Christina SitzmannZwei halbe Leben

Immer tiefer drücke ich das Messer in die Brust des Mannes. Das Blut quillt über meine Hände, warm und dickflüssig. Aber ich kann nur daran denken wie viel Geld mir dieser Auftrag bringt. Der Mann kämpft gegen die Fesseln an seinen Händen und Beinen an, die ihn wie einen Seestern auf meinem Tisch fixieren. Seine Schmerzensschreie werden durch den Knebel in seinem Mund gedämpft. Lange wird er nicht mehr durchhalten, er hat sich vorhin bei unserer Kampfeinlage schon ziemlich verausgabt. Dummer Anfängerfehler.

Plötzlich höre ich aus dem Babyfon auf meiner Ablage mit meinen Instrumenten die dünne Stimme eines kleinen Mädchens: „Mama! Ich kann nicht schlafen!“

Oh Mist! Genervt lasse ich das Messer dort stecken wo es ist und ignoriere den fragenden Blick meines Opfers.

Das es als alleinerziehende, arbeitende Mutter nicht gerade leicht ist war mir ja von Anfang an bewusst, aber zwei verschiedene Leben sind mehr als nur eine Herausforderung.

„Schön hiergeblieben. Ich bin gleich wieder für dich da.“, schnell schlüpfe ich aus meinen Arbeitsklamotten, das heißt die Gummihandschuhe, die mir bis über den Ellenbogen reichen und meiner Schürze, die aus dem gleichen Material wie die Handschuhe gefertigt wurden.

Ordnungsgemäß sperre ich die Tür zu meinem Kellerbereich hinter mir ab. Um den Mann werde ich mich gleich noch ausführlich kümmern, wie es mein Auftrag ist, aber jede Mutter weiß, dass man ein Kleinkind nicht zu lange warten lassen sollte. Schnell haste ich die Treppe nach oben in den zweiten Stock zu unserer Zweizimmerwohnung. Bevor ich die Tür zu Amiras Reich öffne, werfe ich noch einen prüfenden Blick in den Spiegel um zu kontrollieren, das nirgendwo mehr Blut an mir klebt. Amira sitzt bereits aufrecht im Bett und blickt mir mit ihren riesigen blauen Augen entgegen.

„Hey mein Schatz, hast du was Schlechtes geträumt?“, ich setze mich zu ihr aufs Bett und streiche durch ihre braunen Locken, die sie eindeutig von mir geerbt hat.

„Er war wieder da.“, haucht sie und blickt unruhig in ihrem Zimmer umher.

Ich seufze tief, seit ein paar Wochen hat sie immer wieder den gleichen Traum. Ein Mann kommt in ihr Zimmer und will sie entführen. Am Anfang habe ich mich tierisch erschrocken, weil es ja aufgrund meines Doppellebens durchaus möglich ist, dass uns mal ein eher unangenehmer Zeitgenosse besuchen könnte. Also habe ich in jeder Nacht, in der sie den Albtraum hat, die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt um nach diesen mysteriösen Fremden zu suchen. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich nie jemanden gefunden habe.

Aber für meine Mira mit ihren unschuldigen fünf Jahren würde ich alles tun, deswegen begebe ich mich auch heute wieder auf die Suche und sehe im Kleiderschrank, unter ihrem Bett und in den verwinkelten Ecken unserer kleinen Wohnung nach, aber wie bereits erwartet finde ich nichts. Als ich in ihr Zimmer komme hat sie sich bereits wieder fest in ihre Decke gekuschelt, sodass nur noch ihr kleines Gesichtchen zu sehen ist.

