, auf dem Weg zur Arbeit, beim Spaziergang im Park. Irgendjemand hat sie beobachtet. Und tut dies vielleicht immer noch. Gerade jetzt. Schnell steht sie auf und lässt alle Rollläden runter. Nun sitzt sie auf dem Boden, inmitten ihrer dunklen Wohnung mit einem fremden Handy vor sich, auf dem sich hunderte Bilder von ihr selbst befinden. Und sie hat absolut keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Und vor allem, was sie jetzt tun soll. „Soll ich zur Polizei zu gehen? Aber was sag ich dort? Hallo, ich habe ein Handy auf meinem Gepäckträger gefunden, auf dem Fotos von mir sind. Ach ja und den PIN hat mir jemand durch den Türschlitz geschoben.“ Plötzlich wird der Bildschirm hell und das Gerät zeigt den Eingang einer Nachricht an. >>DU MUSST ES WIEDER TUN!<< Nun ist Ingrid noch verwirrter „Ich muss es wieder tun?“ Schnell nimmt sie das Handy in die Hand und schreibt „Was soll ich wieder tun?“ Sie wartet. 5 Minuten. Keine Antwort. Das ist doch zum verrückt werden. 10 Minuten. Keine Antwort. Langsam wird sie immer angespannter. Das Atmen fällt ihr schwerer. 15 Minuten. Keine Antwort. Schon vor Jahren hat sie das Rauchen aufgegeben, aber in der Küchenschublade hinter dem Besteckkasten liegt noch eine angebrochene Packung, gerade versucht sie diese raus zu fischen, als vom Esstisch ein Brummen ertönt. >>ICH WEIß WAS DU GETAN HAST! DU MUSST ES WIEDER TUN!<< Noch bevor Ingrid antworten kann, kommt bereits die nächste Nachricht >>PAPPEL ALLEE 8, RIEGELSBERG<< „Was hat das nun wieder zu bedeuten?“ Weit weg ist es ja nicht. So ungefähr weiß Ingrid, wo sich die Pappel Allee befindet. Schnell zieht sie ihre Schuhe an und macht sich auf den Weg. Sie hat das Gefühl, als sei das Thermometer in den letzten drei Stunden um 10 Grad nach unten gefallen. Eiskalt umhüllt sie der Wind. In der Straße angekommen steigt sie von ihrem Fahrrad ab und schiebt es langsam neben sich her. Sie sieht das Haus bereits von Weitem. Es ist ein Mehrfamilienhaus. Groß und weiß. Das Dach ist relativ flach. Zu allen Seiten erkennt man Balkone. Einige sind bereits hübsch dekoriert und die ersten Blümchen blühen in den Balkonkästen. Andere sind leer oder zugestellt mit altem Gerümpel. Aber wie soll dieses Haus ihr einen Hinweis geben? Was soll sie wieder tun? Sie stellt ihr Fahrrad an einem alten Gartenzaun ab, welcher zu einem düsteren Grundstück führt. Langsam schaut sie um die Ecke, doch außer Wiese und ein paar alter Rutschautos kann sie nichts sehen. Diese verlassenen Fahrzeuge machen nicht gerade einen einladenden Eindruck. Sie beschließt sich die Namen der Klingel anzuschauen. Wirklich bekannt kommt ihr keiner vor. Und jetzt? Genauso schlau wie vorher macht sie sich auf den Weg zurück zu ihrem Fahrrad. Sie traut ihren Augen kaum. Das kann nicht wahr sein. Schon wieder ein Umschlag auf ihrem Gepäckträger. Wer auch immer ihn deponiert hat, muss noch in der Nähe sein. Sehen tut sie natürlich niemanden. Sie entscheidet sich erst ein paar Straßen weiter zu fahren und dort den Umschlag zu öffnen.

UNFALL IN SAARBRÜCKEN: RADFAHRERIN FLÜCHTET; OHNE SICH UM VERLETZTES KIND ZU KÜMMERN!

Saarbrücken: Am Mittwochnachmittag ist eine Radfahrerin mit einem Kinderwagen zusammengestoßen. Nach ersten Ermittlungen war die Mutter des Kindes in der Küfergasse unterwegs. An einem Zebrastreifen kam es zum Zusammenstoß. Der Kinderwagen wurde auf die Straße geschleudert und das Neugeborene flog mehrere Meter über den Asphalt. Die Radfahrerin kam kurz ins straucheln und verließ den Unfallort, ohne anzuhalten. Wenige Stunden nach dem Unfall erlag das zwei Monate alte Kind, am 28.04.17 seinen Verletzungen. Die Polizei in Saarbrücken hat die Ermittlungen aufgenommen und fahndet nach der Frau.

