BlaulilieZweimal

 

„Handy in Reichweite, Pizza fertig, Eistee und Schmerztabletten griffbereit. Alles da. Dann kann ich ja los.“ Nicky griff nach ihrer Handtasche. „Und du kommst auch wirklich klar?“
„Oh Mann, Nicky. Ein gebrochener Zeh ist doch nicht lebensbedrohlich.“ Janine hob prüfend das Kühlpack von ihrem Fuß und betrachtete ihren geschwollenen kleinen Zeh.
„Kühl den schön weiter. Und Montag gehen wir dann zum Arzt. Der Zeh sollte besser geröntgt werden.“ Nicky kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy.
„Laut Google macht man sowieso nicht viel daran, sollest du als Krankenschwester eigentlich wissen.“ Janine grinste, als Nicky mit den Augen rollte. Doch dann hatte diese ihr Handy gefunden, nahm es heraus und scrollte bis zu der gewünschten Nummer. Sie hielt das pinkfarbene Telefon an ihr Ohr, wartete eine Weile und ließ es dann wieder sinken.
„Ist Jan nicht da?“, erkundigte Janine sich mitfühlend.
„Mein Bruder hat sein Handy mal wieder auf leise gestellt. Verdammt.“
Nicky scrollte erneut, hob dann das Telefon nahe an ihren Mund und sagte: „Jan, ruf mich unbedingt zurück. Code 33.“ Dann schob sie das Handy zurück in ihre Tasche.
„Code 33?“ Janine band ihre langen Haare zu einem Knoten und griff nach der Pizza.
Nicky grinste. „Familieninsider. Angeblich die Abkürzung der Cops für „Brauche dringend Hilfe.“ Und Jan liebt amerikanische Crime-Serien.“
„Du könntest ihm doch auch einfach sagen, dass du es verschwitzt hast, das Geburtstagsgeschenk für eure Mutter zu besorgen.“
Nicky zuckte nur mit den Schultern, ging zur Wohnungstür und winkte Janine zu.
„Warte, dein Spray.“ Janine zeigte auf die kleine Dose neben den Schmerztabletten und Nicky kam zurück. „Mein Pfefferspray. Für dunkle Krankenhausparkplätze zur Nachtzeit. Nimm die Schmerztablette und leg dich ins Bett.“ Sie warf die Dose in ihre Tasche.
„Ich gehe heute bestimmt nicht aus dem Haus.“ Janine nickte und nippte an dem Eistee.
Während sie die ganze Pizza vertilgte, ärgerte sie sich über ihre Dummheit am Morgen. Halb im Schlaf hatte sie ins Bad gehen wollen und dabei die Tür etwas zu schwungvoll aufgezogen. Leider stand ihr rechter Fuß im Weg und es hatte ihren kleinen Zeh erwischt. Schade um das Wochenende mit herrlichem Wetter. Seufzend erhob Janine sich und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht in Richtung ihres WG-Zimmers. Sie würde das Wochenende notgedrungen mit gestreamten Serien im Bett verbringen müssen.

 