Amira hat mein Leben von Grund auf verändert. Ich komme aus einer schrecklichen Gegend mit noch schrecklicheren Menschen. Meine Mutter brachte mich und meine Geschwister eher schlecht als recht über die Runde. Dabei hätte sie mit ihrer Arbeit als Prostituierte eigentlich genug verdient, aber die Drogen kamen ihr dazwischen. Als ich alt genug war um selbst Anschaffen zu gehen verließ ich mein Zuhause und schloss mich einer Straßengang an. Von nun an vertickte ich Drogen und wurde selbst abhängig. Sobald ich herausfand, dass ich mit Amira schwanger war machte ich Schluss mit den Drogen und zog mich aus dem Gangleben zurück, daraus ergab sich aber ein neues Problem. Ich brauchte Geld, viel Geld, und eine Wohnung. Meiner Tochter Amira will ich nämlich ein besseres Leben bieten. Ich fand schnell heraus, dass die Leute für Auftragsmorde bereit waren sehr viel Geld auszugeben, also zog ich es durch. Hier mal einen korrupten Bankmitarbeiter dort mal eine Großmutter, die das zukünftige Erbe ihrer Kinder verprasste. Ich töte alles und jeden. Mittlerweile wohnen Amira und ich in einer anständigen Zweizimmerwohnung und haben einen schallisolierten Keller, dadurch kann ich von Zuhause aus Arbeiten. Die Leichen verbrenne ich meistens oder zersetzte sie mit Natronlauge, je nach Lust und Laune und was der Auftraggeber von mir will. An Miras Vater kann ich mich nicht erinnern, als es passierte war ich vermutlich wieder auf einen Trip. Aber wir brauchen ihn nicht. Untertags bin ich für Amira eine wundervolle Mutter und in der Nacht eine eiskalte Killerin. Ich führe zwei Leben, die nahezu unabhängig voneinander ablaufen und niemals in Verbindung gebracht werden dürfen. Ich bin die metaphorische Medaille mit zwei Seiten.

Ich lasse noch einmal zärtlich meine Fingerspitzen über die Pausbäckchen meines Mädchens wandern, als sie sich nicht bewegt begebe ich mich wieder in meinen Kellerraum, der so abgeschieden von den anderen Kellerbereichen der Mieter liegt, dass sich niemals zufällig jemand zu mir verirren würde.

Die meisten Mieter vermuten, dass ich dort unten meine Lover empfange, die meisten meiner Auftragsarbeiten kommen tatsächlich durch die Haustür rein, weil sie über diverse Lockmittel wie Datingportale, Internetanzeigen und Ähnlichem angezogen werden. Natürlich mit falschem Namen und nicht nachverfolgbar. Ich bin ja schließlich ein Profi.

Schnell schließe ich die Tür auf, ich bin zu neugierig ob mein heutiger Auftrag noch lebt oder in der Zwischenzeit gestorben ist. Seine Chancen sind ganz gut, dass er noch am Leben ist, schließlich habe ich das Messer ja stecken lassen sonst wäre er in der Zwischenzeit sicher verblutet. Weshalb dieser Auftrag sterben soll weiß ich nicht, aber das ist auch egal. Ich nehme es mir nicht raus über meine Opfer zu urteilen, ich bin ja selbst kein Unschuldslamm.

Als ich den Raum betrete empfängt mich der kupferne Geruch von Blut, aber der junge Mann liegt nicht mehr auf dem Tisch in der Mitte des Raumes. Sofort nehme ich eine Abwehrhaltung ein und schließe den Raum hinter mir ab. Der Raum hat keine Fenster und der einzige Ausgang ist die Tür, also muss er noch hier sein. Ich scanne das Zimmer ab. Rechts neben mir befindet sich die Ablage mit den Instrumenten, das Babyfon habe ich mit nach oben genommen, damit uns niemand belauschen kann. Hier ist alles sauber. An der linken Wand hängt meine Arbeitskleidung auch sie hängt so da wie ich sie aufgehängt habe. Um den Tisch in der Mitte herum ist der Fliesenboden blutig, aber ansonsten findet sich keine weitere Spur, der Abfluss unter dem Tisch ist zu klein, sodass ein Mann mit seiner Statur nicht hindurchpassen würde. Der Gartenschlauch hängt hinten in der Ecke ordentlich aufgerollt. Der Raum ist komplett leer. Aber wo ist meine Zielperson? Vorsichtig überwinde ich die kurze Strecke zu meinem Tisch.

Da liegt etwas! Ein Smartphone?