Sie wusste nicht, dass das Kind gestorben ist. Drei Jahre ist es her. Ihr war nicht einmal bewusst, dass sie den Wagen so ins Schleudern gebracht hatte. Es war ein regnerischer Tag. Die Straßen waren nass, sie hatte einen Sekt, dabei verträgt sie überhaupt nichts. Eigentlich ist ihr bewusst, dass sie niemals hätte auf das Fahrrad steigen dürfen. Vielleicht waren es auch zwei Gläser Sekt. Doch sie hatte es getan. Und nun ist das Kind tot. Sie wusste es nicht. Sie wollte es nicht wissen. Sie hatte so große Angst vor der Wahrheit. Doch irgendjemand anderes kannte die Wahrheit.

Ingrid liebt ihren Job. Sie lebt für ihren Job. Sie ist wahnsinnig beliebt bei den Kindern, stets freundlich und hilfsbereit. Jeden Morgen kommt sie mit einem Lächeln in die Kita, egal wie stark ihre Kopfschmerzen sind oder wie viel sie in der letzten Nacht geweint hat. Sobald sie in die Augen der Kinder schaut, sind alle Sorgen vergessen. Privat hat sie kaum Kontakte, sie meidet Menschenmassen und ist auch zu den Nachbarn immer freundlich, jedoch sehr distanziert. Hat sie sich in ihrer Vergangenheit auf Menschen eingelassen, sie in ihr Herz geschlossen oder sich geöffnet, wurde sie ausgenutzt und verletzt. Ihre riesige Empathie ist einerseits ein Geschenk, andererseits ein Fluch. Deshalb kann sie ihre Freunde an einer Hand abzählen. Da ist nur Christina. Die beiden gehen zusammen zum Sport, ab und zu mal etwas gemeinsam trinken. Unterhalten sich über Männer. Am Ende blieb Ingrid aber doch immer alleine. Der Richtige war bisher einfach noch nicht dabei. Entweder entpuppen sie sich als manipulierende, selbstverliebte Arschgeigen oder tragen heimlich Frauenkleider und lieben es sich einzuurinieren. Alles schon erlebt. Leider kein schlechter Traum. Eine Mutter hat sie schon lange nicht mehr. Ihr Vater ist irgendwann zu Hause ausgezogen. Kurz darauf wurde Ingrid achtzehn Jahre alt und hat sich ebenfalls eine eigene Wohnung gesucht. Beim Umzug hat ihr Vater ihr noch geholfen, danach hat er sich scheinbar gedacht, erwachsene Kinder brauchen keinen Vater mehr. Alle paar Jahre, wenn er sturz betrunken ist, schreibt er ihr herzzerreißende Nachrichten auf Facebook. Wie sehr er sie doch vermisst und darunter leidet, dass sie keinen Kontakt haben. Schön, dass ihm nach über 15 Jahren einfällt, dass er auch noch eine Tochter hat.
Also was wäre, wenn rauskäme, dass Sie ein Kind getötet hat? Sie sieht schon die Schlagzeile vor sich >>POLIZEI DECKT AUF: ERZIEHERIN TÖTET KIND MIT UNFALLFLUCHT<< Sie würde ihren Job verlieren. Alles was sie hat und glücklich macht. Sie dürfte nie wieder in ihrer Position arbeiten. Was erwartet der anonyme Schreiber von ihr. >> DU MUSST ES WIEDER TUN!<< Erwartet er etwa, dass sie nochmal jemanden tötet? Vielleicht sogar ein Kind? Wer tötet Kinder ohne Grund? Na gut, es passieren schon eine Menge kranke Dinge auf dieser Welt. Und leider sind hierbei auch viel zu viele Kinder involviert. Hat sie nicht selber gerade erfahren, dass sie eine Mörderin ist? Sie muss nach Hause. Dort liegt das Smartphone. Vielleicht gibt es bereits eine neue Nachricht.

>> DU WEIßT NUN WAS DU ZU TUN HAST! DU ENTSCHEIDEST WER. EINZIGE BEDINGUNG: ES MUSS EIN KIND AUS DEINER KITA SEIN. DU HAST 3 TAGE ZEIT! <<