Es läutete an der Wohnungstür. Ungeduldig, dann noch einmal. Janine seufzte. Wahrscheinlich hatte Nicky ihren Wohnungsschlüssel vergessen und dies erst am Auto bemerkt.
Sie humpelte los in Richtung Tür. Der Wohnungsschlüssel hing aber nicht am Haken im halbdunklen Flur. Nicky musste etwas anders vergessen haben. Janine öffnete die Tür. Der Flur war leer. Niemand zu sehen. Von einem der oberen Stockwerke hörte sie eine Männerstimme rufen.
„Wer ist denn da? Warum klinget jemand bei mir?“ Stille. Dann fluchte die Stimme etwas leiser über die verzogenen Nachkommen der Bewohner dieses Hauses und eine Tür fiel laut zurück ins Schloss.
Janine schüttelte den Kopf und wollte ihre Tür ebenfalls wieder schließen, als ihr etwas Dunkles auf der braunen Kokosfußmatte auffiel. Ein schwarzes Handy. Keine Ähnlichkeit mit dem rosafarbenen von Nicky. Auch kein teures Markenmodell. Aber der Besitzer musste es genau vor ihrer Tür verloren haben.
Janine streckte das Bein mit dem verletzten Zeh weit nach hinten und beugte sich vorsichtig nach unten, um es aufzuheben. Dann schloss sie die Tür, drehte es in den Händen und tippte zweimal auf den Bildschirm. Nichts. Natürlich nicht. Im dunklen Flur konnte sie nicht erkennen, ob sich ein Name oder eine Markierung darauf befanden. Sie nahm es mit in die Wohnküche. Kaum vor dem Fenster angekommen, schaltet sich der Bildschirm doch ein.
„Seltsam“, sagte Janine zu sich selbst und scrollte durch die Apps. Keine gespeicherten Kontakte. Keine Nachrichten. Aber Bilder waren da. Janine öffnete das erste. Eine dunkle Straße. Geschäfte an beiden Seiten. Janine erkannte die Einkaufsstraße in der Stadt. Das nächste Bild zeigte eines der Geschäfte aus größerer Nähe. Janine zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte diesen Ort erst vor kurzem in den Lokalnachrichten gesehen. In dem Juwelierladen war erst gestern eingebrochen worden. Auf dem Bild dasselbe Geschäft mit noch mit unbeschädigter Glasfront.
Keine weiteren Bilder mehr. Dafür aber ein Video. Ein einziges. Janine tippte es an. Wieder die dunkle Einkaufsstraße. Im Fenster hell erleuchtet die weniger wertvollen Waren der Nachtdekoration. Jemand musste das Handy auf der gegenüberliegenden Straßenseite so abgelegt haben, dass es die Ladenfront aufnahm.
Eine dunkle Gestalt lief auf den Laden zu, etwas Metallisches blitzte im Licht kurz auf. Ein ohrenbetäubender Knall als der Baseballschläger das Glas zertrümmerte. Die Alarmanlage sprang mit einem schrillen Heulton an, während der Dieb mit der rechten Hand in das Loch griff und einige Ausstellungsstücke herausnahm. Dann rannte er auf das Handy zu, hielt die Hand mit ein paar Halsketten in die Kamera und schob die Kapuze der Jacke zurück.
Janine ließ vor Schreck das Handy auf den Tisch fallen. Das Gesicht unter der Kapuze war ihr eigenes. Die Person mit dem gestohlenen Schmuck in der Hand war sie selbst.

 

Janine starrte das Handy auf dem Küchentisch an. Wie war das möglich? Sie war sicher, dass sie den Einbruch nicht begangen hatte. Aber die Diebin sah aus wie sie selbst. Kurz hatte sie daran gedacht, die Polizei zu verständigen. Aber was hätte sie dem Beamten erzählen sollen? Dass sie einen Handyfilm habe, auf dem sie zu sehen sei, wie sie einen Einbruch begeht, und dass die Aufnahme aber gefälscht sein müsse? Man würde sie doch für verrückt erklären und festnehmen.
Ihre beiden Eltern waren gestorben und auch sonst hatte sie keine Verwandten mehr. Nicky war die einzige Freundin, der sie so etwas anvertrauen konnte. Aber wahrscheinlich assistierte Nicky gerade bei einer Operation und konnte dem Chirurgen wohl schlecht erklären, dass sie jetzt unterbrechen und mit ihrer Freundin telefonieren müsse.

 

Das unbekannte Handy vibrierte kurz. Janine hielt die Luft an. Dann nahm sie es in die Hand. Sofort sprang der Bildschirm an. Das Ding musste eine Gesichtserkennung haben. Es erkannte ihr Gesicht. Also gehörte es der anderen Frau, der Diebin.

 

Janine fand eine SMS: „21 Uhr, die Brücke der Bahnüberführung hinter dem Wäldchen. Alleine, keine Polizei, kein Taxi.“
Janine kannte die Stelle. Abgelegen und einsam. Eine Stelle, die sie zu dieser Uhrzeit niemals alleine und ohne Nickys Pfefferspray aufgesucht hätte. Sie sah auf ihren Fuß herunter. Unter diesen Umständen war es ganz und gar unmöglich, die Unterführung zu erreichen. Sie kam ja kaum bis an die Tür.
Janine nahm das Handy, das bereitwillig seinen Bildschirm entsperrte und suchte nach der Nummer des Absenders der SMS. Das Handy stellte die Verbindung her und sofort hörte sie den Anrufbeantworter. Der Unbekannte musste sein Handy inzwischen ausgeschaltet haben. Janine überlegte und schrieb dann eine SMS an die unbekannte Nummer, in der sie erklärte, dass sie wegen einer Verletzung nicht kommen konnte.
Anschließend wählte sie Nickys Nummer und betete, dass sich diese gerade in einer Pause befinden möge. Doch Nickys Handy klingelte auf dem Küchentisch unter dem leeren Pizzakarton.

