RaphaelMatejuUnboxing

 

Unboxing – Raphael Mateju

 

 

1

 

 

Die erste Mystery Box bestellten Ferguson und Drake noch aus Spaß im Dark Web, weil sie dachten, es wäre guter Stoff für ein YouTube Video. Dabei ahnten sie nicht im Geringsten, welch eigenartige Dinge sich in der Box verbergen würden. Kinderschuhe, eine Spieluhr auf deren Innenseite I LOVE U in roter Farbe stand, eine Schultasche mit den Initialen B.B., ein altes Familienfoto und, was Ferguson schließlich dazu brachte, sich zu übergeben, die Backenzähne eines Menschen.

„Krank“, murmelte Drake und hielt sich den Handrücken vor den Mund.

„Oh ja. Hast du alles auf Band?“

„Sogar den Part wo du gekotzt hast“, lachte Drake und offenbarte seine Hasenzähne.

Noch am selben Tag kümmerten sie sich um den Schnitt. Ferguson bearbeitete abschließend noch das Blond seiner Locken, retuschierte den Pickel über Drakes buschigen Augenbrauen und lud es dann im Internet hoch.

„Also wenn das keine Klicks bekommt“, meinte Ferguson erwartungsvoll.

Bei der zweiten Mystery Box, die in der Woche darauf ankam, war es ähnlich. Kinderklamotten, jeweils ein Filzstift, Goldring, Skalpell, noch ein Familienfoto, eine Vermisstenanzeige aus den Achtzigern, in der nach einer Neunjährigen namens Beth B. gesucht wurde und ein USB-Stick. Darauf war ein Video mit dem Titel LUNCH gespeichert.

„Gib mir noch eine Sekunde, bevor du auf Play drückst“, sagte Ferguson und holte tief Luft. „Alles klar, jetzt bin ich bereit.“

Fliegen.
Rauschen.
Leise Schrittgeräusche.
Wer auch immer hinter der Kamera stand, hatte eine ruhige Hand.

„Was zum Teufel ist das?“, wollte Ferguson wissen.

„Fliegen auf einer…“ Drake wurde kreidebleich.

Stille, dann fügte Ferguson heiser hinzu: „Einer Leiche.“

Drake atmete tief durch.
Nur die geschlossenen Augen des Mädchens waren zu erkennen, die Haut totenbleich. Die Kamera wanderte ihren Körper hinab, ohne dabei weitere Teile des Gesichts zu zeigen.

„Mann, damit müssen wir zur Polizei!“, sagte Drake aufgelöst. „Was für ein krankes Schwein verschickt sowas?“

Ferguson nickte. Er dachte dabei an seine jüngere Schwester Lilly, die seit drei Tagen im Cheerleader Camp war und erst in zwei Wochen wieder nach Hause kommen würde.

„Ich halte es für keine gute Idee, daraus ein neues Video zu machen.“
Drake stimmte wortlos zu.

Zwei Tage waren vergangen seit der Anzeige. Die Beamten hatten nur gemeint, dass sie dem Fall nachgehen würden, aber dass es schwer wäre, jemanden im Dark Web zu finden. Außerdem müsste zuerst geprüft werden, ob es sich hierbei nicht bloß um willkürlich zusammengewürfelte Gegenstände handelte. Wenn die beiden einen YouTube Kanal hätten, würde das bestimmt jemand nutzen, um sich daraus einen Spaß zu machen.
Für die Jungs klang das eher nach: „Sorry, haben Wichtigeres zu tun. Werbung könnt ihr woanders machen.“

 

Bis tief in die Nacht verfolgte Ferguson der Gedanke, dass sich dahinter womöglich ein Verbrechen verbarg. In seiner Erinnerung ging er das Video noch einmal Szene für Szene durch. Ruhende Augen wie diese hatte er schon einmal gesehen, darum war er sich sicher, dass das Mädchen nicht einfach bloß schlief und auch wenn ihm anfangs Lilly in den Sinn kam, verfolgte ihn jetzt ein anderes Gesicht.

 

 

Als er am nächsten Tag dabei war, das Haus zu verlassen, stieß er sich den Fuß an etwas. Sein Blick fiel zu Boden. Plötzlich wurde ihm ganz kalt, bei dem, was er vor sich liegen sah. Noch eine Mystery Box.