Es gibt 7,75 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. 7,75 Milliarden Individuen und keiner gleicht dem anderen. Jeder hat etwas in sich, was ihn ausmacht. Einen Kern der ihn von Anderen unterscheidet, das was ihn unverwechselbar macht. Und ich soll ein Kind töten. ICH soll ein Kind töten. Ich soll ein Kind TÖTEN. Wie konnte sie schon wieder in so eine Situation geraten. Ingrid hat das Talent sich in den größten Schlamassel zu geraten. Dabei meint sie es doch immer gut. Dieses blöde Glas Sekt damals. Vielleicht auch zwei. Sie wollte das gar nicht. Aber die Omi hatte sich so gefreut, endlich wieder die liebe kleine Ingrid von früher zu sehen. Und natürlich hat sie es am Ende doch getrunken. Sie kann ja nie Nein sagen. Und so läuft es immer. Sie ist kein böser Mensch. Oder doch? Warum hat sie damals nicht angehalten und nach diesem Kind geschaut? Warum hat sie nie recherchiert, was passiert ist? Weil sie ein verdammter Angsthase ist! Sie will immer, dass alles gut ist und alle glücklich sind. Alles Negative blendet sie aus. Schlechte Dinge passieren für Ingrid auf dieser Welt nicht. Sie ist naiv und dumm. Sie denkt sie wäre so reif und erwachsen, dabei verhält sie sich immer und immer wieder wie ein kleines, naives Mädchen. Attentate in Paris, Ingrid schaltet eine Woche den Fernseher nicht mehr an. Flugzeugabsturz – 300 Menschen vermisst, Ingrid liest drei Wochen keine Zeitungen mehr. Ihr ganzes Leben hat sie sich immer für Andere aufgeopfert. Immer denkt sie zuerst an die Anderen. Was hat sie davon? Sie ist bereits geschieden, hat für andere einen immensen Berg an Schulden abbezahlt und hat verdammt noch mal ein kleines Baby getötet. Sie dachte immer sie gehört zu den Guten. Batman und nicht Joker. Simba und nicht Scar. Sie weiß nicht mehr wer sie ist, wo sie hingehört, auf welcher Seite sie steht und was sie jetzt tun soll. 3 Tage. 72 Stunden. Die halbe Nacht hat sie am Laptop gesessen und versucht alles Mögliche über diesen Unfall herauszufinden. Sämtliche Zeitungsartikel hat sie online rausgesucht, hat sich Fotos angesehen und Interviews von Beteiligten durchgelesen. Niemand wusste etwas. Niemand hat etwas gesehen. Niemand konnte sich an die Frau erinnern. Nach einigen Wochen wurden die Ermittlungen eingestellt, am Ende gab es zu viele Ungereimtheiten.

Ingrid schaut auf die Uhr. „Was passiert, wenn die Zeit abläuft und sie sich nicht für ein Kind entschieden hat?“ überlegt sie, während sie dem Kaffee zuschaut, wie er ihre Tasse füllt. Wird der anonyme Schreiber sie Anzeigen oder will er irgendetwas von ihr haben? In diesem Moment kommt Leonie schreiend um die Ecke gerannt, gefolgt von Alex, welcher ihre Haare zu packen bekommt und ihren Kopf nach hinten zieht. Leonie schreit. Ingrid greift ein und fordert Alex auf Leonies Haare sofort los zu lassen. Alex dreht sich um, schaut Ingrid an und spuckt ihr direkt ins Gesicht. Auch andere Kolleginnen sind auf diese Situation aufmerksam geworden und schicken sie sofort ins Bad. Ein Ekelgefühl breitet sich in ihrem ganzen Körper aus. „Vielleicht sollte ich auch einfach…“ doch so wütend sie auch gerade ist, diesen Gedanken kann sie einfach nicht zu Ende denken. Das bin nicht ich, so bin ich nicht.

Trotzdem kann sie nicht aufhören sich ständig Gedanken zu machen. Bei jedem Kind, welches sie anspricht, stellt sie sich die Frage „Könnte ich dich töten?“ Als sie später einen Apfel schält, denkt sie drüber nach, wie einfach es wäre, mit dem Messer abzurutschen. Einer Erzieherin wird quasi blind vertraut. Sie ruft die Eltern an, vereinbart einen Termin, schließt einen Vertrag ab und nach ein paar Wochen bringen sie ihr Kind und holen es nach 6-10 Stunden wieder ab. Sie hat mal gelesen, dass 24,2 Prozent aller Unfälle bei Kindern in der Schule oder in anderen Betreuungseinrichtungen passieren. Was wäre ein Unfall mehr?
In der Abholzeit beobachtet sie einzelne Elternteile. Die Einen freuen sich sehr, schließen ihr Kind sofort in die Arme und fragen nach ihrem Wohlbefinden. Andere stehen nur an der Tür und rufen zum dritten Mal „Kannst du dich jetzt bitte mal beeilen, ich habe keine Zeit!“ Eine andere Mutter kommt telefonierend in den Gruppenraum, grüßt weder Erzieher noch das Kind und beginnt einfach, dessen Kindergartentasche zu packen. Ohne ihr Telefonat zu beenden, steht sie in der Tür und wartet darauf von ihrem Kind gesehen zu werden. Was wenn ich ihr jetzt mitteilen müsste, dass ihr Kind bei einem Unfall ums Leben kam? Würde sie dann das Telefon zur Seite legen?