 

Es klopfte an der Tür. Janine sah auf die Uhr. Viel zu früh für Nicky. Außerdem hätte diese ihren Schlüssel bei sich gehabt.
Es klopfte erneut. Diesmal länger anhaltend. Janine brauchte einige Zeit, um zur Tür zu humpeln. Dabei stieß sie sich an einem Stuhl. Das musste die Person vor der Tür gehört haben. Denn jetzt hörte sie eine hastige Frauenstimme. „Wir müssen unbedingt reden. Man will dich reinlegen und es gibt da etwas über uns beide, das du wissen solltest.“
Janine wollte endlich Antworten. Sie öffnete die Tür.
Vor ihr stand die Frau mit dem vertrauten Gesicht. Sie lächelte. Aber das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. Eine schnelle Bewegung, ein metallisch blitzender Gegenstand, ein dumpfer Knall und dann nichts mehr.

 

Janine erwachte im Sessel der Wohnküche. Ihre Stirn brannte und sie sah ihre Doppelgängerin mit einem Messer in der Hand über sich gebeugt. Ein Schnitt, ihre Wange brannte und die Frau richtete sich mit einem Haarbüschel in Hand auf.
„Ups, Verzeihung.“ Die Fremde grinste und tippte mit der Hand an Janines Wange. Die Finger waren rot von Blut.
„Was?“ Janine versuchte, sich aufzusetzen. Alles drehte sich.
„Du hast wirklich keine Ahnung, wer ich bin, Schätzchen, oder?“
Janine wollte den Kopf schütteln, unterließ das aber sofort.
Die Frau, die aussah, wie sie selbst, lachte. „Würde ich an deiner Stelle nicht machen. Ich hab Erfahrung mit Schlägen gegen den Kopf.“
Dann kam sie ihr so nahe, dass sich ihre Nasen fast berührten.
„Du hast wirklich keine Ahnung! Kannst dir gar nicht vorstellen, dass noch jemand so aussiehst wie du, nicht wahr? Aber uns gab‘s schon immer zweimal. Schon bei unserer Geburt. Ja, das hat deine Mutter verschwiegen. Sie hat Zwillinge bekommen, allerdings nicht von diesem Miststück, das du „Papa“ nennen durftest. Der konnte gar keine Kinder kriegen. Und plötzlich merkt der dann, dass seine Holde gleich zwei von irgendeinem anderen Typen bekommt. Und da hat der einfach bestimmt, dass sie nur eines der beiden behalten durfte. Während für dich Geld nie ein Thema war, hat der mich bei irgendwelchem Pack abgeliefert. Einfach so entschieden, wer von uns beiden eine sorgenfreie und wer eine miese Kindheit bekommt.“
„Aber wieso hier, jetzt?“ Janine konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Du bist erbärmlich. Wieso, wieso? Ich habe es satt, in meinem miesen Leben zu bleiben. Zuerst wollte ich von dir Kohle für die Ungerechtigkeit. Üppig natürlich. Aber dann machte es klick bei mir. Wieso mit einem Teil zufriedengeben, wenn ich doch alles haben kann. Niemand weiß mehr, dass es mich zweimal gibt. Dafür hab ich gesorgt. Nun bist nur noch du im Weg. Stell dir vor. Ich mit deinem Namen.“
Janine spürte kühle Luft in ihrem Nacken und begriff, dass ihre langen Haare nicht mehr da waren. Zusammen mit dem Blut an ihrer Wange würde sie niemand erkennen.
„Stell dir vor, jemand wird gefunden“, die Fremde legte den Kopf zur Seite. „Nee, eher die Überreste. Das, was ein Zug eben von einem übrig lässt, wenn der drüber hinweg gerast ist. Glaub mir, sehr effektiv. Und dann finden die den passenden Ausweis in der Nähe. Weißt du, was dann passiert? Weißt du das? Nein? Die nehmen Gewebeproben.“
Die Doppelgängerin hielt das Messer direkt vor Janines Gesicht. Janine wurde blass.
„Ich sehe, du begreifst langsam. Man wird dich also finden, mit meinem Ausweis in der Hosentasche. Und was machen die dann? Die fahren zu meiner Bleibe und nehmen sich ein paar Proben. Was weiß ich? Hautschuppen oder Haare aus der Bürste. Und dann stellen die fest, dass unsere Gene gleich sind. Also völlig gleich, und dann, dann ist Svenja tot. Mich gibt es nicht mehr. Dann gibt es nur noch die eine Janine. Nämlich die, die hier wohnt und die aussieht wie Janine. Niemand wird Fragen stellen. Sorry. Aber ehrlich gesagt – nö, tut mir nicht leid für dich.“
Sie schob das Messer in ihren Hosenbund, griff hinter sich und nahm etwas Silbernes, das an der Wand gelehnt hatte. Der Baseballschläger. Blut klebte daran, ihr Blut. Janine kämpfte gegen die Übelkeit.
„Warte…“
„Wieso, willst du reden? Zwecklos. Ich …“

 

Ein Schlüssel klickte im Schloss.
„He, bist schon wach? Hab doch tatsächlich mein Handy liegen lassen. Dabei warte ich doch dringend auf den Anruf. Hat das Ding schon geklingelt?“ Nicky erstarrte mit Hand in ihrer Umhängetasche. Verwirrt blickte sie von Janine mit abgeschnittenen Haaren und blutverschmiertem Gesicht zu der Frau mit dem Gesicht von Janine.

