BirgitZSpieleabend

Als ich das Smartphone fand dachte ich mir nichts dabei. Als Barkeeper bin ich immer einer der letzten der die Disco verlässt und da finde ich im ersten Licht des neuen Tages alles Mögliche, das betrunkene Gäste verloren haben, ohne es überhaupt zu merken. Ich hob das Telefon also auf und schaute ob es versperrt war, oder ob gar der Akku schon aufgebraucht war. Ich drückte auf den Sperrknopf; und tatsächlich, es hatte noch Saft. 99% und das nach einer durchzechten Partynacht? Etwas seltsam kam mir das schon vor, aber es gab genug Gäste, die in irgendeiner Ecke eine Steckdose fanden und ihr Handy anhängten. Übrigens ist die Steckdose auch der häufigste Ort, an dem wir vergessene Smartphones in der Disco finden. Der Sperrbildschirm war nichts Besonderes, ein verschwommenes Foto von einer Person, die so nicht zu erkennen war. Vermutlich wird das Foto schärfer, wenn man das Smartphone entsperren würde, da stieß ich jedoch an meine Grenzen, denn das Handy hatte einen Sperrcode eingerichtet. Ich schaute es mir noch einmal von allen Seiten an, aber ich fand absolut gar nichts. Das Handy hatte keine Schutzhülle, was für die heutigen Tage schon ungewöhnlich war. Es hatte nicht einmal irgendwelche Schrammen oder Kratzer, es war praktisch fabrikneu. Das wird sich jemand wohl ziemlich ärgern, wenn er erst mal nüchtern ist und merkt, dass sein kostbares, neues Smartphone verschwunden ist. Ich war sehr müde, schließlich war der Job als Barkeeper nur ein Nebenverdienst zu meinem schlechtbezahlten Hauptberuf und so war ich an diesem Samstagmorgen schon fast 24 Stunden durchgehend wach. Hätte ich einen klaren Gedanken fassen können, wäre ich vermutlich in die Disco zurück und hätte das Handy beim Portier, der immer als letztes geht und abschließt, abgegeben. Aber ich konnte eben keine zwei Zentimeter weit denken und so nahm ich es mit nach Hause. Ich könnte es am nächsten Abend wieder mitnehmen oder nach einer Runde Schlaf zur Polizei bringen. Ich könnte auch schauen, ob Notfallnummern hinterlegt sind, auf die ich auch im gesperrten Modus zugreifen kann. Aber das war eine Aufgabe für später, für ein wacheres Ich.

Als ich nach einer halben Stunde Fußweg endlich zu Hause ankam und eigentlich nur mehr ins Bett fallen wollte, sah ich, dass eine Nachricht am mysteriösen Smartphone eingegangen ist. Erst jetzt fiel mir auf, wie ungewöhnlich es war, dass keine verpassten Anrufe, keine anderen Nachrichten oder Mails angezeigt wurden. Nur diese eine Nachricht, angekommen vor fünf Minuten, gesendet von John Doe. „1407 – JETZT“. Die Zahl stich mir sofort in die Augen, Erinnerungen kamen hoch. Der 14. Juli 2015 – der Tag des Freispruchs. Der Tag an dem sich mein Schicksal entschied.

*

Ich kann mich noch ganz genau an den Abend erinnern, an dem es passiert war. Ich werde es wohl nie vergessen können. Es war ein warmer Sommertag, meine Freunde und ich dachten, wir wären unsterblich. Wie es viele in unserem Alter wohl dachten. Wir gingen auf Konzerte, in die Disco oder machten, wie heute, einen Grillabend, auf einem öffentlichen Grillplatz. Wenn alle nur in einer kleinen Wohnung, teilweise zu dritt oder viert wohnten, musste man für solche Aktivitäten eben ausweichen. Wir hatten Bier, genug zum Grillen für eine ganze Fußballmannschaft und laute Musik. Wir waren gut gelaunt und dachten uns nichts dabei, als sich dieser Mann, ohne zu fragen, zu uns setzte, sich vorstellte und jedem von uns eine Flasche Bier reichte. Wir freuten uns einfach über das Gratisbier und was soll einer Gruppe von elf Personen schon passieren, er wird uns ja nicht allen KO-Tropfen ins Bier gegeben haben.

