andre.stormWolters Erbe

„Verdammt, Schwarz. Und wie ich mir sicher bin! Es ist zu 100 % sein Handy!“, schreit er fast in den Hörer und bemerkt nicht, wie er feine weiße Spucketropfen durch den Raum schleudert. Dabei war er sich zunächst überhaupt nicht sicher gewesen, dass es sein Handy war, als er das silbergraue iPhone X vor knapp einer halben Stunde auf dem vermoosten Rasenstück auf seiner Seite des Gartenzauns erblickt hatte. Lange hatte die Freude über den wertvollen Fund nicht angehalten. Die kraftlos, lose zusammenhängenden Gedanken – von denen es in den letzten Monaten nicht viele gab – wie er das Teil möglichst kurzfristig und möglichst gewinnbringend weiterverscherbeln konnte, wurden jäh unterbrochen, als er auf das zersplitterte Display blickte. Er erkannte das Muster des sternförmigen Risses sofort wieder. Und der letzte Zweifel wurde in dem Moment ausgeräumt, als er das Handy an sich nahm, und damit den Bildschirm zum Leben erweckte. Es zeigte den Mann, den er ins Gefängnis gebracht hatte. René Wolter. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit einem aufgedruckten Totenkopf und dem Schriftzug „St. Pauli“ von dem aber nur die ersten drei Buchstaben zu erkennen waren. Der hintere Teil des Logos wurde von einem jungen Mann überdeckt, den Wolter vergnügt im Arm hielt und der vorwitzig in die Kamera grinste. Auch den kannte er. Wolters Sohn Philipp.

„Jetzt mal langsam, Radtke“, sagt die Stimme auf der anderen Seite der Leitung. Abgeklärt. Ruhig. „Du weißt genau, dass das kompletter Blödsinn ist. Wolters Handy liegt in der Asservatenkammer. Ordentlich und brav verstaut, zusammen mit den anderen Beweismitteln.“ Er atmet in einer Weise aus, die einem Stöhnen gleicht, bevor er langsam weiterredet. „Und da wird es die nächsten hundert Jahre auch bleiben. Entspann dich!“ Er spricht so, als könne seine sanfte Stimme allein dafür sorgen, dieses kleine Missverständnis in Wohlwollen aufzulösen.

„Ich entspanne mich garantiert nicht!“, spuckt er aus und hält sich die speckig vergilbte Sprechmuschel direkt vor den Mund. „Es ist sein verdammtes Handy und sein verdammtes Hintergrundbild.“ Er nimmt das Gerät vom Glastisch und wirft dabei zwei der zahlreichen leeren Bierflaschen um, auf deren Boden sich bereits ein weißer Schimmelpilz gebildet hat und die nun klimpernd zu drei weiteren Flaschen auf den fleckigen Teppich fallen. Als ob Schwarz ihn dabei beobachten könnte, wedelt er mit dem Smartphone in der Luft herum.

„Hast du wieder getrunken?“, fragt Schwarz, doch da er keine Antwort erhält, redet er weiter: „Pass auf. Mein Schreibtisch quillt über von Akten. Ich muss mich jetzt wirklich um wichtigere Dinge kümmern. Und du vergisst die ganze Sache auch am besten. Ich weiß nicht, was du da gefunden hast, aber …“

„Halt mal die Pfanne“, geht Radtke dazwischen. Er blickt auf das Gerät in seiner Hand, dessen Bildschirm wieder aktiv ist. Über der Uhrzeit, 11.34, zeigt das kleine Symbol eines Vorhängeschlosses an, dass das Handy gesperrt ist. Radtke schiebt den weißen Streifen am unteren Rand des Displays nach oben. Da die Erkennung mittels Face ID fehlschlägt, erscheint ein Ziffernfeld zur Eingabe des Freischaltcodes. „Wie war noch mal der Code?“, fragt er leise.