Merkwürdig. Ich nehme es in die Hand. Es ist ein handelsübliches Smartphone so wie auch ich es besitze, aber ich habe dem Mann vorhin das Handy abgenommen, sobald er gefesselt auf den Tisch lag und es mit einem Schnitzelklopfer zertrümmert.

Neugierig drücke ich auf den Home-Button, es ist nicht gesperrt, aber es sind Nachrichten eingegangen. Hat mir der junge Mann etwa noch etwas Hinterlassen.

Am liebsten würde ich so schnell wie möglich nach oben gehen und mich mit Amira in das nächstbeste Flugzeug setzen, aber irgendetwas sagt mir, dass ich die Nachrichten lesen sollte.

Schließlich klicke ich mit zitternden Fingern auf das Symbol. Ich habe mich getäuscht mein Opfer hat mir keinen Text hinterlassen sondern Fotos.

Das erste Bild zeigt meinen Auftrag von letzter Woche wie sie mit aufgeschnittener Kehle auf diesem Tisch liegt. Mein Herz schlägt mir mittlerweile bis zum Hals. Ich bin doch immer so vorsichtig gewesen. Wer weiß also von meinem kleinen Nebenerwerb?

Hastig scrolle ich weiter zum nächsten Bild. Es zeigt Amira und mich beim Einkaufen. Argwöhnisch drehe ich mich um, denn plötzlich fühle ich mich seltsam beobachtet. Dem Foto nach muss die Person direkt neben uns gestanden haben. Aber wie kann das sein? Das hätte ich doch bemerken müssen.

Das 3. Bild zeigt mein heutiges Opfer, die Augen des jungen Mannes sind starr zur Decke gerichtet und das Messer wurde entfernt. Mir wird schlagartig heiß und kalt. Jemand war hier, als ich oben bei Amira gewesen bin. Der Mann kann es schon mal nicht gewesen sein, denn auf dem Foto sieht er eindeutig tot aus. Wo ist denn mein Messer hingekommen?

Nervös schaue ich mich in dem kleinen Raum um, aber ich kann es nirgendwo sehen.

Ich zucke heftig zusammen, als das Handy schrillt und den Eingang einer neuen Nachricht anzeigt. Mit klopfendem Herzen tippe ich darauf, mir schwant Übles.

Das Bild wurde in Amiras Zimmer aufgenommen und die Zeitanzeige gibt an, dass es vor genau einer Minute geschossen wurde. Es zeigt Miras Bett und es ist leer!

So schnell mich meine Beine tragen sprinte ich die Stufen nach oben in unsere Wohnung. Ich sperre den Kellerraum nicht mehr ab, das ist jetzt nicht mehr wichtig. Als ich oben ankomme weiß ich, dass es zu spät ist. Die Wohnungstür steht weit offen und von Innen hört man kein einziges Geräusch. Trotzdem gehe ich in das Kinderzimmer, wie zu erwarten ist es leer.

Plötzlich klingelt das Handy in meiner Hand. Vor Schreck lasse ich das Handy fallen und es klingelt dumpf auf dem Teppichboden weiter.

Ich starre es wütend an, als hätte das Handy die Entführung meiner Tochter verursacht.

Schließlich atme ich tief durch und hebe ab.

„Wo ist meine Tochter?“, blaffe ich in das Handy.

„Aber Jacky, wer wird denn da so ungehalten sein.“, ich kenne die Stimme, aber ich kann sie nicht zuordnen. Mittlerweile laufen mir die Tränen unaufhaltsam über die Wangen und mein Magen verknotet sich. Ich würge trocken bei dem Gedanken, dass Amira angsterfüllt in einem Keller sitzt und weint. Was vermutlich etwas anmaßend ist, wenn man bedenkt, dass mein Opfer sich vor einer Stunde in der ganz gleichen Situation befunden hat.

„Geht es ihr gut?“, schluchze ich in den Hörer.

„Ihr geht es blendend.“, versichert mir der Anrufer, „Noch“

„Kann ich sie hören?“, flüstere ich und ärgere mich selbst darüber wie erbärmlich ich klinge, aber Amira ist meine Achillesferse. Ich kann nicht ohne sie.