„Was zum…?“

Er nahm die Box mit ins Haus, öffnete WhatsApp und sendete Drake ein Foto. „Hast du die bestellt?“

„Ne, das schwöre ich!“

„Die stand plötzlich da.“

„Warte, ich komme.“

Vorsichtig, mit Handschuhen, öffneten sie die Box. Ferguson schaufelte die erste Schicht Styropor beiseite, bis sich der Inhalt offenbarte.

 

„Ein Handy?“, fragte Drake, ohne eine Antwort zu erwarten. „Schalt es ein.“

„Warte, da ist noch etwas darunter.“

Sie gruben noch mehr Styropor aus.

Plötzlich war das Pochen ihrer Herzen im ganzen Raum zu hören. Ferguson zitterte am ganzen Leib. Er spürte nur noch ein einziges Gefühl. Angst.
In der Box befand sich ein Notizzettel: „Für Ferguson“

Daneben lag Lillys Kette.

 

 

2

 

 

Vier Tage zuvor.
Die Kamera war an und fest auf dem Stativ fixiert, das kleine Lämpchen auf der Seite leuchtete rot. Dumpfes Licht – nicht mehr, als man benötigte, um gerade noch so die Brustwarzen durch das von Angstschweiß getränkte Shirt zu sehen – erhellte den Raum und gab ihm gleichzeitig den tödlichen Charme eines Verlieses. Eingetrocknetes Blut verzierte die Wand, an manchen Stellen ähnelten die Flecken einem abstrakten Kunstwerk.
In der Mitte des Raumes, ein Bett, oder eher gesagt das rostige, skelettartige Gestell, das im Laufe der Jahre daraus wurde.
Metallenes Rütteln, gedämpfte Schreie. Eine Mischung aus Hilferufen, Panik und erbärmlichen Flehen. Doch kein Ton traf die Außenwelt, zu dick waren die Mauern, zu lang die lichtlosen Korridore, zu weit oben die Erdoberfläche.

Der Mann mit dem Skalpell zwischen den behandschuhten Fingern trug eine Schürze, in deren Taschen sich noch weitere Werkzeuge befanden. Er trat näher an sie heran, sein Gesicht verdeckt von einer OP-Maske, seine Augenfarbe hinter der Spiegelung in den Brillengläsern kaum erkennbar.
Schweigen, dann wieder gedämpfte Schreie aus dem Mund des geknebelten Mädchens. In der schattigen Umgebung sah ihr jugendliches Gesicht älter aus. Das Tuch in ihrem Mund löste ihren Würgereiz aus, weswegen sie sich zusammenreißen musste, sich nicht zu übergeben.
Schweiß glänzte in ihrem Gesicht, als der Mann das Licht heller drehte. Gleichzeitig begannen nun auch Lichter wie im Zirkus in allen Farben zu blinken.

„Hereinspaziert, hereinspaziert!“, tönte es aus den Lautsprechern an der Wand.

Die Angst in ihren blauen, tränengefluteten Augen funkelte wie unbezahlbare Diamanten inmitten ihres bildschönen Gesichts. Das gefiel ihm. Sehr sogar.

„Manege frei!“

Unter seiner OP-Maske breitete sich ein sanftes Lächeln aus, während sie vergebens versuchte, ihre angeketteten Hände und Füße loszureißen.
Er warf noch einen Blick in Richtung Kamera, um sich zu vergewissern, dass das rote Lämpchen noch an war. Danach setzte er das Skalpell vorsichtig an ihren flachen Bauch.

„The Show must go on!“

„Wenn du nicht ruhig bleibst, kann es sein, dass ich dich versehentlich abstech‘. Willst du das?“

Sie starrte ihn mit entsetzten Augen an.

„Dacht ich’s mir doch. Also sei still und rühr dich lieber nicht.“

Doch das konnte sie nicht. Jetzt waren ihre Schreie trotz Knebel unüberhörbar.