Nach und nach gingen immer mehr meiner Freunde nach Hause und als die Sonne langsam begann aufzugehen, waren nur mehr der Fremde, dessen Name ich schon wieder vergessen hatte, und ich übrig. Ich war ziemlich betrunken und als ich versuchte aufzustehen, drehte sich alles um mich herum. „Pass auf! Nicht, dass du dir noch weh tust. Soll ich dich nach Hause bringen? Du verirrst dich in diesem Zustand nur.“
Ich dachte mir nichts bei dem Angebot, schließlich war ich männlich und Entführungen und Vergewaltigungen passierten normalerweise doch nur den sexy Mädchen, die sich mit 16 so anzogen, als wären sie 20 und ihre Brüste bis in ihr Gesicht hochpushten. Für mich ging von dem Fremden keine Gefahr aus und so sagte ich ihm, wo ich wohnte, oder ich probierte es zumindest.

*

Plötzlich war ich, trotz des Schlafmangels, hellwach. Ich erinnerte mich noch genau an die Gerichtsverhandlung und das Urteil. „Unschuldig wegen Unzurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt – Einweisung in eine psychiatrische Anstalt bis zu einer Besserung des Geisteszustandes“. Das war nun fünf Jahre her. Aber das musste ein Zufall sein! Dieser John Doe, wer auch immer er war, konnte nicht wissen, dass mir dieses Datum soviel bedeutete. Vor allem konnte er nicht ahnen, dass ich das Handy finden würde. Bestimmt war es nur der Sperrcode und der Besitzer des Telefons vermisste es bereits und hat seinen Freund gebeten, diese Nachricht zu schicken, damit ein ehrlicher Finder es entsperren konnte.
Da ich nun sowieso nicht einschlafen konnte, versuchte ich das Smartphone mit dem zugesendeten Code zu entsperren. Ich musste gar nicht nochmal auf die Nachricht schauen, ich kannte die Zahlenkombination. Und das Telefon entsperrte sich tatsächlich. Ich wollte sofort auf die Nachricht von John zugreifen, doch dann sah ich das Hintergrundbild.
Es war ein Foto von mir und gleichzeitig auch nicht. Ein Foto meines alten Ichs, doch das stimmte auch nicht ganz. Ein Foto von einem Ich das es jetzt nicht mehr gibt. Dieses Ich ist verschwunden, wie ich hoffte, für immer. Das Bild ging vor fünf Jahren durch alle Medien, als die Gerichtsverhandlung das Einzige war, worüber alle redeten. Das war jedoch Vergangenheit. Ich kam ins Schutzprogramm, bekam eine neue Identität, psychologische Betreuung, zog um und ließ all das hinter mir. Ich hatte nichts mehr gemein mit dieser Person von damals und niemand hier wusste davon. Oder etwa doch?
Was hatte es mit diesem Smartphone auf sich? Wieso ist ein Bild von mir als Hintergrund eingerichtet? Wer ist dieser John Doe? Und wieso passiert mit das gerade jetzt, wo ich mich endlich in meinem neuen Leben zurechtgefunden habe?
In dem Moment erreichte mich eine neue Nachricht auf dem gefundenen Smartphone. „Schau in die Bildergalerie!“
Was ich dort fand, verschlug mir den Atem.

*

Das nächste an das ich mich erinnern konnte, war Dunkelheit. Dunkelheit, Kälte und eine unangenehme Feuchtigkeit, die mit dem entsprechenden begleitenden Geruch in der Luft lag. Mein gesamter Körper schmerzte, als wäre er ein einziger blauer Fleck und ich konnte mich kaum bewegen. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Arme und Beine waren gefesselt, mit viel Mühe und unter großen Schmerzen schaffte ich es gerade einmal mich aufzusetzen. Ich konnte nichts sehen oder hören und mich nicht bewegen. Anscheinend passierte dies doch nicht nur Frauen! Aber wo war ich hier? Wie bin ich hier gelandet? Und wieso?