Am Nachmittag steht Ingrid vor ihrem Spiegel und betrachtet sich. Sie zieht ihren Pullover aus. Sie hat das Gefühl, dass er sie einengt und sie kaum noch atmen kann. Ihre Jeans liegt eng an ihrem Körper, vertuscht die paar Kilos zu viel, welche sie auf den Hüften hat und versteckt die riesige Narbe an ihrem Rücken. Zart gestochene Tattoowierungen schmücken ihren Körper. Sie löst ihren Dutt und ihre langen braunen Haare fallen ihr in leichten Wellen über die Schulter. So findet sie sich am Schönsten. Ungeschminkt. Chaotische Haare. Für ihre großen, braunen Augen hat sie schon öfter Komplimente bekommen. Für eine Frau ist sie gar nicht mal so klein, wurde ihr gesagt. Sie hat lange, schlanke Beine, sanfte Hände. Doch so sehr sie sich auch konzentriert. Ingrid erkennt sich nicht wieder. „Wieso mache ich immer alles falsch, obwohl ich stets bemüht bin, es allen recht zu machen. Was macht es mir so schwer, einfach ich zu sein. Und nun bin ich eine Mörderin. Eine gesuchte Radfahrerin, welche ein neugeborenes Baby getötet hat.“ Ihr Herz wird immer schwerer, sie hält diesen Schmerz nicht mehr aus. Sie ist innerlich zerrissen. Weiß nicht mehr, wer sie ist und was sie tun soll. Verzweiflung, Wut, Unsicherheit. „Ich hasse dich!“ schreit sie ihr Spiegelbild an. „Ich hasse dich, ich hasse dich, ICH HASSE DICH!! Wie konntest du das tun? Wieso bist du immer so dumm, naiv und ängstlich! Kein Wunder, dass dich niemand mag, du bist hässlich und fett. Du bist eine Mörderin. Du hast es verdient, dass alle Menschen dich ausnutzen. Ich hasse dich! Ich hasse dich so sehr!“ Kraftlos sackt sie auf dem Boden zusammen. Als sie wieder zu sich kommt, ist es bereits dunkel. Sie friert. Sie steht auf, läuft zu ihrem Kleiderschrank und will sich etwas anziehen, als ihr Blick auf ihr Bücherregal fällt. Das Smartphone! Wie viele Stunden sind vergangen? Wie viel Zeit bleibt ihr noch? Sie nimmt das Gerät hervor. Keine neue Nachricht. Eins ist definitiv klar. Ingrid hat nicht vor ein Kind zu töten.

Am nächsten Morgen kam eine weitere Nachricht. >>TRIFF DEINE WAHL!<< „Nein!“ hat sie zurück geschrieben und das Handy ausgeschaltet. Sie ist bereit die Konsequenz zu tragen, für das was sie getan hat. Was damals passiert ist, war ein Unfall. Sie kann es nicht schönreden, ein Kind kam ums Leben. Aber sie ist keine Mörderin!