Er steckte das Skalpell vorsichtig zurück in die Schürze. „Weißt du, die Leute, die das hier bestellen, zweifeln an der Echtheit des Inhalts der Boxen, doch gleichzeitig wollen sie glauben, dass er echt ist, denn wo wäre sonst das Abenteuer? Mir geht es nur darum, es ihnen zu beweisen. Nicht dich zu töten. Noch nicht.“

Während der ganzen Zeit über blieb sein Blick kontrolliert und gefasst, wie der eines echten Doktors, während eines morgendlichen Kontrollgangs.
Seine behandschuhten Finger langten nach der Spritze, die bereits zur Gänze gefüllt war. Er setzte die Nadel an die Vene, während er mit der anderen Hand ihren Arm fest kontrollierte.

„Nicht bewegen. Ist nur zu deinem Besten.“

Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst. Noch nie in ihrem Leben glänzte eine einfache Nadel so bösartig. Sie spürte Flüssigkeit in ihren Venen. Die nächsten Sekunden fühlten sich an wie ein ewiges Warten auf den Tod.
Ihr Herz pochte wie tausend kleine Bomben. Im nächsten Augenblick ein Kribbeln und sie flog davon.
Plötzlich wurden ihre Augenlider ganz schwer, das Bild des Mannes in der OP-Maske vor ihr verschwamm wie ein Traum kurz vorm wach werden.

Er ließ einige Minuten verstreichen, ehe er mit Zeige- und Mittelfinger ihre Halsschlagader berührte. Der Puls war noch zu spüren, sie lebte also noch. Gerade noch so, aber immerhin.
Alles lief nach Plan.

Dann griff er wieder nach dem Skalpell, schnitt kleine Hautstücke aus ihrer Hüfte, die er anschließend behutsam auf einen Teller links am Instrumententisch legte, und vernähte die Stelle wieder feinsäuberlich. Als er fertig war, tauschte er den Teller mit einem anderen auf dem kleine Stückchen Schweinefleisch lagen.

„Meine Damen und Herren! Kommen wir nun zum Höhepunkt des Abends!“

Er nahm sich den Teller mit den Fleischstücken und setzte sich damit auf den Campingstuhl, der unmittelbar vor der Kamera stand. Gabel und Messer lagen griffbereit, frisch geschliffen und poliert, wie es sich seiner Meinung nach für einen wohlerzogenen Mann gehörte. Er nahm die OP-Maske ab und führte ein Stück nach dem anderen in Richtung Mund, so oft, bis der Teller leer und er satt war – sein Gesicht klar und deutlich erkennbar.

 

 

3

 

Ferguson und Drake stockte der Atem, als sie Lillys Kette in der Mystery Box entdeckten.

„Das kann doch bloß ein Alptraum sein“, sagte Drake halblaut und voller Entsetzen. „Woher… ich meine…das ist doch…“

Ein Blick in das Fotoalbum des Handys ließ Ferguson beinahe in Ohnmacht fallen. Kein Wort der Welt konnte sein Taubheitsgefühl beschreiben.
Bilder von ihm in seinem Zimmer, vor seinem Haus, in seinem Garten, sogar beim Einkaufen. Am Ende noch eines von Lilly, als sie alleine mit Koffer und Rucksack das Haus verließ, um sich auf den Weg ins Cheerleader Camp zu machen. Er erinnerte sich genau daran, wie sie ihren Eltern versicherte, dass sie alt genug sei, um alleine zur Schule zu gehen.

Ferguson drehte den beigelegten Notizzettel um. „Gefallen dir meine Fotos? Wenn ja, dann wirst du das Video lieben.“

„Warte“, meinte Drake, als Ferguson gerade dabei war, die Datei zu öffnen. „Vielleicht sollten wir vorher im Camp anrufen. Möglicherweise ist es nur ein schlechter Scherz von einem Verrückten. Vielleicht sogar von Lilly selbst.“

Ferguson holte tief Luft, wobei jeder Atemzug einem Erstickungsanfall glich. „Alles klar. Du hast recht.“

Drake übernahm in Fergusons Namen das Telefonat.

„Nein, tut mir leid, Lilly ist nicht da. Ihre Eltern hatten uns kurz vor der Abreise eine Absage geschickt“, sagte die Teamleiterin am Handy.

Drake bedankte sich für die Auskunft und beendete das Telefonat. Besorgt sah er Ferguson an, der wusste, dass seine Eltern keine Absage geschickt hatten.