Es verging Zeit bis ich auch nur auf eine dieser Fragen eine Antwort bekommen sollte. Wieviel kann ich nicht sagen? Ich wusste nicht, wie lange ich schon hier war, oder welcher Tag überhaupt war. Ich hatte keine Möglichkeit die Zeit in diesem Gefängnis einzuschätzen. Stunden fühlten sich an wie Sekunden, Sekunden wie Stunden. Es war als wäre die Zeit stehen geblieben.

Irgendwann hörte ich Schritte. Ich wusste nicht ob ich Angst oder Hoffnung haben sollte. War es derjenige, der mich hierhergebracht hat oder jemand der zu meiner Rettung kommen würde? Bestand überhaupt die Hoffnung auf Rettung? Haben meine Freunde schon bemerkt, dass ich nach unserem Grillabend nie zu Hause angekommen war? Haben sie vielleicht sogar schon die Polizei informiert?
Die Schritte kamen immer näher. „Wer sind Sie?“ Ich bekam keine Antwort. Meine Stimme war auch nicht sehr laut. Es bereitete mir große Schmerzen zu sprechen und das Ergebnis war ein leises Krächzen. Was hatte dieser Wahnsinnige vom Grillplatz mit mir gemacht?

Die Schritte stoppten und ich hörte das Geklimper von Schlüsseln. Wer auch immer auf dem Weg zu mir war, war hinter einer noch verschlossenen Tür. Beziehungsweise war ich derjenige, der hinter der Tür war. Als die Tür aufging, sah ich nur ein Rechteck aus Licht, in dem eine Schattengestalt stand, mächtiger und grusliger als jedes Albtraumwesen, dass man sich je erträumen könnte.

Die Gestalt aus Schatten sperrte die Tür wieder hinter sich ab und schaltete das Licht in meinem Gefängnis an. Es kam zwar nur von einer einzigen, nackten Glühbirne, doch nach der vollkommenen Dunkelheit, brannte es in meinen Augen und meinem Kopf wie Feuer. Ich konnte kaum etwas erkennen. Langsam erkannte ich die Backsteinwände des Raumes. Der Raum war winzig, höchstens drei Meter pro Seite. Ich saß in der Mitte des Raums, direkt unter der Glühbirne und neben mir stand der Mann, der mir erst vor kurzem am Grillplatz ein Gratisbier anbot, Jetzt wirkte er nicht mehr so harmlos!

*

Ich hatte Angst vor dem, was ich in der Bildergalerie finden würde. Und gleichzeitig war es mir bereits klar.
Ich spürte, wie die Gefühle von damals wieder in mir hochkamen. Ich konnte das nicht zulassen, also legte ich das Smartphone zur Seite und ging ins Badezimmer. Irgendwo im Spiegelschrank sollte ich noch etwas von den Pillen haben, die mir meine Psychologin damals verschieben hatte. Vermutlich wäre es das Beste sie zu kontaktieren in dieser Situation, jedoch möchte ich sie nicht mit Problemen belasten, die vielleicht gar keine sind. Vielleicht erlaubt sich ein Jugendlicher, der von mir keinen Alkohol bekommen hat, nur einen Scherz mit mir. Einen makabren Scherz, der Sorte „überhaupt nicht lustig“. Das wird es vermutlich sein. Er wird das Foto von mir irgendwo im Internet gefunden haben und lacht sich jetzt mit seinen Freunden irgendwo schlapp über mich. Ich entschied mich also dafür meine Psychologin nicht anzurufen, auch die Polizei wollte ich nicht kontaktieren.