Kurz vor Feierabend spürt sie eine ganz seltsame Unruhe unter den Kolleginnen. Irgendetwas stimmt nicht. Aline steht im Flur, ihr Kopf ist ganz rot, ihre Stimme zittert und sie ist den Tränen nahe. Die Einrichtungsleiterin versucht sie zu beruhigen und sagt ihr immer wieder, dass alles gut sei. „Kein Grund zur Sorge, sie wird schon irgendwo sein, wahrscheinlich hat sie sich zurückgezogen und sitzt in irgendeiner Ecke und lacht sich kringelig, weil du sie nicht finden kannst.“ Jemand ist verschwunden? Emma. Gerade eben war sie noch da, wollte nur kurz auf die Toilette gehen. Jetzt kann sie niemand mehr finden. So etwas passiert regelmäßig, da muss Ingrid ihrer Chefin recht geben. Ständig verstecken sich die Kleinen hinter Vorhängen, unter Stühlen im Flur oder sogar im Büro unterm Schreibtisch. Weggelaufen ist ihnen noch nie ein Kind. Doch auch nach mehrmaligem rufen und der Aufforderung, doch bitte ihr Versteck zu verlassen, kann niemand sie finden. Wie kann das sein? Wieder und wieder gehen sie die Situation durch, Emma saß auf dem Podest, hat mit den Autos gespielt und einen Unfall nachgestellt. Der Rettungshubschrauber sollte gerade eintreffen, als sie aufgesprungen ist und von einem Bein auf das Andere gehüpft ist. „Ich muss Pipi“ hat sie noch gerufen und ist ganz schnell aus dem Gruppenraum geflitzt. Nur wenige Minuten später wollte die Kollegin schauen, ob Emma ihre Hilfe benötigt. Doch sie konnte sie einfach nicht mehr finden. Das Alles kann jetzt einfach nicht wahr sein. Gestern noch hat sie drüber nachgedacht, „was wäre wenn…“ und heute verschwindet einfach so ein Kind. In diesem Moment stellt sich ihr die Frage, was ist wenn beides zusammenhängt? Unter einem Vorwand verlässt sie so schnell wie möglich die Kita. Natürlich ist jetzt jede Ampel rot und an der großen Kreuzung versuchen zwei LKW´s umeinander abzubiegen. Immer dann, wenn man absolut keine Zeit hat. Zuhause angekommen stellt sie achtlos ihr Fahrrad an der Hauswand ab und rennt nach oben. Wo hat sie heute morgen das Smartphone abgelegt. Im Bücherregal ist es nicht. Mist. Wo war sie heute morgen noch. Sie geht die Wohnung ab und wird wahnsinnig. Ich bin aus dem Bett, ins Bad, habe die Kaffeemaschine eingeschaltet, bin wieder ins Bad, zurück ins Schlafzimmer. Nichts. Das gibt es doch nicht. Wohnzimmer. War ich im Wohnzimmer? Sie geht nochmal zurück ins Schlafzimmer und findet es endlich. Neben dem Blumentopf auf der Kommode. Sie hält den Knopf zum einschalten des Gerätes lange gedrückt. Die Sekunden kommen ihr vor wie Minuten. Zwei neue Nachrichten auf dem Bildschirm. Die Erste sagt nur >>DU MUSST<< Die Nachricht muss kurz darauf gekommen sein, nachdem sie das Smartphone ausgeschaltet hat. Beim Öffnen der zweiten Nachricht wird ihr schlecht. >>WENN DU ES NICHT TUST, WERDE ICH ES TUN!<< Scheiße, was jetzt? Wer steckt hinter diesen Nachrichten und warum will er oder sie, dass unbedingt ein Kind stirbt? >>Wer bist du?<< gibt sie in das Handy ein. Keine Antwort. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als zur Polizei zu gehen. Hier geht es jetzt um mehr als nur ihren Job.
>>HAST DU VIELLEICHT ETWAS VERLOREN?<< erscheint eine neue Nachricht auf dem Display. >>ES LIEGT AN DIR, WIE ES ENDET, FINDE MICH. DU HAST NOCH 24 STUNDEN ZEIT. DANN BEKOMMST DU ZURÜCK, WAS DU VERLOREN HAST!<< Aber wo soll sie anfangen? Sie versucht sich nochmal zu erinnern. Was hat sie übersehen. Dieses Haus, vielleicht sollte sie dort nochmal hin. Das ist ihr einziger Anhaltspunkt.
Dort angekommen geht sie wieder und wieder die Namen an der Klingel durch. Moment mal. Wie hieß die Familie, deren Kind damals ums Leben gekommen ist nochmal? Schnell fischt sie ihr eigenes Smartphone aus der Tasche und fängt an ihre Suchanfragen zu durchstöbern. Uta Pappel. So hieß die Mutter. Es war nicht das Haus, es war die Straße. Sie muss dahinterstecken. Irgendwie hat sie Ingrid ausfindig gemacht. Sie öffnet ihren Internetbrowser und gibt den Namen in das freie Suchfeld ein. UTA PAPPEL. Sie findet eine Adresse. Da Ingrid keine weiteren Hinweise hat, beschließt sie, sich ein Taxi zu rufen und die Adresse aufzusuchen. Sie bittet den Fahrer, eine Ecke vor dem Ziel anzuhalten und auf Sie zu warten. Sie sieht das Haus schon von Weitem. Freistehend, in einem zarten Gelb gestrichen, es hat einen Erker und im Vorgarten wachsen die verschiedensten Blumen, in den unterschiedlichsten Farben. Doch als sie näher kommt sieht sie, schon lange hat sich niemand mehr um den Garten gekümmert. Langsam geht sie Richtung Eingangstür. Der Briefkasten quillt über mit Post und alten Zeitungen. In der Einfahrt steht kein Auto. Ein mittlerweile vertrautes Brummen ertönt aus ihrer Tasche. >>HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH. DIE SPUR IST SO HEIß, UND DOCH SO KALT!<<

Schlimm, sehr, sehr schlimm, was der Familie passiert ist.“ hört sie auf einmal eine ältere Frau rufen. Schnell will sie flüchten, doch die ältere Dame von nebenan hat sich bereits über den Gartenzaun gelegt und redet weiter. „Kannten sie die ehemaligen Bewohner gut?“ „Uta Pappel?“ stellt Ingrid gleich eine Gegenfrage. „Wir kannten uns früher“, log sie, „ich bin ein paar Tage in der Stadt und wollte auf einen Kaffee vorbeischauen und Uta überraschen.“ „Das tut mir Leid, aber einen Kaffee bekommen sie hier keinen mehr. Hat wohl nie den Tod ihres Kindes verkraftet die Gute. Hat sich rein gesteigert und die unterschiedlichsten Theorien gehabt. Am Ende, als ihr niemand glauben wollte, dachte sie die Regierung hat ihr Kind getötet. Sie wollte sogar die Kanzlerin wegen Totschlag anzeigen. Da haben sie sie abgeholt und in eine Zwangsjacke gesteckt. Ich glaub so schnell kommt die da nicht wieder raus.“ Ohne weiter auf die Frau einzugehen dreht Ingrid sich um und rennt zurück zum Taxi. Sie bittet den Fahrer: „Können wir wieder zurück fahren?“ Das Taxi setzt sich in Bewegung. Ingrid nimmt das Smartphone in die Hand. Jetzt ist sie wieder ganz am Anfang. Uta kann nicht hinter der Aktion stecken. Was willst du nur von mir? In diesem Moment trifft eine neue Nachricht ein. >>BRAUCHST DU EINEN HINWEIS? KAPUTTE DINGE KANN MAN NICHT IMMER REPARIEREN. SIE MÜSSEN ENTSORGT WERDEN!<<