„Musst du entscheiden, ob du das immer noch sehen willst.“

„Nur so können wir das Schlimmste ausschließen“, röchelte Ferguson und versuchte dabei schweratmend so gelassen wie möglich zu wirken. „Egal was gleich zu sehen sein wird, wir bleiben ruhig und übergeben die Sache später der Polizei.“ Damit die uns wieder Nachhause schicken.

Drake nickte.

Das Video begann. Ein schlecht beleuchteter OP-Saal war zu sehen. In der Mitte ein Operationstisch, darauf eine Person, die man aus der Ferne nur als wahrscheinlich weiblich einordnen konnte.
Ein bebrillter Mann in OP-Maske und Schürze ging auf sie zu.

Jump Cut.
Nächste Szene.

Das Licht war heller, der Mann stand vor ihr.

„Manege frei!“
Blinklichter.

„Scheiße, will der uns verarschen? Schneidet er ihr da gerade in den Bauch?“, fragte Drake angewidert, während ihm das Herz in die Kehle sprang. „Jetzt hat er’s auf den Teller gelegt!“
Ferguson war starr, ihm wurde eiskalt und schlecht zugleich. Noch bestand die Chance, dass es sich hierbei nicht um Lilly handelte.
Eine Schweißperle löste sich von seiner Schläfe.

Jump Cut.
Hätten sie es nicht besser gewusst, hätten sie gedacht, das hier wäre der Trailer zu einem Psychothriller.

„Kommen wir nun zum Höhepunkt des Abends!“

Nun kam die Person mit einem Teller in den Händen auf die Kamera zu und setzte sich.
Er nahm die Maske ab und

„Das ist unmöglich…“, sagte Ferguson wie aus dem Schlaf gerissen. „vollkommen unmöglich…“

die Zeit stand still, das Ticken der Uhr wurde zu einem Schmettern, jede Sekunde zu einem wahrgewordenen Alptraum.
Blonde Locken.
Der Mann grinste und

„Ferguson…“, winselte Drake panisch.

begann zu essen.

„Das in dem Video…“

Ihre entsetzten, leichenblassen Gesichter trafen sich.

„Ferguson, das bist du.“

 

4

 

Ein Jahr zuvor.
Emmas Geburtstagsparty lief seit Stunden, wobei ein Großteil der Gäste, inklusive Drake, bereits das Weite gesucht hatten. Nur noch Ferguson, Emmas Bruder Jake und einer seiner skurrilen Freunde waren noch da. Letzterer machte sich schließlich ebenfalls vom Acker.

Jake war bekannt dafür ein Freak, aber auch ein Genie zu sein. Neben klischeehaftem Hackerzeug und nerdigen Computerspielen, gehörte es auch zu seinen Hobbys, das komplette Dark Web zu durchforsten, um ungeschickte Teilzeitgangster übers Ohr zu hauen. Meistens tat er das nicht für Drogen oder Geld (was allerdings einen willkommenen Nebeneffekt darstellte), sondern für sein Ego. Wenn man Emmas Infos trauen konnte, führte er sogar Tagebuch über seinen Siegeszug, wie er es offenbar nannte.

„Wollt ihr ’nen Horrorfilm gucken? Saw oder so? Hätt gerade echt Bock auf abgefuckte Splatter Szenen mit ganz viel Blut.“ Jakes Pupillen füllten seine komplette Iris mit Schwarz, ein verstörendes Grinsen zeigte sich. „Oder wollt ihr vielleicht selbst was… erlegen? Wildschwein oder Reh oder so? Nicht?“
Ferguson und Emma schüttelten wortlos ihre Köpfe.
„Mann, was seid ihr denn für Lahmärsche. Tut bloß nicht so aus scheinheilig, ihr verfluchten Hippies. Könnt kotzen. Wobei, das könnt ich tatsächlich!“ Mit vorgehaltener Hand rannte er plötzlich aus dem Zimmer. Mit ihm entschwand auch sein stechender Schweißgeruch.

„Er verträgt nicht viel“, sagte Emma lachend und zog Ferguson ohne zu zögern an sich heran. Die Couchkissen bildeten eine weiche Unterlage. „Jetzt sind es nur noch wir zwei.“

Ferguson grinste und gab ihr einen Kuss.

„Sag mal, hast du noch was zu ziehen?“, fragte Emma.