Ich ging zurück ins Schlafzimmer, dort lag das Smartphone auf meinem Bett. Eigentlich sah es aus, wie ein ganz normales Schlafzimmer eines jungen Menschen, doch ich sah nur dieses Handy. Ich wollte es nicht mehr anfassen, hatte die irrationale Angst mir daran die Finger zu verbrennen. Doch ich musste wissen, wer hier seine Spielchen mit mir treibt. Ohne es wirklich zu wollen, rief ich also die Bildergalerie des Smartphones auf. Was ich dort fand übertraf sogar meine schlimmsten Befürchtungen. Ich fand Fotos von meinem Kellerverlies. Bilder von dem Eingang in den Bunker im Wald. Bilder von den Hämatomen, den Fesseln,… Bilder die nie jemand zu Gesicht bekam, Bilder die nur in der Gerichtsverhandlung gezeigt wurden, die nie an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Ich scrollte durch die Bilder und ganz unten fand ich Bilder von mir in der Disco. Ich als Barkeeper. Mein neues Ich. Mein Ich das mit der Vergangenheit abgeschlossen hat. Wer hat entschieden, dass ich diesen Frieden nicht verdient habe?

Ich wusste nicht mehr weiter, also beschloss ich den einzigen Kontakt, der im Telefon eingespeichert war, zu antworten: John Doe.
„Wer bist du?“
Ich musste nicht lange auf eine Reaktion warten, wenige Sekunden später ploppte eine Nachricht von John auf, doch eine Antwort auf meine Frage bot diese nicht.
„Lass uns ein Spiel spielen!“

*

„Ich würde gerne mit dir ein Spiel spielen!“
Ich sollte schon bald erfahren, dass dieser Wahnsinnige genau das meinte. Ein Spiel spielen! Direkt vor meinen Augen packte er ein Kartendeck aus, selbst da konnte ich mir noch nicht vorstellen, was gleich kommen sollte.
„Weißt du, mir ist immer so unheimlich langweilig. Ich habe nicht wirklich Freunde und dann habe ich euch auf diesem Grillplatz gesehen und ich fand euch sofort sympathisch. Ich bin froh, dass du solange mit mir geblieben bist, denn zu dir habe ich sofort diese besondere Verbindung gespürt…“
„Wer sind Sie? Was haben Sie mit mir gemacht?“ Ich war verzweifelt, ich wollte einfach nur Antworten auf meine Fragen und dieser Typ schwafelte irgendetwas von einer besonderen Verbindung!
„So geht das aber nicht! Lass uns beide ruhig bleiben! Ich werde dir jetzt die Regeln erklären und dann werden wir spielen. Verstanden?“
Der Mann hatte eine bedrohende Ruhe in seiner Stimme, sodass ich es nicht wagte noch einmal zu sprechen und nur nickte.
„Wir werden jetzt einige Runden Mau-Mau spielen. Gewinnst du, darfst du mir eine Frage stellen. Gewinne ich, werde ich dir Schmerzen bereiten.“
Ich war sprachlos. Ich konnte nicht glauben, was dieser Mann hier von mir wollte!
Er mischte die Karten und teilte uns beiden am Boden aus. Als er fertig war ging er mit langsamen Schritten hinter mich und aus meinem Blickfeld.
„Ich werde dir jetzt die Handfesseln lösen, danach wirst du nach den Karten greifen und sie dir ansehen. Du wirst nicht versuchen dich zu wehren, wir werden eine entspannte Runde Mau-Mau spielen und dann sehen wir weiter.“
Als er die Fesseln löste, konnte ich mich endlich etwas freier bewegen. Ich drehte meine Handgelenke und versuchte wieder ein Gefühl in meine Finger zu bekommen. Als ich versuchte meine Hände vor den Körper zu ziehen, spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner linken Schulter.