„Mama?“, höre ich am anderen Ende ihre ängstliche Stimme, „Der Mann war wieder da, aber ich wollte nicht wieder rufen, weil du ja die Bösen wegmachen musst. Bist du sauer auf mich?“

Da fällt es mir wie Schuppen vor die Augen. Die ganze Zeit als Amira mir von ihrem vermeintlichen Traum erzählt hat, war die Person tatsächlich da. Wieso habe ich nicht richtig zugehört oder besser nachgesehen?

Ich hätte sofort reagieren müssen und die Stadt verlassen, sobald es auch nur die geringste Chance gab, dass Amira verletzt werden würde.

Bevor ich zu sprechen beginne atme ich noch einmal tief durch: „Nein, Mira natürlich bin ich nicht sauer auf dich. Geht es dir gut? Wo bist du?“

Eilig laufe ich durch die Wohnung und löse eine Diele aus dem Boden in meinem Schlafzimmer um nach meiner Notfallpistole zu kramen. Bisher musste ich sie nur selten benutzen, aber ich habe so die Befürchtung, dass es heute wieder soweit sein könnte.

„Komm zum alten Boxclub.“, schallt nun wieder die Stimme meines Peinigers durchs Telefon, „Weißt du wo das ist?“

Natürlich weiß ich wo das ist. Das ist der Drogenhotspot schlechthin und vermutlich der Ort, an dem Amira gezeugt wurde.

„Ach ja, komm gar nicht auf den Gedanken die Polizei zu informieren, sonst lasse ich dich hochgehen.“

Nach dieser Ansage höre ich nur noch das regelmäßige Tuten, das mir symbolisiert, dass er aufgelegt hat.

Ich verliere keine Zeit mehr und laufe los. Ich achte auf nichts mehr. Keine Ahnung wie viele Leute ich über den Haufen renne.

Als ich schließlich die graue Fassade des Boxclubs sehe bin ich völlig außer Atem. Ich nehme mir kurz die Zeit um tief durchzuatmen bevor ich die rote Doppeltür zum Club aufstoße. Normalerweise ist es hier um diese Zeit so voll wie in einem Bienennest und die Luft ist dann so dick, dass man das Gefühl hat durch ein graues Tuch zu atmen. Aber heute ist er komplett leer und still, was mich in meiner Vermutung bestärkt. Diese Entführung ist auf keinen Fall zufällig sondern von langer Hand geplant. Eine erstaunliche Ruhe ergreift mich und die ganze Aufregung ist wie weggeblasen.

„Amira! Wo bist du rufe ich laut?“, aber ich bekomme keine Antwort.

Ruhig laufe ich die große Halle ab. Als ich schließlich die dunkelste Ecke des Clubs erreicht habe spüre ich einen warmen Atem auf meiner rechten Wange. Sofort springe ich entsetzt einen Schritt zurück, aber es ist zu spät. Der Entführer meiner Tochter hält mich bereits in einer festen Umklammerung.

„Wo ist Amira?!“, brülle ich.

„Mama!“, höre ich ihre angsterfüllte Stimme und endlich kann ich den kleinen Schemen vor mir wahrnehmen. Soweit ich das beurteilen kann hat sie keine äußerlichen Verletzungen.

„Du Bastard! Wie kannst du nur meine Tochter entführen, sie ist erst 5!“, ich trete und schlage um mich, aber sein Griff wird keine Sekunde leichter. Plötzlich höre ich das Klicken einer entsicherten Waffe.

„Halt jetzt bloß still oder willst du etwa, dass deine Tochter zusieht wie ich dir das Hirn wegpuste!“, sofort halte ich still und der Mann gibt mich frei.

Ich stolpere auf meine Tochter zu und schließe sie fest in meine Arme. Stumme Tränen laufen über ihre Wangen und sie zittert vor Angst.Vorsichtig befühle ich ob meine Pistole noch da ist. Ich trage sie auf der Innenseite meines Oberschenkels unter einer weiten Jogginghose mit Reißverschluss auf dieser Höhe. Den Reißverschluss habe ich die ganze Zeit geöffnet gelassen um keine wertvolle Zeit zu verlieren. Erst als ich mich vergewissert habe, dass alles noch am rechten Fleck sitzt hebe ich meinen Blick und sehe in das Gesicht des Anrufers und stutze.