„Ne, sorry, die haben alles aufgebraucht.“

Emma verzog enttäuscht die Miene. „Sind die Drogen aus, ist die Party aus.“

„Aber“, fügte Ferguson hinzu. „Ich hätte da was anderes. Was neues.“

Erwartungsvolle Blicke.

Ferguson holte ein Päckchen aus der Tasche hervor.

„Was ist das?“

Einen kurzen Augenblick fragte er sich, ob es nicht besser wäre, das Zeug wieder einzustecken, doch die funkelnden, hoffnungsvollen Augen vor ihm verleiteten ihn diese Frage zu verwerfen.

„Das beste Heroin der Stadt“, antworte Ferguson. „Hat der Dealer zumindest behauptet.“

„Ferguson! Heroin? Dein Ernst?“

Er zuckte mit der Schulter. „In der richtigen Dosis, ist es nicht viel schlimmer als alles andere. Geraucht haben wir’s doch schon mal, also was soll schon passieren?“

Emma überlegte und fand, dass das eigentlich plausibel klang. Sie willigte ein. „Aber ich will zuerst.“

Ferguson nickte. Er nahm seinen Gürtel von der Hose und band ihr den Arm eng genug ab, um ihre Adern deutlich zu sehen.

„Tief einatmen. Tut gar nicht weh.“

Noch während Emma Luft holte und Ferguson abdrückte, schoss es sie weit hinauf in den Himmel, fernab jeglicher Realität. Dort waren Wolken. Sonne. Freude.
Liebe.
Ruhe.

Keine Minute danach folgte ihr Ferguson ins Paradies.

Einige Stunden später, als das Sonnenlicht langsam den Horizont kitzelte, öffnete Ferguson seine Augen. Es dauerte ein paar Augenblicke bis er realisierte, wo er war.
Leere Bierflaschen, Aschenbecher voller gerauchter Joints, Kokainreste neben Kreditkarten, Pillen. Und der unverkennbare Geruch von

„Kotze! Fuck! Emma! Emma!“ Ihr Mund war randvoll, das bleiche Gesicht zur Decke gedreht. „Komm schon, wach auf!“ Ferguson versuchte es mit einer Herzmassage und, so eklig es auch war, einer Mund zu Mund Beatmung.
Es war, als glitte ihm die Zeit wie eingefettet durch die Hände.
Minuten vergingen, doch jede Bemühung Emma wieder zurück ins Leben zu holen blieb vergebens.

Schockstarre.

Ferguson entkam eine Träne und tropfte auf ihren kalten Körper. Was hatte er nur angerichtet? Was zum Teufel hatte er nur getan? Seine Blicke flogen hinüber zu den Spritzen.
Beweise.
Hastig schnappte er sich beide und rannte mit pochendem Herzen und einer Portion Angst in der Magengrube aus dem Haus.

Als er den Fluss erreichte, blickte er noch einmal zurück, ehe er sämtliche Beweise versenkte und sich schwor, jede Erinnerung an diesen Abend mit ins Grab zu nehmen.

 

5

 

„Bei Gott, du musst mir glauben, dass ich das nicht bin!“, beteuerte Ferguson mit aufgerissenen Augen.

Drake zögerte und sagte dann: „Das weiß ich… aber wer dann?“

Ferguson zuckte verzweifelt mit der Achsel. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.

Der Mann im Video hob ein Schild in die Höhe. Mein Name ist Ferguson. Letztes Jahr tötete ich meine Freundin Emma. Heute meine Schwester Lilly.

Das Video endete abrupt.

„Drake“, sagte Ferguson. Sein Puls glich einem Erdbeben. „Du bist der einzige, abgesehen von diesem Freak, der von der Sache mit Emma weiß. Der Einzige. Wenn dieser… Wahnsinnige das Video verbreitet, falls er das nicht bereits getan hat, dann…“

„Keine Sorge“, beruhigte ihn Drake. „Wir kriegen das hin. Jetzt müssen wir erstmal dafür sorgen, dass Lilly da wieder rauskommt. Spiel noch einmal zurück.“

Das Video begann von vorne. Sie versuchten die Tatsache, dass dieser Zirkusaffe offenbar Kannibale war, zu ignorieren, auch wenn sich ihre Mägen mehrmals im Kreis drehten.