„Was?“

„Wie war noch mal der beschissene Code von Wolters Handy, will ich wissen? Das war doch irgendeine alte Postleitzahl oder sowas.“

„Dortmund“, grummelt Schwarz am anderen Ende der Leitung hörbar genervt. „4600.“

Radtke tippt die Zahlen ein und der Anmeldebildschirm verschwindet. Was dahinter sichtbar wird, lässt Radtkes Mund mit einem Schlag austrocknen. Zum Vorschein kommt ein Bild, welches ihn selbst zeigt. Sitzend an einem Tisch vor seinem Laptop. Neben ihm, vor Kopf des Tisches sitzt Schwarz, der die Augen gerade in einem Zwinkern geschlossen hat. Sein offener Mund deutet darauf hin, dass er im Moment als der Auslöser betätigt wurde, gerade redet. Ihm gegenüber, mit seinem fetten Arsch nahezu in den Armlehnstuhl geschossen und klar und deutlich sichtbar, kein Geringerer als Olek Bronskowitz. „Scheiße, Alter“, murmelt er atemlos in den Hörer. „Wir müssen uns treffen. Jetzt!“

***

„Das kann nicht wahr sein! Das kann verfickt noch mal nicht wahr sein!“, murmelt er fortwährend vor sich hin und prügelt abwechselnd mit der rechten oder linken Hand auf das Lenkrad ein. Ein Anruf in der Asservatenkammer hatte genügt, um die Bestätigung zu erhalten, dass Wolters Handy tatsächlich nicht mehr an seinem Platz im Archivkarton liegt. „Ein Abholschein wurde aber nicht ausgestellt. „Eigentlich muss es hier sein“, war die lapidare Aussage dieses Archivpenners gewesen und Schwarz wäre am liebsten durch den Hörer gekrochen und hätte diesem Typen erstmal rechts und links eins in die Fresse gehauen. Er schert sich nicht um das Ortseingangsschild und drückt das Gaspedal noch tiefer hinunter, obwohl das Tachometer schon mehr als 70 anzeigt. Er muss schnellstmöglich zu Radtke und sich das selbst ansehen. Wenn es stimmt, dass auf dem Handy ein Bild von ihnen beiden bei einem konspirativen Treffen mit dem größten Unterweltboss auf der linken Rheinseite sein sollte, waren sie definitiv am Arsch. Aber richtig! Vor allem, wenn die falschen Leute Wind davon bekamen. Er spürt, wie Panik sich in ihm breitmachen will, doch noch gelingt es ihm, sie mit noch mehr Gas und dem Fokus auf den Asphalt vor ihm, in Schach zu halten.

Wie kann man innerhalb von drei Monaten so runterkommen, denkt er, als er an Radtkes Haus vorbeifährt. Der Garten ist verwildert. Verdörtes, knöcheltiefes Gras, wo früher einmal Radtkes Kinder Fußball spielten und auf dem Trampolin hüpften. Letzteres liegt verbeult und zerrissen auf der Seite und bietet einen traurigen Anblick. Drei Mülltonnen an der Hauswand quellen über. Vor und neben ihnen liegen weitere volle Müllsäcke, einige davon aufgerissen. Wahrscheinlich aufgepickt von hungrigen Krähen auf der Suche nach brauchbaren Essensresten. Schwarz fährt seinen silbernen Golf am Haus vorbei und stellt ihn zweihundert Meter weiter auf dem Parkplatz eines Supermarkts ab. Er hat es zwar eilig, zu Radkte zu kommen, hält es aber für besser, nicht direkt vor seinem Haus gesehen zu werden. Ein bisschen Paranoia hat noch niemandem geschadet, ist sein Motto. Er weiß, wenn er dem Trampelpfad hinter dem Parkplatz folgt, kommt er von der Rückseite zu Radtkes Haus.

Der Garten hinterm Haus sieht noch schlimmer aus als der Vorgarten. Auf der Veranda stapeln sich blaue Müllsäcke und die Luft riecht faulig süß. Noch im letzten Jahr hatte Schwarz hier mit einem Bier in der Hand neben dem Grill gestanden und mit Radkte und drei weiteren Kollegen aus ihrer Einheit über irgendwelche nicht jugendfreien Flachwitze gelacht. Diese Zeit schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Schuld daran war der Fall Wolter, der zwei Menschenleben gefordert hatte. Wolters eigenes, und das von Radtke, der zwar noch atmete, aber keinen Job, keine Familie, kein Geld, kurz gesagt kein Leben mehr hatte.