*

Mir war nun klar, dass wer auch immer hinter John Doe steckte keine Scherze machte. Er kannte mich, kannte meine Geschichte und ich hatte keine Ahnung wer er war. Mir war jedoch auch klar, dass er auf keine meiner Nachfragen nach seiner Identität reagieren würde.
„Wie lauten die Regeln?“
Mir war klar, dass ich mitspielen musste. Wenn mir mein jetziges Leben lieb war, musste ich tun was John Doe von mir verlangte. Bevor ich mir einen weiteren Plan zurechtlegen konnte, kam schon die unheilbringende Nachricht mit den Spielregeln.
„Ich werde dir fünf Fragen stellen, du hast jeweils zehn Sekunden diese zu beantworten. Wenn du drei richtig beantworten kannst, lasse ich dich in Ruhe.“
„Was passiert, wenn ich es nicht schaffe?“
„Dann wirst du Schmerzen verspüren.“
Ich konnte es nicht fassen, es war alles wie damals. Aber wie wollte dieser John Doe mir Schmerzen bereiten? Wie sollte er mich finden? Wusste er etwa auch wo ich wohnte? Oder sollte ich auch die Schmerzen über das Smartphone verspüren? Hat er einen Elektroschocker in das Telefon eingebaut, den er aus der Ferne kontrollieren konnte? Hat er vor mein Leben zu zerstören? Ich hatte keine Zeit mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn die erste Frage kam bei mir an.
„Wer bist du?“
Ich wusste nicht, was dieser Verrückte von mir wollte. Ich hatte eine 50:50-Chance richtig zu liegen, also entschied ich mich für meine neue Identität. „Simon Andalach.“
„Falsch!“

*

Natürlich verlor ich die erste Runde, was nicht anders zu erwarten war. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging er aus dem Raum und kam nach kurzer Zeit mit einem Polizeischlagstock wieder. Er stellte sich hinter mich und verpasste mir fünf schnelle Schläge auf den Rücken.
„Weil es dein erstes Spiel war, war dies nur eine Kostprobe davon, was passiert, wenn du verlierst. Gib die nächste Runde aus!“
Noch immer zeigte der Mann keine Gefühlsregung. Seine Stimme hatte noch immer diese unheimliche Ruhe, die es unmöglich machte, sein Motiv zu erkennen. Was trieb ihn an? Hass? Lust? Machte ihn all das hier an? Machte es ihm Spaß? Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, musste ich wohl gewinnen und so teilte ich die Karten für eine weitere Runde aus.
Auch diese Runde verlor ich. Dieses Mal zwang er mich, mich auf den Rücken zu legen und er schlug mit dem Schlagstock auf meinen Brustkorb ein, bis er das Knacken von gebrochenen Rippen hören konnte.

*

Kurz darauf kamen zwei weitere Nachrichten bei mir an.
„Vielleicht hast du noch nicht ganz verstanden, wie das Spiel funktioniert. Du solltest die Fragen, wenn möglich, richtig beantworten. Ich gewähre dir eine zweite Chance.“
„Wer bist du?“
Ich entschied mich dieses Mal für die zweite Möglichkeit.
„Andreas Schuster.“ Der Name, den ich eigentlich abgelegt hatte, der einem Mann gehörte, der heute nicht mehr existierte.
„Richtig!“

*

Die dritte Runde konnte ich für mich entscheiden und der Verrückte erlaubte mir eine Frage zu stellen. Ich überlegte nicht lange, was ich vielleicht hätte tun sollen.
„Wer sind Sie und wieso tun Sie mir das an?“
Für einen kurzen Augenblick starrte er mich nur ausdruckslos an. Ich dachte schon, dass er es sich anders überlegt hatte und mich, statt mir meine Frage zu beantworten, wieder schlagen würde.
„Eigentlich sind das zwei Fragen, doch ich werde nicht so genau sein, denn du kennst die Antwort auf beide Fragen schon. Ich habe mich dir und deinen Freunden am Grillplatz vorgestellt, also kennst du meinen Namen und ich habe dir erzählt, wie schrecklich langweilig mir ist ohne Freunde, die mit mir Spiele spielen.“
Mir wurde klar, wenn ich nützliche Antworten wollte, musste ich präzise Fragen stellen. Doch die Schmerzen waren zu groß, um auch nur eine Frage zu formulieren, die mir helfen konnte.