 

„Gut, dass du kommst. Du musst mir helfen. Das Miststück will mich umbringen. Die kam hier rein mit diesem Schläger. Die redet wirr. Keine Ahnung, was die eigentlich von mir will.“ Die falsche Janine hob den Schläger, während sie auf Nicky einredete.
Janine stöhnte und murmelte dann etwas vor sich hin.
„Was?“ Nicky sah zu ihr und sogar die Doppelgängerin verstummte, den Schläger mit beiden Händen erhoben.
Janine bemühte sich, deutlich zusprechen. Übelkeit schnürte ihr die Kehle zu und die Welt kippte vor ihren Augen langsam zur Seite. Nur einmal zusammenreißen. Tief Luft holen.
„Code 33.“ Graue Schleier zogen sich vor ihren Augen zusammen. Sie hörte ein Zischen, den Schrei der Frau, ein Poltern mit dem etwas Schweres zu Boden fiel. Ihr letzter Gedanke war die wohlige Gewissheit, dass Nicky verstanden und offensichtlich das Pfefferspray in ihrer Handtasche gefunden hatte.

 

Stimmengewirr. Kopf wie in Watte.
„Janine?“ Eine Männerstimme. Übelkeit. Sie würgte. Eine Spuckschale vor ihrem Gesicht.
„Hier rein bitte. So, vorsichtig aufrichten.“
In der Schale schwammen rote Salami und grüne Paprika in braunem Brei.
„Schon vorbei. Die Augen offenhalten. Tief durchatmen. Schauen sie mal her. Nicht erschrecken. Ich leuchte sie mit hellem Licht an.“
Janine schloss geblendet die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie einen Mann in rotgelber Jacke. Sie fuhr sich mit der Hand an die Stirn. Ein Pflaster unter verklebtem Haar.
„Sie wird Kopfschmerzen haben, Ich lass ihnen was da. Sie wissen ja, wie mit der Gehirnerschütterung umzugehen ist.“
Nicky antwortet etwas, das aber nicht bis zu Janine durchdrang. Sie erkannte ihr eigenes Zimmer. Sie lag im eigenen Bett. Weitere Gestalten bewegten sich im Nebenzimmer. Dunkle Jacken und Hosen, deutlich lesbare Polizeischriftzüge darauf.
Nicky kam wieder ans Bett und hielt unbeholfen Janines Hand. „Mensch Janine.“
„Wo ist sie? Ich meine, die andere. Svenja?“
„Du kennst sie?“
„Nein. Sie kam einfach her. Ich meine, sie ist meine Zwillingsschwester. Doch, in echt.“
Janine atmete tief durch. „Und sie wurde weggegeben. Meine Mutter hat mich behalten. Und jetzt will sie mich beseitigen und ich werden. Das hätte sie geschafft, wenn du nicht … Wo ist sie überhaupt? Mann ist mir schlecht.“
„Ruh dich aus. Ich habe die Polizei gerufen und die haben sie abgeführt. Wahrscheinlich erzählt sie ihre haarsträubende Geschichte jetzt auf dem Revier. Die Polizisten haben eure beiden Fingerabdrücke genommen. Deine werden sie hier auch in der ganzen Wohnung finden. Ihre aber nicht. Fingerabdrücke unterscheiden sich zum Glück auch bei eineiigen Zwillingen. Willst du eine Tablette?“
„Nein“, Janine vermied es, den Kopf zu schütteln und ließ sich zurück in die Kissen sinken.
Nicky tippte sanft mit dem Finger an das Pflaster auf der Stirn. „Du hast eine ordentliche Platzwunde und einen Schnitt unter dem linken Auge. Aber wahrscheinlich bleiben keine Narben.“
Janine schloss die Augen. Keine Narben. Wenn sie Glück hatte, würde sie wieder genauso aussehen, wie die Frau mit ihrem Gesicht, die jetzt bei der Polizei verhört wurde.

 

One thought on “Zweimal

  1. Schöne Geschichte! Dein Schreibstil macht das lesen zu einem richtigen Genuss!
    Ich bin prinzipiell nicht so der Freund von diesem „Zwillingsding“ das leider viele hier gewählt haben. Vielleicht auch gerade wegen der Häufe. Dran bleiben und weiterschreiben! Die nächste Chance kommt bestimmt 🙂

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