Auf einmal weiß sie genau was sie zu tun hat. Sie gibt dem Taxifahrer eine neue Adresse und ist sich ziemlich sicher, hier müssen wir hin. Am Ziel angekommen, steht sie vor einem großen Tor. Verschlossen. Schon lange wurde es nicht mehr geöffnet. Das Gelände wird von einer mindesten zwei Meter hohen Mauer umrandet. „Nie und nimmer schaffe ich es, über diese Mauer zu kommen.“ denkt sich Ingrid und versucht es auf der anderen Seite. Vorsichtig steigt sie über den Zaun. Bereits nach der Hälfte hat sie schon das Gefühl, sich nicht mehr bewegen zu können, doch auf einmal hört sie ein Geräusch. Sie muss wissen, ob sie hier richtig ist. Also nimmt sie alle ihren Mut zusammen und überwindet ihre Angst um auf das Gelände zu kommen. Ihr Herz rast wie verrückt. So leise wie möglich, versucht sie sich den Geräuschen zu nähern. BUMM. Auf einmal wird alles schwarz um sie herum. „Ingrid?“ „Ingrid!“ hört sie plötzlich immer wieder ihren Namen. Sie öffnet die Augen, aber es ist stockdunkel. „Autsch, mein Kopf!“ Sie fühlt sich, als wäre sie gegen eine Mauer gerannt. Wieder hört sie ihren Namen. Langsam gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie muss in einem Container eingesperrt sein. Vom anderen Ende des kleinen Raumes hört sie ein leises „Ich will zu meiner Mama!“ Ingrid versucht aufzustehen und sich zu auf die Stimme zuzubewegen, doch ihre Füße sind gefesselt. Eigentlich kennt sie die Antwort, dennoch fragt sie „Emma, bist du das?“ „JA, und ich will nach Hause“ antwortet Emma. „Geht es dir gut, hat dir jemand wehgetan?“ Doch plötzlich hört sie ein lautes Hämmern. Irgendjemand schlägt von außen mit einem Gegenstand fest gegen die Wände des Containers.

Die Tür wird geöffnet und Ingrid kann einen Blick auf den stillgelegten Wertstoffhof werfen. Doch das Licht tut ihr in den Augen weh und sie kann nicht erkennen, wer sich ihr nähert. „Dann sind ja nun alle wichtigen Personen anwesend und die Vorstellung kann beginnen.“ sagt eine männliche Stimme. Emmas schluchzen wird lauter. „Ach sei ruhig!“ schnauzt der Unbekannte und geht auf Ingrid zu. „Endlich bekommst du, was du verdienst!“ Er packt ihr Kinn und hält sie mit festem Druck. Sein Atem riecht nach altem Rauch und abgestandenem Bier. „Du hast alles kaputt gemacht. Alles. Erst hast du mir mein Kind genommen. Und jetzt meine Frau. Dafür wirst du hinter Gitter kommen. Und weißt du was man dort mit Kindermörderinnen macht?“ „Ich…“ wollte Ingrid irgendetwas sagen, doch sie bekommt eine Ohrfeige. „Ach halt einfach dein Maul!“ Mit schlurfenden Schritten läuft er den Container auf und ab. „War die Kleine hier in deiner engeren Auswahl? Ein hübsches Kind, aber so nervig. Den ganzen Tag ist sie nur am Jammern und will zu ihrer Mami. Aber ich habe schlechte Nachrichten meine Süße, du wirst deine Mami leider nie wiedersehen!“ Sein Lachen ist so schmutzig und unpassend, dass Ingrid ganz schlecht wird. „Emma kann doch nichts dafür!“ ruft sie. „Warum lassen wir sie nicht einfach laufen und klären das unter uns? Ich gehe zur Polizei. Ich sage denen alles, was ich von dem Abend noch weiß!“ „Was du noch weißt? Willst du mich verarschen?“ Er kommt wieder auf Ingrid zu, packt sie und zieht sie auf die Füße. „Es ist zu spät, die Polizei ist bereits auf dem Weg, wir drei, machen jetzt einen Ausflug!“