„Wieso redet er nicht einfach“, rätselte Ferguson.

Drake dachte kurz nach, pausierte das Video und sah etwas genauer hin. „Weil man sonst hören würde, dass es sich hierbei nicht um dich handelt. Siehst du das?“

„Was?“

„Hier!“ Drake zeigte auf den rechten Rand des Gesichts. „An dieser Stelle ist der Übergang einen Augenblick lang nicht ganz sauber.“

„Das bedeutet?“ Fergusons Herzschlag nahm kurz ab, aber gleich wieder zu, als er erneut realisierte, dass die unscharfe Figur im Hintergrund immer noch Lilly war.

„Das ist ein Deepfake.“

„Was zum Henker ist ein Deepfake?“

„Videomanipulation. Jemand arbeitet mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ein fremdes Gesicht über ein anderes. Auf diese Art und Weise kannst du jeden zur Schau stellen. Man braucht allerdings schon etwas Geschick, um es so gut hinzubekommen.“ Drake zuckte mit dem Kopf in Richtung Handy.

„Willst du mich verarschen? Wer könnte mich so sehr hassen, dass er mein verdammtes Gesicht…“
Geistesblitz. Natürlich, wer sonst?

„Ich denke“, meinte Drake, der den Gesichtsausdruck seines Freundes wie ein offenes Buch lesen konnte, „wir beide kennen nur einen, der dir so sehr ans Bein pissen wollen würde und das technische Know-how hierfür hat.“

Plötzlich leuchtete eine Nachricht am Bildschirm auf.

Unbekannt: „Trefft mich Zuhause, wenn ihr nicht wollt, dass die ganze Stadt das Video bekommt.“

 

6

 

Unter grauen Wolken und Regen sah Jakes Haus aus, wie einem Horrorfilm entsprungen. Passend dazu wirkten Ferguson und Drake in ihren schwarzen Klamotten wie schaurige Silhouetten.

„Wenn wir deine Schwester retten wollen, müssen wir da wohl rein.“

„Sieht wohl so aus.“

Die Tür knarrte, als sie sie vorsichtig öffneten.

„Hallo? Wir sind’s!“ Fergusons Blicke untersuchten akribisch jeden sichtbaren Winkel nach möglichen Gefahren, dicht gefolgt von Drake.

Nichts, nur Schatten und Kälte. Der Boden knarrte. Die Kellertür am Ende des Flurs stand offen, die einzige Lichtquelle kam von ganz unten.

„Denkst du, sie ist…?“, fragte Drake mit zittriger Stimme.

„Finden wir’s raus.“

Vorsichtig stiegen sie die Treppe hinab dem Licht entgegen. Geisterhafte Stille breitete sich aus. Unten angekommen sahen sie sich um, die Glühbirne an der Decke leuchtete schwach.

„Hallo?“, rief Ferguson.

Das Licht ging aus und ein anderes, einige Meter entfernt hinter einer Tür, an. Sie schwang langsam auf, ein Schriftzug an der Wand begann blau zu leuchten. Willkommen!
Gleichzeitig ertönte eine metallene Stimme.

„Hereinspaziert, hereinspaziert!“

Sofort erkannten die beiden den Operationstisch, der im Sekundentakt in abwechselnden Farben beleuchtet wurde.

„Lilly!“ Ohne zu zögern eilte Ferguson in den beleuchteten Raum, Drake versuchte ihn noch zu warnen, doch da war die Tür hinter ihnen bereits zugeschlagen, das Licht ging aus und sie standen in absoluter Dunkelheit. Die Falle war zugeschnappt.

„Scheiße, Mann“, flüsterte Drake.

Plötzlich leuchtete ein rotes Lämpchen unweit von ihnen auf.

„Manege frei!“

„Hallo Ferguson“, drang es aus der Stockfinsternis. „Endlich bist du da, wo ich dich schon lange haben wollte. Drake, sorry, aber dich nennt man dann wohl Kollateralschaden.“ Jakes Stimme war unverkennbar.

Das Blinklicht ging wieder an. Es war ausreichend um Jake in seiner OP-Maske und der Schürze zu erkennen. Lilly lag auf dem Operationstisch, ihre Augen fest verschlossen.