Die Terrassentür ist nicht verschlossen und gleitet geräuschlos auf, als Schwarz die Klinke betätigt. Ein säuerlicher Mief bahnt sich den Weg nach draußen und er verzieht das Gesicht. „Radtke?“, ruft er in den abgedunkelten Raum. Alle Jalousien, bis auf die der Tür sind heruntergelassen und Licht strömt nur durch schmale Streifen hinein. „Radtke?“, ruft er erneut und tritt ins Innere. Er verzieht das Gesicht, als er im Dämmerlicht das Chaos im Wohnzimmer sieht. Der Glastisch ist vollgestellt mit leeren Bier- und Weinflaschen, benutzen Tassen und Tellern mit eingetrockneten Essensresten. Neben der Couch stapeln sich leere Pizzakartons und offene Konservendosen. Das Sofa ist übersät mit zahllosen Flecken, die für Schwarz verdächtig nach Erbrochenem aussehen und zweifelsohne so riechen. Er pustet angewidert die Luft aus den Backen und stellt eine Bierflasche vor die geöffnete Verandatür, um sie offenzuhalten und wenigstens etwas frische Luft in den Raum zu lassen.

„Ah! Du bist gekommen, das ist gut“, sagt eine Stimme hinter Schwarz, die nicht viel mehr als ein krächzendes Flüstern ist. Schwarz fährt erschrocken herum, hat sich aber gleich wieder im Griff. „Alter, was ist denn hier los?“, sagt er und deutet durch den Raum. Es ist ihm klar gewesen, dass Radtke Probleme hat, sogar, dass er dem Alkohol verfallen ist, aber mit dem, was er hier sieht, hat er in seinen kühnsten Vorstellungen nicht gerechnet. Radtke antwortet nicht und winkt nur ab. Dann dreht er sich auf dem Absatz um und tappt zurück in den Flur. „Komm mit ins Arbeitszimmer.“

Das Arbeitszimmer liegt im ersten Stock, und Schwarz ist dankbar dafür, dass es hier etwas besser aussieht. Offensichtlich erstreckt sich Radtkes Lebensmittelpunkt nicht wesentlich über das Erdgeschoss hinaus. Da die Jalousien hier hochgezogen sind und die Sonne durchs Fenster scheint, kann Schwarz seinen Exkollegen zum ersten Mal richtig ins Visier nehmen. Er ist eindeutig seit Wochen unrasiert, die Haare stehen ihm wild vom Kopf ab. Er trägt eine zerschlissene blaue Jogginghose und ein kariertes, kurzärmliges Hemd auf dem sich unzählige verschiedenfarbige Flecken tummeln. Sein Geruch ähnelt dem einer Turnhalle mit Bierausschank und Schwarz zieht es vor, durch den Mund zu atmen. Radtke schlurft zum Schreibtisch und greift nach dem Handy, das er dort abgelegt hat. Bedächtig dreht er sich zu Schwarz um. „Wir müssen das ganze beenden“, sagt er matt und hält Schwarz das Mobiltelefon entgegen. Dieser verzichtet auf eine Antwort und nimmt skeptisch das Handy an sich. Wohlbedacht, dabei keinen Hautkontakt zu Radtke aufzubauen. Während er das Hintergrundbild ansieht und das Handy entsperrt, fragt er: „Wie kommt das hier hin?“ Er erhält keine Antwort. Erwartet auch keine. Nun, da das Bild von ihm, Radtke und Bronskowitz vor ihm auftaucht. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Geschichte nur eine entfernte Möglichkeit unter vielen gewesen. Eine wahnsinnige Anwandlung eines versoffenen Spinners. Durch das fehlende Handy in der Asservatenkammer hatte diese Geschichte einen Teil ihres Wahnwitzes eingebüßt, der in Schwarz‘ Inneren sogleich mit dem entsprechenden Teil Panik aufgefüllt worden war. Doch der Schock, der Schwarz jetzt durchzuckt, jetzt, wo es nicht mehr möglich ist, sich einzureden, dass Radtke einem Hirngespinst aufgesessen ist, ist mit nichts zu vergleichen. Gleißend hell strahlt er durch jede Zelle. Er hat das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Scheiße, Alter“, stammelt er und setzt sich auf einen Stuhl, der über und über mit Kleidungsstücken bedeckt ist, von denen einige lautlos zu Boden gleiten. Er wirft einen kurzen Blick zu Radtke, der sich am Tisch angelehnt hat und seinen Exkollegen mit ängstlicher Mine anblickt. Instinktiv schiebt er das Bild nach links und stellt fest, dass ein weiteres erscheint. Wieder das Dreiergespann, dieses Mal zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Mehr Bilder scheint es nicht zu geben, aber es reicht auch so. Schwarz ist klar, dass diese Fotos im besten Fall bedeuten, dass er und Radtke ein paar Jahre in den Knast wandern. Im schlimmsten Fall, und der schien ihm der wahrscheinlichere, würden sie von Bronskowitzs Schergen mit Betonstiefeln im Rhein zu einem Wettpaddeln geschickt. Sein Mund ist ausgetrocknet und es fällt ihm schwer zu sprechen. „Wie kann das sein? Von den Treffen wusste doch niemand?“