„Herr Wolf?“, frage ich verwirrt. Seine Hand zittert, aber die Pistole hat er weiterhin auf meinen Kopf gerichtet. Das hier ist definitiv nicht seine Welt, aber wieso macht er es trotzdem?

„Herr Wolf, es ist nichts passiert. Lassen sie Amira und mich gehen und es muss niemand davon erfahren. Sie werden uns nie wieder sehen.“, versuche ich ihn zu beschwichtigen.

„Wie es ist Nichts passiert?!“, sein Gesicht verzieht sich zu einer wütenden Fratze und er gibt einen Schuss ab. Die Patrone schlägt 5 Zentimeter entfernt von meinem Kopf in der Wand dahinter ein. Amira schreit entsetzt auf und ich halte sie noch ein bisschen fester.

„Du dreckige Schlampe hast meinen Sohn auf den Gewissen!“, erschrocken zucke ich bei seiner Anschuldigung zusammen. Ich hasse es, dass Amira solche schrecklichen Wörter hören muss. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie anscheinend weiß, was ich in unserem Keller veranstalte.

Fieberhaft überlege ich wer der Sohn von Herrn Wolf sein könnte. Der von heute Abend ist es schonmal nicht, dafür hat er das hier viel zu lange geplant.Egal wie sehr ich mich anstrenge, ich kann mich an niemanden mit dem gleichen Nachnamen erinnern.

Er schätzt mein Schweigen richtig ein: „Du kannst dich nicht mal mehr an ihn erinnern oder?“

Höhnisch lacht er und kommt ein paar Schritte auf mich zu. Er nimmt mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und hält die Mündung der Pistole an meine Schläfe.

„Du hast tatsächlich keine Ahnung.“, er schüttelt ungläubig den Kopf.

„Wenn er einer meiner Mandanten war…“, beginne ich, aber er unterbricht mich rüde.

„Das ich nicht lache, mein Junge, einer deiner Mandanten.“, finster blickt mich der Hausmeister unserer Wohngemeinschaft an.

„Mein Sohn, sitzt gerade zur Hälfte neben dir.“, verwirrt blicke ich mich um. Wie kann ein Toter neben mir sitzen? Und auch nur zur Hälfte? Da ist nur Amira. Da durchfährt mich die Erkenntnis wie ein Schock.

„Amiras Vater, aber wie?“, ich kann mich doch nicht mal an ihn erinnern.

„Mein Sohn, Julian, ist an einer verdammten Überdosis gestorben, weil er durch dich an Drogen geraten ist!“, entgegen aller Vernunft stehe ich auf und schiebe mich vor meine Tochter, das könnte hässlich werden. Die Pistole drückt weiterhin gegen meine Schläfe, aber ich zwinge mich in das Gesicht von Amiras Opa zu blicken, sie hat seine blauen Augen.

„Jetzt hören Sie mir mal zu, Herr Wolf. Ich bin weiß Gott kein unschuldiger Mensch, aber mit dem Tod ihres Sohnes habe ich ausnahmsweise nichts zu tun. Es war seine Entscheidung die Drogen zu nehmen, ich habe ihn nicht gezwungen. Vielmehr könnte ich mich beschweren, dass er mich geschwängert hat, aber das würde ich niemals tun, weil Amira das Beste in meinem Leben ist. Und jetzt lassen sie uns verdammt nochmal gehen!“, die letzten Worte brülle ich in sein Gesicht.

„Nein!“, schreit er. Dicke Tränen laufen über sein faltiges Gesicht und man sieht, dass sich die Trauer über die Jahre in seine Seele gefressen hat.

Bevor er abdrücken kann hebe ich mein Bein und ramme ihn mein Knie zwischen die Beine. Er brüllt vor Schmerz und krümmt sich. Ich packe Amira und renne los. Meinen Fehler bemerke ich erst, als ich den Schuss höre, der sich aus seiner Pistole löst. Ich schmeiße Amira und mich auf den Boden und schaffe es so gerade noch so der Kugel auszuweichen. Amiras Schreie werden lauter.