*

„Wo bist du?“
Ohne viel darüber nachzudenken, beschloss ich den Anonymen am anderen Ende der Chatverbindung anzulügen. Sollte er wirklich wissen wo ich wohne und auf dem Weg hierher sein, konnte ich so vielleicht Zeit gewonnen.
„In der Disco.“
„Falsch!“
Wie konnte er wissen, dass das eine Lüge war? Vielleicht war es auch nur geraten. Oder er beobachtete mich. Dann fiel mein Blick auf den oberen Rand des Bildschirms. Der Ortungsdienst war eingeschalten. Dieser Verrückte wusste bis vor kurzem vermutlich gar nicht wo ich wohnte. Bis ich dieses Höllending von einem Smartphone in meine Wohnung mitnahm.

*

Auch die nächsten Runden konnte ich nicht für mich entscheiden. Als Strafe brach er mir den Fuß, renkte meine Schulter aus und schnitt mir die Wange, mit einem rostigen Messer auf.
Mit jeder verlorenen Runde, verlor ich auch ein Stückchen Hoffnung hier lebend heraus zu kommen. Ich dachte nicht, dass es noch schlimmer kommen konnte. Doch dann verlor ich zwei weitere Runden.
Nach der ersten Runde holte der Wahnsinnige einen Campingkocher aus einem anderen Raum und hielt meine Hand in die Flamme, bis sich Brandblasen bildeten und diese aufplatzten. Mein zweiter Verlust endete darin, dass er mit einer Akkubohrmaschine ein Loch in meine Kniescheibe bohrte. All diese Peinigungen wurden mir zu viel und als er den Akkubohrer aus meinem Knie zog, verlor ich das Bewusstsein.

*

Dieses Mal bekam ich keine zweite Chance. Das bedeutete, dass ich mich konzentrieren musste. Schließlich durfte ich nur mehr eine Frage falsch beantworten. Genau in diesem Moment bekam ich die schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens. Ich ging ins Badezimmer, um mir Schmerzmittel zu holen. Zur Sicherheit nahm ich gleich die dreifache Dosis. Das Smartphone ließ ich dabei auf meinem Bett liegen, was sich als Fehler erwies, denn während meiner Abwesenheit, stellte der Verrückte die nächste Frage.
„Was ist dein Lieblingsspiel?“
Ich hatte gerade erst die Frage gelesen und überlegte, was er von mir wollte, als eine weitere Nachricht eintraf.
„Noch fünf Sekunden!“
Ich überlegte nicht weiter und schrieb das Erste, das mir einfiel.
„Mau-Mau.“
„Richtig!“

*

Als ich wieder aufwachte, saß der Mann, der mir all diese Schmerzen bereitet hatte, seelenruhig vor mir, ohne eine Miene zu verziehen. Vor mir lag ein kleiner Stapel Karten. Er hatte bereits die nächste Runde gegeben. Ich wusste, dass ich gewinnen musste. Ich würde keine einzige seiner Strafen mehr überleben. Überraschenderweise konnte ich die Runde gewinnen, obwohl ich immer noch nicht ganz wach war und sich der Raum um mich drehte. Nun musste ich die richtige Frage stellen. Doch welche Frage konnte mich hier herausbringen? Oder wäre die richtige Frage, die ob er mich nicht auf der Stelle umbringen konnte, um all dem hier zu entkommen? Mir fiel eine Frage ein und an die klammerte ich jede Hoffnung.
„Wie kann ich von hier entkommen?“
Als ich die Frage fertig gestellt hatte, begann mein Gegenüber zu lächeln. Noch nie zuvor hatte ich so Angst.
„Wenn du das nächste Spiel gewinnst, lasse ich dich gehen.“