Radtke zieht die Achseln hoch. „Ich war zu der Zeit schon nicht mehr ganz in der Welt, Schwarz.“ Er kratzt sich das haarige Kinn. „Unter normalen Umständen wäre es mir garantiert nicht durch die Lappen gegangen, dass uns jemand auf den Fersen ist …“ Wieder zucken die Achseln. „Aber zu der Zeit? Das war drei Monate nach Wolters Tod und zwei Monate, nachdem seine Unschuld bewiesen war …“ Er stößt ein krächzendes Husten aus. „Und meine Frau hatte mich gerade verlassen.“ Dann rauft er sich mit einer Hand die ungewaschenen, zotteligen Haare und sieht Schwarz zum ersten Mal direkt in die Augen: „Wir müssen das beenden“, sagt er matt aber bestimmt, bevor er den Blick abwendet.

„Was beenden?“, spuckt Schwarz aus und erhebt sich von seinem Stuhl. Weitere Kleidungsstücke fallen auf den Boden und Schwarz macht einen Schritt auf Radtke zu. „Da gibt es nichts zu beenden … Die Sache ist beendet, Radtke.“

„Wir müssen die Verantwortung für Wolters Tod übernehmen“, entgegnet Radtke.

„Die Verantwortung?“ Schwarz‘ Stimme hat einen schrillen Tonfall angenommen. „Wolter ist im Knast umgebracht worden, falls du das vergessen hast.“ Er tippt sich energisch mit zwei Fingern gegen die Stirn. „Ist bei dir nur noch Brei im Schädel, oder was?“ Er macht einen Schritt auf Radtke zu und sieht ihn durchdringend an. „Sie haben Wolter Natriumhydroxid rektal eingeführt, Radkte. Ätznatron! Dasselbe Zeug, mit dem ich alle halbe Jahre meinen Scheißhausabfluss im Keller durchpuste. Damit haben sie ihm ganz langsam den Arsch weggebruzelt.“ Radtke schließt die Augen und wendet den Kopf ab, als wolle er verhindern, dass die Umstände von Wolters Tod in sein Bewusstsein eindringen.

„Dafür soll ich die Verantwortung übernehmen?“ Jetzt schreit Schwarz fast und Schweißtropfen rinnen ihm übers gerötete Gesicht. „Garantiert nicht! Wolter war ein Kollateralschaden. Fertig.“

„Aber die Bilder mit Bronskowitz machen uns sowieso fertig, Schwarz. Von wem können die kommen?“

Schwarz wendet sich ab, greift sich an den Kopf und krümmt sich, als würde er von Krämpfen heimgesucht. Dann atmet er tief ein und aus und legt die gefalteten Hände vor den Mund. So verharrt er einige Sekunden, in denen Radtke nur dasteht und ihn beobachtet. „Sage du es mir“, sagt er in ruhigem Tonfall. Dreht sich um und sieht Radtke aus kalten Augen an.

„Ich weiß es nicht. Wirklich!“, antwortet Radtke und wirft einen hektischen Blick hinter sich. „Wie gesagt, ich muss was übersehen haben, ich …“

„Du hast nichts übersehen“, sagt Schwarz in noch ruhigerem Tonfall. Soeben ist ihm einiges klar geworden. Er macht einen Schritt auf Radtke zu. „Wie soll das Handy von Wolter in deinen Besitz gekommen sein?“ Radtke schüttelt nur den Kopf. „Ich sag es dir … Du selbst hast es dir aus dem Archiv geholt. Wahrscheinlich schon vor Monaten. Lange bevor du den Arsch zusammengekniffen und die Biege gemacht hast.“

„Nein, ich …“, beginnt Radtke, doch Schwarz nimmt ihn nicht zur Kenntnis.