„Oh, nein. So leicht wirst du mir nicht entkommen.“, er stellt seinen Fuß auf meinen unteren Rücken und drückt mich weiter in den Boden.

„Amira“, flüstere ich, „Wenn ich `jetzt` rufe, rennst du so schnell du kannst. Hast du verstanden?“, sie nickt.

„Ich liebe dich“

„Wie haben Sie eigentlich von meinem Gewerbe erfahren?“, wende ich mich an Herr Wolf.

„Oh zuerst dachte ich du wärst nicht mehr als eine dreckige Hure. Ich wollte sehen, was du in diesem Keller treibst.“

„Um mein nächster Kunde zu werden?“, stichle ich und er drückt mich noch ein bisschen fester in den Boden. Ich stöhne vor Schmerzen auf.

„Als Hausmeister habe ich natürlich einen Universalschlüssel. Sobald ich die Frau entdeckt habe wusste ich, dass du noch viel schrecklicher bist, als ich es bereits angenommen habe. Von da an war es ganz einfach. In den Nächten schlich ich mich zu Amira um herauszufinden wie und wann ich sie dir am leichtesten wegnehmen kann. Du solltest den gleichen Schmerz wie ich spüren, als ich meinen Sohn durch dich verloren habe. Und das Handy hab ich dir einfach auf den Tisch gelegt, als du oben bei Amira wegen ihres Albtraums warst. Die Leiche habe ich hinten in den Garten gelegt mit einem anonymen Tipp an die Polizei.“

Er atmet heftig ein und aus.

„Jetzt!“, brülle ich und drehe mich schnell auf den Rücken. Mit einem Kick gegen die Hand des bereits ergrauten Hausmeisters schlage ich ihm die Pistole aus der Hand. Ich kämpfe mich auf die Beine und löse den Gurt, der meine Waffe an meinem Oberschenkel befestigt.

Herr Wolf stöhnt vor Schmerzen, vermutlich habe ich ihm das Handgelenk gebrochen.

Schnell schaue ich zur Tür und sehe gerade noch wie sie hinter Amira ins Schloss fällt, dann entsichere ich die Pistole und drücke ab.

Es gibt einen lauten Knall und dann ist es still. Aus Herr Wolfs Schädel wabert Blut und Hirnmasse, ich brauche nicht zu kontrollieren ob er tot ist.

Ich renne nach draußen, wo Amira mit versteinerter Miene zur Tür schaut.

„Es ist vorbei!“, Tränen der Erleichterung laufen über meine Wangen, als ich Amira in die Arme schließe. Ich erlaube es mir die Umarmung für ein paar Sekunden zu genießen. Meine Waffe habe ich in Herr Wolfs Hand gelegt, sodass es wie Selbstmord aussieht. Aber die Polizei wird nicht lange brauchen bis sie merkt, dass auf dieser Waffe und auf allen anderen in meinem Keller meine Fingerabdrücke kleben.

„Mama?“, Amira sieht mich mit tieftraurigen Augen an. Sie hätte das alles niemals sehen dürfen.

Ich hebe meine kleine Tochter hoch und gehe weiter.

„Amira, wir werden uns jetzt sofort in ein Flugzeug setzen und ein neues Leben anfangen. Ich verspreche dir, dass ich nie mehr wieder so eine Arbeit verrichten werde.“, sie nickt zögerlich.

„Aber du darfst auch niemals Jemanden erzählen, was du heute Abend gesehen hast.“, wieder nickt sie.

So schnell habe ich mein zweites halbes Leben verloren und ein ganzes Neues gewonnen. Ich drücke meiner Tochter einen Kuss auf die Wange: „Ich liebe dich so sehr!“

8 thoughts on “Zwei halbe Leben

  1. Liebe Christina,
    tolle Geschichte! 👏 Wirklich gut geschrieben. Spannend und bildlich. Die Hauptfigur wirkt glaubhaft und “lebendig”. Du konntest eine schön düstere Atmosphäre kreieren.
    Hat mir sehr viel Spaß gemacht zu lesen.
    Hab Dir gerne ein ♥️ da gelassen.

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

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