*

Zwei Fragen noch und ich musste nur eine richtig beantworten. Langsam bekam ich wieder Hoffnung, dass mein Leben doch nicht hier und heute zu Ende sein sollte. Dann kam die nächste Nachricht.
„Wer bin ich?“
Ich begann schon den Namen John Doe zu tippen, denn ich hatte noch immer keine Ahnung, wer mir das antun könnte. Mir war klar, dass er das nicht hören wollte, doch ich konnte auch nicht einfach irgendeinen Namen raten. Da waren die Chancen genauso hoch, wie mit John Doe. Doch dann fiel mir ein, dass ich damals nicht der Einzige war, der ins Schutzprogramm aufgenommen wurde. Es gab nur eine Person, die soviel wissen konnte und die mich wiedererkennen würde. Ich habe an diesen Namen, seit dem Tag des Freispruchs nicht mehr gedacht und nun tippte ich ihn in das Smartphone.
„Joshua Hoffner?“
Ich betete, dass dies die Antwort war, die der Verrückte hören wollte. Ich kannte seine neue Identität nicht. Wie denn auch? Das Warten auf die nächste Nachricht fühlte sich wie eine Ewigkeit an.

*

Nach dem wichtigsten Mau-Mau-Spiel meines Lebens, das sich für mich in die Länge zog wie Kaugummi und bei dem ich vor Nervosität und Anspannung fast wieder in Ohnmacht gefallen wäre, lernte ich, dass der Wahnsinnige ein Mann war, der zu seinem Wort stand. Ich gewann das Spiel, der Mann packte die Karten ein, löste meine Fußfesseln und ging, ohne das Licht abzuschalten oder die Tür hinter sich zu schließen. Ich hatte Angst, dass dies nur eine Falle sein könnte, doch es war auch meine einzige Hoffnung, also kroch ich los. Mein Körper verdankte es mir mit unbeschreibbaren Schmerzen.

Irgendwann erreichte ich den Ausgang des Bunkers. Ich war in einem Wald, es war helllichter Tag, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten. Die Welt außerhalb des Bunkers hatte sich weitergedreht, für den Wald war es, als wäre nie etwas passiert. Aus der Ferne hörte ich Polizeisirenen.

*

„Ich stelle die Fragen! Du hast noch eine letzte Chance.“
Was hatte dies nun zu bedeuten? Lag ich falsch? Oder hatte ich etwa recht und mein einziger Fehler war es, ein kleines Fragezeichen an das Ende des Namens zu setzen? Doch ich konnte mir jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Ich brauchte meine gesamte Energie für die letzte Frage.
„Wo bin ich?“
Was sollte diese Frage jetzt? Wie konnte ich das wissen?
„Noch fünf Sekunden!“
Ich verzweifelte und war kurz davor das Smartphone gegen die Wand zu werfen, doch meine Hände gehorchten mir nicht. Die Nachrichten kamen nun im Sekundentakt, was mir auch nicht half darüber nachzudenken, was ich machen sollte.
„3!“
„2!“
„1!“
„Zeit abgelaufen!“
Fast zeitgleich mit der letzten Nachricht hörte ich, wie jemand gewaltsam versuchte in meine Wohnung einzudringen. Ich sah noch das Gesicht von Joshua Hoffner, der mit einem Baseballschläger auf mich zukam, dann wurde es dunkel um mich.

Als ich wieder aufwachte, befand ich mich in einem kleinen Kellerabteil. Ich war an Händen und Füßen gefesselt und vor mir stand ein Mann mit einem Kartendeck in der Hand.
„Lass uns eine Runde Mau-Mau spielen!“
Wir waren genau an dem gleichen Punkt, wie vor fünf Jahren. Nur waren dieses Mal die Rollen anders verteilt!

One thought on “Spieleabend

  1. Moin Birgit,

    eine tolle Kurzgeschichte die du uns hier präsentierst!

    Am Anfang wirkte sie etwas schwerfällig, aber das durchhalten hat sich gelohnt. Sie wurde von Minute zu Minute, von Satz zu Satz spannender, fesselnder und man konnte sich der Dramatik nicht entziehen.

    Die Rückblicke waren richtig gut eingesetzt und passten klasse zu der Gesamtsituation.

    Deine erste Geschichte? Dann sei stolz darauf und mach so weiter. Wirklich gute Storie!

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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