„Sie lebt, gerade noch so“, sagte Jake amüsiert.

„Warum tust du das?“, fragte Ferguson wutentbrannt.

„Warum? Das fragst du noch? Du hast meine Schwester tot liegen lassen, hattest nicht einmal den Anstand einen Arzt zu rufen, du mieses Stück Scheiße! Jetzt sollst auch du wissen, wie es sich anfühlt, um das Leben seiner Schwester zu bangen.“ Jake nahm die OP-Maske ab und legte sie behutsam auf den Instrumententisch. „Wenn du dich beeilst, schaffst du es möglicherweise noch rechtzeitig ins Krankenhaus.“

„Ferguson“, sagte Drake. „Schnapp sie dir. Ich kümmere mich um dieses Schwein.“

Plötzlich begann Lilly laut zu husten. Dann übergab sie sich mit dem Gesicht zur Decke. Das Erbrochene rann an ihren Mundwinkeln hinab.
Drake hielt inne.

„Ach ja, ich vergaß wohl zu erwähnen, dass sie eine Überdosis hat… hängt vielleicht mit dem Nahrungsmangel zusammen. Die letzten Tage hat sie die Drogen noch vertragen.“

Ferguson bekam es mit Wut und Angst gleichzeitig zu tun, seine Sinne waren taub.
„Ich bring dich um.“

Jakes Gesichtsausdruck entledigte sich schlagartig sämtlicher Emotion, eine Erinnerung kursierte vor seinem geistigen Auge. „Das hast du bereits letztes Jahr…“ Plötzlich zog er eine Waffe aus seiner Schürze hervor, zielte auf Ferguson und

Knall.

Drake riss Ferguson gerade noch rechtzeitig zu Boden, so dass ihn die Kugel um Haaresbreite verfehlte.

„Fuck! Genau in meine Schulter!“ Drake kauerte auf dem Boden, Blut floss aus der Wunde. Ferguson rutschte einige Meter weiter und stieß sich den Kopf an der Wand.

Jakes Blick glich einem tollwütigen Psychopathen. „Zwei Kugeln hab ich noch! Eine für dich, eine für mich!“, schrie er breit grinsend.

Im nächsten Moment traf Ferguson eine Kugel in der Brust und noch kurz bevor er das Bewusstsein verlor, sah er, wie Jake die Waffe auf sich selbst richtete.

Dunkelheit.

 

7

 

Verschwommenes Licht.
Sanfte Berührung.
Dumpfe Geräusche.
Alles klang so, als würde man unter Wasser eine Unterhaltung führen.

Das Bild schärfte sich, die Töne wurden klarer.
Drake saß vor ihm, seine Schulter in Gips gehüllt. „Was geht, Alter?“

Ferguson holte tief Luft und bemerkte jetzt, dass Brust und Rücken in Verband gewickelt waren.
Seine Gedanken wirkten so steril wie das Zimmer. „Was ist passiert? Wo bin ich?“

„Im Krankenhaus… seit zwei Tagen.“

„Lilly! Geht es ihr gut?“, keuchte Ferguson.

„Alles in Ordnung, schläft aber gerade.“

„Was ist mit Jake?“

„Liegt im Leichenschauhaus“, antwortete Drake lakonisch und zog sich einen Stuhl herbei.

Ferguson wusste nicht ob das eine gute oder schlechte Nachricht war, fragte aber nicht weiter nach. Lilly lebte.
Und das ist alles was zählt.

 

Vier Wochen später.
Lillys Eltern bestanden seither darauf, sie jedes Mal ins Cheerleader Training zu bringen. Das Angebot nahm sie nur zu gern an. Sicherheitshalber musste sie zur Kontrolle noch regelmäßig ins Krankenhaus, um Folgeschäden oder eine Abhängigkeit von den Drogen auszuschließen.

Ferguson und Drake schworen sich nie wieder auch nur in die Nähe des Dark Webs zu kommen. Ihren YouTube Kanal löschten sie ebenfalls. Die Story verbreitete sich wie ein Lauffeuer und dementsprechend häuften sich dumme Kommentare unterhalb ihres ersten Unboxing Videos.

„Wir werden auch so noch irgendwie zu Stars“, lachte Drake, als sie auf Konto löschen klickten.