Pappel bindet Ingrid los, drückt sie mit seinem ganzen Körpergewicht an die Wand neben Emma, während er diese losbindet und sich über die Schulter wirft. „Mitkommen“ schreit er und zieht Ingrid hinter sich her. Die Luft riecht nach frischem Regen auf warmem Boden. Ingrid liebt diesen Geruch und hasst es, dass sie nun immer diesen Tag damit in Verbindung bringen wird. Pappel ist stark, ohne Mühe trägt er die schreiende und zappelnde Emma, zieht Ingrid hinter sich her. Er geht schnellen Schrittes in Richtung des leer stehenden Gebäudes am Eingang. Ingrid stolpert immer wieder. Die hintere Tür des Gebäudes steht offen. Der Raum war leer. Nur eine Art Käfig stand an der hinteren Wand. Pappel schließt die Tür hinter ihnen ab, lässt Ingrid los und geht auf den Käfig zu. Er stößt Emma hinein und verschließt die Tür mit einem Vorhängeschloss. Diesmal bindet er Ingrid´s Hände hinter ihrem Rücken zusammen und setzt sie unsanft auf den Boden.

Wie wolltest du es tun? Hast du dir Gedanken darüber gemacht?“ Er setzt sich auf den Boden. „Ich glaube du wärst zu feige gewesen, sie zu erschießen oder zu ersticken. Ich wette zu hättest es wie einen Unfall aussehen lassen. Zum Beispiel beim Möhren schneiden.“ Er legt ein kleines Küchenmesser vor sich auf den Boden. „Vielleicht hätte ein großer Stein die kleine Maus am Kopf getroffen.“ Er nimmt einen scharfkantigen Stein hervor und legt ihn ebenfalls vor sich auf den Boden. „Wo kam nur dieser Stein her und wer hat ihn geworfen?“ Wieder dieses schreckliche Lachen. Ingrid wünschte, er würde daran ersticken. „Oder hättest du ihr Rattengift in die Trinkflasche getan?“ Wieder greift er hinter sich und nimmt eine kleine Flasche hervor. Er legt sie direkt neben den Stein. „Ich habe auch gehört, wie gefährlich diese kleinen Nadeln sind, die ihr immer zum Basteln benutzt, was wenn die Kleine damit rennt, hinfällt und die Nadel genau in ihrem Hals eine kleine Wunde hinterlässt?“. Behutsam legt er eine dicke Nadel vor sich auf den Boden. „Oder unterschätze ich dich, hättest du ein Seil genommen und sie kaltblütig erdrosselt?“ er muss husten, „Mir persönlich würde ja auch der Hammer gefallen, ich kann mir vorstellen, dass so ein Hammer ziemlich viel Schaden mit einem so kleinen Köpfchen anstellen kann“ Sein lachen wird immer lauter. Mit jedem Mal, dass er eine neue Waffe auf den Boden legt. „Also meine liebe Ingrid, wie willst du es tun?“ „Warum?“, sie kann nicht verstehen, warum noch jemand verletzt werden soll. Gibt es nicht schon genügend Opfer? Doch diese Frage scheint Pappel sehr zu amüsieren. „Ach Ingrid. Du vergeudest deine Zeit. Es ist zu spät. Was denkst du wie oft ich mich gefragt habe. Warum musste mein Kind sterben? Warum findet niemand dieses Fahrrad? Uta hat es zeichnen lassen. Sie hat wieder und wieder Zeichnungen anfertigen lassen von der Frau, die unser Baby getötet hat. Anna war unser größtes Glück. Und die Polizei hat ihr nicht geglaubt. Es war ein schrecklicher Unfall haben die Psychologen gesagt. Sie können nichts dafür. Sie müssen nach vorne schauen. Ich habe nicht aufgehört dich zu suchen. Und ich habe dich gefunden. Da standest du auf einmal neben mir, an der roten Ampel. Auf diesem Fahrrad. Und ich wusste, dass du es bist. Oh Ingrid ich sage dir, das war seit langer Zeit der schönste Tag in meinem Leben. Er geht zu Emmas Käfig und öffnet das Schloss. „Wenn du keine Entscheidung treffen kannst, muss ich es leider tun und mir ist heute nicht nach Schädel einschlagen. Er greift nach dem kleinen Messer und wendet sich wieder Emma zu. „Es tut mir Leid meine Kleine, aber ich muss dir jetzt ein klein wenig weh tun. Deine liebe Erzieherin war sehr sehr böse. Und wenn gleich die Polizei kommt, wird es so aussehen, als war sie auch zu dir sehr sehr böse“ „Und dann“ sagt er an Ingrid gewandt „landest du dort, wo du hingehörst!“. In dem Moment, als er sich nach vorne beugen und Emma zu sich ziehen will, schafft es Ingrid die Fessel zu lösen, stürzt nach vorne, nimmt den Stein und schlägt ihn mit voller Wucht auf Pappel´s Hinterkopf. Dieser kippt zur Seite und bleibt Regungslos auf dem Boden liegen. Ohne weiter nachzudenken zerschlägt Ingrid das Fenster zur Straße, schnappt sich Emma so schnell sie kann und setzt sie vorsichtig nach draußen, bevor sie selber durch das Fenster steigt. Noch einmal schaut sie auf den leblosen Körper, auf den Mann, der alles verloren hatte, was ihn einmal ausgemacht hat. Sie nimmt Emma auf den Arm und rennt. Weg von diesem schrecklichen Ort und entgegen dem Streifenwagen, der bereits auf sie zu fährt.