„Du konntest im Archiv schalten und walten, wie du wolltest.“ Schwarz sieht Radtke mitleidig an. „Und die Bilder kommen auch von dir. Woher sonst? Du hast die Sache von langer Hand geplant. Willst mit deiner beschissenen Exitstrategie dafür sorgen, dass ich mit ans Messer geliefert werde.“ Er steht direkt vor Radtke, der immer noch an den Tisch gelehnt dasteht und einen Kopf kleiner ist als Schwarz. Radtke schüttelt unentwegt den Kopf.

„Nein, Schwarz. Ich kann mich nicht …“ Er greift sich an die Stirn, so als wolle er prüfen, ob er Fieber hat.

„Was?“, will Schwarz wissen. Radtke drückt sich an ihm vorbei in die Mitte des Raumes. Sein Blick geht ins Leere und für Schwarz sieht er aus wie der Bilderbuchtyp eines Wahnsinnigen.

„Ich kann mich nicht daran erinnern“, sagt er und vergräbt sein Gesicht in beiden Händen.

***

„Was meinst du damit“, fragt Schwarz mit kalter Stimme. „Du kannst dich nicht daran erinnern, dass du Wolters Handy aus dem Archiv geklaut hast? Und dass du heimlich Fotos von unseren Meetings gemacht hast?“

„Ich hab Filmrisse, Schwarz. Aussetzer.“

„Weil du zu viel säufst, Kollege.“

Er nickt. „Ja. Und nicht nur das, auch härteres Zeug … Bei den Treffen … Da auf den Bildern …“ Er zeigt auf das Handy auf dem Schreibtisch. „In der Zeit hab ich nur noch funktioniert.“ Er blickt Schwarz mit flehendem Gesichtsausdruck an. „Ich hab mich jede Nacht weggeschädelt, seit ich das von Wolter erfahren hab.“

„Sag bloß“, antwortet Schwarz mit bissiger Stimme. „Und da hast du den Entschluss gefasst auszupacken?“

„Da kam mir das erste Mal der Gedanke“, bestätigt er. „Aber ich hatte nicht vor, dich da mit reinzuziehen. Ich hätte Wolter ganz allein auf meine Kappe genommen. Die Sache mit Bronskowitz ist da völlig außen vor!“

„Bullshit, Radkte“, speit Schwarz aus. „Du kannst mich gar nicht aus der Woltersache raushalten. Da hängen wir beide zu tief drinnen. Und was die andere Sache angeht …“ Er geht zum Schreibtisch, nimmt das Handy und hält es in die Höhe. „Warum ziehst du dann diese Nummer hier ab?“

„Nochmal, Schwarz. Ich weiß nichts von den Bildern darauf. Ich weiß auch nicht, wie das Handy hier hinkommt. Wenn das wirklich auf meine Kappe geht, dann hab ich das auf Droge gemacht.“

„Und wie das auf deine Kappe geht!“, poltert Schwarz.

Radtke nickt. Der Stoff unter seinen Achselhöhlen trieft vor Schweiß. „Ich hab Susanne …“ Er stockt, atmet ein und aus und redet dann weiter: „Ich hab Susanne gewürgt.“ Schwarz schüttelt voller Missachtung den Kopf, sagt aber nichts. „Davon weiß ich auch nichts mehr. Aber ich glaube ihr.“ Wieder eine Pause. Dann: „Ich kann nicht mehr, Schwarz.“ Er lässt die Schultern sinken und sieht seinen Exkollegen flehentlich an. „Aber ich sag nichts. Ehrlich. Ich ziehe dich da nicht mit rein.“

Du bist das letzte, Radtke“, sagt Schwarz flüsternd. In seinem Kopf hat sich ein Plan manifestiert. Und er weiß, Pläne, die so spontan und kristallklar aus dem Nichts erscheinen, sind gut. Sind richtig. Sind die Besten. Er fühlt, wie die Panik verschwindet und sich in Energie verwandelt. Er kann die Situation drehen und er wird die Situation drehen! Mit fester Stimme sagt er: „Ich kümmere mich um das Handy“, und steckt es in die Hosentasche. „Wo könnten die Bilder noch drauf sein? Auf dem Laptop?“ Er deutet auf das Gerät auf dem Tisch.