„Wie wär’s mit Zirkusartisten?“, meinte Ferguson sarkastisch.

„Erfahrung hätten wir ja bereits.“

Sie lachten herzhaft.
Das erste Mal seit geraumer Zeit.

Der nächste Morgen brach an. Ferguson war schon lange vor seiner Familie wach, weil er vergessen hatte, die Jalousien nach unten zu ziehen. Eine heiße Tasse Kaffee und der Tag konnte beginnen. Schlürfend stand er am Fenster und beobachtete die Zufahrten der Nachbarshäuser.
Plötzlich, als seine Blicke von Tür zu Tür flogen, fiel ihm etwas Eigenartiges auf. Etwas sehr Eigenartiges.

Er verließ das Haus, die Kaffeetasse fest in seiner Hand.

Tatsächlich.
Ein Karton mit der Aufschrift Mystery Box, direkt vor seiner Nase.

Ferguson war sprachlos. Er versuchte die identischen Boxen vor den Türen seiner Nachbarn genauer zu inspizieren.
Auf allen war Mystery Box zu lesen.

Als er auf aufgrund des eingeschränkten Blickfelds auf die Straße hinausging, konnte er auf einen Schlag gut zwanzig Mystery Boxen zählen, und da waren noch mehr. Einige Nachbarn standen bereits mit fragenden Gesichtsausdrücken vor der Tür. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen.

Mit erhöhtem Puls eilte Ferguson zurück zu seiner Lieferung.
Ohne lange zu zögern öffnete er sie.

Styropor.

Darunter lediglich ein gefalteter Notizzettel.

Ferguson zitterte, als er das Stück Papier entfaltete.
Plötzlich ein starker Herzschlag, der ihn gefühlt einen Meter nach vorne riss.
Ferguson sah sich hektisch um, wurde taub, buntes Flimmern vor den Augen.
Schnappatmung.
Schwindelgefühl.

„Das kann doch nicht sein.“ Nicht mehr als ein Flüstern.

Er blickte noch einmal auf den Zettel.
Und las die Worte

„The show must go on.“

 

14 thoughts on “Unboxing

    1. Hallo Raphael

      Was für eine großartige Geschichte.
      Du hast mich direkt mit deinen ersten Sätzen angesprochen und gefesselt.

      Respekt.
      Kompliment.

      Deine Grundidee, die Handlung, die Protagonisten, die Spannung, das Finale …. alles genial und super.

      Das Beste jedoch ist dein Schreibstil.
      Mann, du hast ein riesiges Potenzial.

      Der Leser merkt direkt, dass das hier nicht deine erste Kurzgeschichte ist.

      Du schreibst sehr erfahren, abgeklärt und professionell.
      Das spürt man daran, wie du literarische Bilder in den Kopf deiner Leserinnen und Leser pflanzt.
      Whow.
      Das ist eine Gabe.

      Sagte ich schon, dass ich dein Ende total gelungen fand?
      Sooo müssen Kurzgeschichten enden.
      Und nicht anders.
      🙂

      Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg. Und noch viel mehr Likes.
      Du hast es verdient, ins EBook zu kommen.

      Mein Herz hast du natürlich sicher.

      Lieber Raphael

      Bitte schreib weiter und weiter. Und du wirst noch viele bezaubernde Geschichten schreiben.
      Und viele Leser unterhalten.

      Dir nur das Beste der Welt.

      Mit kollegialen Grüßen,
      Swen Artmann (Artsneurosia)

      Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
      Ich würde mich sehr freuen.
      Meine Geschichte heißt:

      “Die silberne Katze”

      Vielen Dank, Raphael.

  1. Hallo Raphael, ich habe gerade deine Geschichte gelesen und finde sie unfassbar gut. Ich frage mich ernsthaft warum Du nur 26 (jetzt 27) Likes hast? Hattest Du die Lust an diesem Projekt verloren oder fehlte Dir einfach die Zeit Werbung zu machen? Klar ist deine Story echt heftig, aber wer auf Serien wie Criminal Minds & Co. steht, dem wird sie sehr gefallen. Schade, daß der Wettbewerb heute endet. Ich wünsche Dir trotzdem viel Erfolg fürs Voting. LG Melanie https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/blaues-mondlicht

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