Auf unserer Erde leben 7,75 Milliarden Menschen. Jeder Mensch ist unverkennbar er selbst. Wer ich bin, wie ich denke oder wie ich handele ist die Summe meiner Erfahrungen. 7,75 Individuen. 7,75 verschiedene Identitäten. Gefühle. Gedanken. Jeden Tag passieren schreckliche Dinge. Schöne Ereignisse. Während diese Zeilen geschrieben werden sterben Menschen, sie werden krank, neue Kinder werden geboren, oder gerade gezeugt, Menschen verlieben sich, lachen, weinen, schreien oder morden. 7,75 Milliarden Atemzüge. Und dennoch ist jeder davon einmalig.

3 thoughts on “Du musst es wieder tun

  1. Liebe Angela,

    Wow. Was soll ich sagen? Du hast hier ganz schön abgeliefert, so viel mal vorweg.
    Der Handyfund zu Beginn wurde von dir wirklich ausgefuchst initiiert. Hab ich so hier noch nicht gelesen. Sehr erfrischend und passend gewählt. Dann wurde ich kurz mal etwas neidisch als du von deinem „Fitzek im Regal“ geschrieben hast 😂😉👌🏻
    Die Passage der „ewigen Grübeleien“ war eine meiner Lieblingspassagen. Da war einfach jedes Wort goldrichtig.
    Ich konnte sogar Parallelen zu meiner Wenigkeit erkennen. Auch das hat sehr zum weiterlesen eingeladen. Nicht nur den Job teile ich mit deiner Hauptfigur 😉
    Besonders schaurig wurde es als du von Ingrids ersten Gedanken über das töten geschrieben hast, brutal genial! Hab einfach noch nie in einen Kopf reinschauen können eines mörderischen Erziehers, sehr kreativ und dennoch nicht absurd dargestellt.
    Sehr intim fand ich die Stelle, als Ingrid meinte, dass sie fortan immer den Regen mit diesen Erlebnissen verbinden wird. Ich glaube dabei kam so etwas wie Empathie in mir auf 😂🙈🤷‍♀️
    Du bist deiner HP auf jeden Fall sehr treu geblieben und hast keine Missverständnisse aufkommen lassen: so hat die stets bemühte Ingrid dann am Ende natürlich auch erst Emma gerettet und dann sich. Sehr stimmig & rund.
    Und dein Ende? Tja – ich mach es kurz. Ein besseres habe ich hier bisher bei knapp 150 gelesenen Geschichten – noch nicht. Wahnsinn. Du hast nicht nur Talent sondern bist wie ich finde jetzt schon bereits, eine lesenswerte Autorin! Meine Stimme hast du!
    Herzlich – die Lia 🌿💚

    Weil es jetzt doch ran an die Buletten geht und nur noch 2 Tage gevotet werden kann, kann ich mir die Anmerkung leider nicht verkneifen. Aber falls du noch Zeit und Muße finden kannst, würde ich mich riesig freuen wenn du auch mal meine Geschichte „was sich liebt das hackt sich“ lesen würdest!😉☺️

    1. Hallo Lia,
      Wow. Du weißt gar nicht wie viel mir dieser Kommentar bedeutet. Es sind so viele Geschichten hier und für jeden ist die eigene Geschichte etwas ganz besonderes. Es war meine erste “veröffentlichte” Geschichte und da ich bis jetzt keine Rückmeldung bekommen habe, war ich schon etwas traurig. Umso mehr freu ich mich über deine Worte!!! Vielen vielen Dank!!!

      1. Das freut uns scheinbar jetzt beide. Denn ich gehe mit dem Prinzip hier ran, ausschließlich Geschichten anzuklicken und zu lesen, die noch keine Kommentare haben. Damit nämlich eben jeder Autor die Möglichkeit einer schriftlichen Form der Wertschätzung bekommen kann. Deine Reaktion Unterstützt mich jetzt also nur in meinem Tun bis Montag! 🙂
        Achja & gerne! ☺️

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