Radtke zieht die Achseln hoch. „Wenn irgendwo, dann dort. Den anderen Computer hab ich komplett leer gemacht und verscherbelt.“

„Was ist mit den SD-Karten?“

„Ein paar liegen da im Rollcontainer. Oberste Schublade. Aber die lösche ich eigentlich immer reflexartig, wenn ich Bilder da runterziehe.“ Er stößt ein freudloses Lachen aus. „Zumindest, wenn ich klar in der Birne bin.“

Schwarz nickt geschäftsmäßig. Dann nimmt er den Laptop vom Tisch, greift ihn mit beiden Händen rechts und links an der Schmalseite und macht einen Schritt auf Radtke zu.

Der erste Schlag lässt Radtke auf die Knie sinken. Sein Oberkörper schwankt von einer Seite zur anderen und über seine linke Gesichtshälfte ergießt sich ein Schwall Blut. Er blickt Schwarz aus wässrigen Augen fragend an und als er den Mund öffnet, trifft ihn ein zweiter Schlag, der ihn wie einen gefällten Baum zu Boden sinken lässt.

„Qualitätsware“, murmelt Schwarz und blickt den Laptop an, der zwar blutverschmiert ist, aber ansonsten völlig intakt aussieht. Dann kniet er sich neben Radtkes Körper, hebt den Laptop ein drittes Mal über den Kopf und vollendet seinen Plan. Seinen richtigen Plan. Den besten Plan.

***

Er ist außer Atem, als er endlich sicher ist, dass bei Radkte kein Puls mehr vorhanden ist. Sieben Schläge – den letzten zur Sicherheit mit der schmalen Kante gegen die Schläfe – brauchte der Spinner, um endgültig die Grätsche zu machen. Den kleinen, feinen Gedanken, der sich in seinem Kopf meldet, der ob das alles wirklich nötig war, schiebt er geflissentlich beiseite. Das war eindeutig nötig, redet er sich ein. Der Typ hatte doch sowieso eine Todessehnsucht, das war nicht zu übersehen gewesen. Er steht auf, lässt den Laptop fallen und setzt sich auf den Stuhl. Noch Radtkes eigenes Handy einsacken, zur Sicherheit auch alle SD-Karten, die er finden kann, und natürlich den Laptop. Dann in Ruhe die Fingerabdrücke abwischen und nichts wie weg. Er muss grinsen, als ihm einfällt, dass seine Paranoia dafür gesorgt hat, dass ihn keiner mit dem Haus in Verbindung bringen wird. Und wenn doch, wäre das auch kein großes Problem. Bronskowitz wird nie und nimmer etwas von den Fotos erfahren, aber er wird ihm ein feines und absolut wasserdichtes Alibi verschaffen, wenn es sein muss. Weil Bronskowitz schlau ist, und sich über jeden Mitwisser weniger, freut. Vor allem, wenn er so nutzlos geworden ist, wie Radtke. Er würde lediglich …

Schwarz zuckt zusammen, als er das Geräusch hört. Und als er es endlich zuordnen kann, weiß er zunächst nicht woher es kommt. Er springt vom Stuhl auf.

Dann wird es ihm klar. Das Handy in seiner Hosentasche. Wolters Handy. Klingelt.

***

Eiskalt durchfährt es Schwarz und er wirft einen Blick auf den toten Radtke, als wäre dieser dafür verantwortlich, das Handyklingeln heraufbeschwört zu haben. Anonym steht auf dem Display und Schwarz muss seinen Daumen zwingen, den Pfeil nach rechts zu ziehen, um das Gespräch anzunehmen. Er will „Hallo“ sagen, doch obwohl sein Mund sich bewegt, ertönt kein Laut.

„Herr Schwarz!“, meldet sich eine freundliche Stimme. Schwarz ist zu perplex um einen Gedanken daran zu verschwenden, woher der Anrufer weiß, dass er es ist.

„Wer ist da?“, sagt er nach einigen Sekunden.

„Sie haben recht! Unhöflich von mir. Ich bin‘s … Wolter.“

***

„Wolter ist tot“, antwortet Schwarz, der den ersten Schreck überwunden hat. Ich kann es schaffen!, denkt er, ohne genau zu wissen, was „es“ in diesem Fall ist. Aus dem Hörer ertönt ein Lachen.

„Richtig, Schwarz, richtig. Der Wolter, den Sie im Kopf haben, ist tot. Hier ist Philipp Wolter. Wir sind uns leider bisher nie persönlich begegnet. Schön, dass sich das bald ändern wird. Ach ja, und danke, dass Sie mir die Hälfte der Arbeit schon abgenommen haben.“ Wieder ein kurzes Lachen. „Obwohl, es mit ihnen beiden sicher auch viel Spaß gemacht hätte.“

„Was wollen sie?“, fragt Schwarz tonlos.

„Können Sie sich das nicht denken, Schwarz? Seien Sie ein bisschen phantasievoll, dann fällt es Ihnen bestimmt ein! Ich war sehr phantasievoll, das können Sie mir glauben! Ich kann kaum erwarten, es Ihnen zu zeigen!“, entgegnet Wolter mit einem triumphierenden Tonfall. „Kleiner Tipp für Dummköpfe: Es hat damit zu tun, dass Sie kleiner Wichser meinen Vater unschuldig in den Knast gebracht haben.“ Dann legt er auf.

Schwarz hat das Gefühl zu ersticken. Erstmal muss er hier raus. Dann kann er sich darüber Gedanken machen, was das eben zu bedeuten hatte. Er will das Handy zurück in seine Hosentasche stecken, als es sich erneut meldet. Ein kurzes Ping zeigt an, dass eine Nachricht eingegangen ist. Schwarz entsperrt das Handy und öffnet die Nachrichtenapp. Er kann den Inhalt des Bildes zunächst überhaupt nicht definieren. Was weniger am Motiv liegt, sondern an dem, was das Motiv offenbart. Das ist schlichtweg als absurd zu bezeichnen. Schwarz sieht sich selbst auf dem Bild, während Radtke vor ihm auf dem Fußboden liegt und er den Laptop hoch erhoben über seinem Kopf hält, um es diesem zum zweiten, dritten oder siebten Mal auf den Schädel zu zimmern. „What the fuck …“, schnaubt er in den Raum. Er muss diese scheiß Kamera finden, und er schaut abwechselnd auf das Handy und auf die Schrankwand, um das Versteck auszumachen. Er macht einen Schritt auf den Schrank zu, als er neben sich ein Klacken vernimmt. Er dreht sich um und sieht, die Zimmertür sanft aufschwingen. Er weiß, dass er unbewaffnet ist. Trotzdem greift er unter seine Jacke an die Stelle, an der er sonst sein Holster trägt. Er packt den Stuhl an der Lehne und will ihn anheben, als er einen Stich an der rechten Schulter bemerkt. Dann bäumt sich sein Körper in Krämpfen auf, und er fällt, zusammen mit dem Stuhl, wie ein Stein zu Boden. Elektroschocker, denkt er, als er ein dünnes rotes Kabel erkennt, dass von seiner Schulter bis hinaus in den dunklen Flur ragt. Doch er sieht noch etwas anderes. Etwas, das ihn daran hindert, in eine selige Bewusstlosigkeit zu fallen. Etwas, das weißes, grelles Entsetzen in ihm auslöst. Knapp hinter der Türschwelle steht eine weiße Plasikflasche. Er erkennt den Aufdruck. Weiß welcher Inhalt sich in der Flasche befindet. Es ist dasselbe Zeug, mit dem er alle halbe Jahre seinen Scheißhausabfluss im Keller durchpustet …

ENDE

 

 

2 thoughts on “Wolters Erbe

  1. Hallo 🙂
    Mir gefällt deine Geschichte sehr gut! Der Einstieg in die Handlung ist dir gut gelungen, der Leser versteht sofort worum es geht ohne Vorgeschichte.
    Die Personen und ihre Dialoge sind sehr realistisch, toller Schreibstil!
    Liebe Grüße
    Nathalie (Zwischen Liebe und Leichen)

  2. Hi,
    was soll ich sagen?! Deine Geschichte gehört zu den definitv richtig guten Geschichten hier. Mir unverständlich, warum Du so wenige Likes hast.
    Du hast einen dermaßen sicheren Schreibstil, eine Fähigkeit, Deine Geschichte aufzubauen und sowohl die Charaktere zu skizzieren, wie auch Bilder der Szenerie zu erzeugen, dass ich nicht glauben mag, dass es Dein erster Schreibversuch war?! Eine sehr geile, sehr gut geschriebene Geschichte.
    Mein Like hast Du!

    LG,
    der schweenie

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen und ein Feedback da zu lassen ….
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/glasauge

Schreibe einen Kommentar