Bruno WeißJeunesse Dorée

Hätte ihm jemand gesagt, er sei verrückt gewesen, er hätte es nicht geglaubt – ja, vielleicht tat er dann und wann verrückte Dinge, aber nur weil Verliebte das eben hin und wieder tun. Liebe macht nicht blind, davon war er überzeugt wie von sonst nichts auf der Welt. Liebe macht, ganz im Gegenteil, sehend, klar und wach. Noch nie war er in seinem Leben so wach gewesen, wie in dem Moment, in dem er sie zum ersten Mal sah. Und seither hatte er das Gefühl, nie wieder geschlafen zu haben – so wach, so klar fühlte er sich.

Und auch diese Nacht brachte er wachend zu, in Erwartung derer, über die er heute Gericht halten würde. Er spürte den harten Gegenstand in seiner Jackentasche. Aber der war nicht für sie bestimmt. Nein, die andere Waffe, die er sich für sie aufgespart hatte, ist subtiler und deutlich wirkungsvoller.

Wie ein Rudel Wölfe, das sich die Nacht zu Eigen gemacht hat und ihren unstillbaren Hunger nach frischem, saftigen Leben auf rauschenden Partys und in nicht enden wollenden Ballnächten zu stillen suchte, brachen sie in das Lokal. „Nur noch auf einen Absacker!“, waren sie sich einig. Und wo sollte man einen solchen besser genießen als in ihrem Stammlokal, eine Nobelbar aus einem vergangenen Jahrhundert, deren Wände mit rotem Samt und Plüsch ausgeschlagen sind und deren Inneres von einem golden-schummrigem Licht aus schweren gläsernen Lüstern umgossen ist.

Sie lachten und bezogen ihren Stammplatz. Am anderen Ende des Lokals saß er, der wusste, dass das ihr Stammplatz war, wartend und lauernd.

Sie bestellten die erste Runde Getränke, lachten, machten Witze und ließen den Abend revue passieren.

Lacht nur, dachte er sich. Er kannte diesen Schlag Menschen gut. Junge, attraktive Leute mit reichen Eltern und großer Spendierfreudigkeit. Studenten, die zu viel Geld und viel zu wenig Aufregung in ihrem Leben haben und sich deswegen in  Mode, oberflächlicher Schönheit und teuren Vergnügungen ergehen. Die zu Geschöpfen der Nacht werden, die ihr ereignisloses Leben mit der Suche nach dem nächsten Gerücht, der neuesten Eroberung, der nächsten Ausschweifung zubringen. Und es gibt keinen besseren Ort, um all diesen Dingen nachzuspüren, als in einer rauschenden Ballnacht, die nach teurem Parfüm, Alkohol, Tabakrauch und einem prunkvollem Leben duftet. Aber in jedem Gesicht und in jeder Wolke betörenden Duftes liegt auch immer eine Note von Verwesung, Dreck und Scheiße. Dieser Note nachzuspüren, die auch der fröhlichen Gesellschaft an der anderen Seite des Raumes anhaftet, kostete ihn die letzten zwei Jahre seines Lebens. Aber er war sich sicher, dass es das wert gewesen sein wird, wenn sie erst einmal beginnen, sich selbst zu zerfleischen.

Ruhig sah er ihnen zu, wie sie tranken und lachten, wie sie ein Spiel spielten – „Wer bin ich?“ –, wie sie ihr Leben genossen und nicht wussten, was sie erwartete.

„Bin ich Jack The Ripper?“, fragte Raffael.

„Wieder falsch! Aber geht schon in die richtige Richtung!“, erwiderte Maria und strich sich eine braune Strähne aus dem Gesicht. „Jetzt gib’ dir doch ein bisschen Mühe, alle anderen haben’s auch geschafft!“

Er hatte aber keine Lust mehr, sich Mühe zu geben. Also sah er Theresa an, die in seinem rechten Arm lag und sagte zu ihr: „Vielleicht kann ich ja das Spiegelbild von dem Zettel sehen, wenn ich dir ganz tief in die Augen schaue“ und kam ihr dabei näher und näher.

„Versuchs“, sagte sie lächelnd und erwiderte, sanft das Revers seines Smokings fassend, seinen tiefen Blick.

Als sich ihre Lippen schon fast berührten, rief Barachiel, der Betrunkenste von allen: „Nehmt euch ein Zimmer!“

Theresa drehte sich von Raffael weg und lachte mit den anderen in der Runde. Auch Raffael lachte, wenn auch nur gezwungen. Er war nur noch hier, weil Theresa hier war und das der Abend sein könnte, an dem sie endlich mit ihm nach Hause gehen würde. Die anderen gingen ihm langsam auf die Nerven, so gern er sie alle hatte, aber besonders anstrengend war Barachiel, der wieder einmal sein Limit weit überschritten hatte und jetzt unangenehm betrunken war.

„Ich gebe auf“, sagte er und nahm den Zettel von seiner Stirn. „Wer zum Teufel ist denn Peter Nirsch?“

„Ein deutscher Serienmörder“, klärte ihn Michael auf.

„Keine Ahnung, da klingelt nichts.“

„Kenn’ ich auch nicht“, gab Antoinette zu.

„Wie kann man den denn nicht kennen?“, fragte er in gespielter Entrüstung. „Der Mann hat im sechzehnten Jahrhundert über 500 Menschen getötet, vor allem schwangere Frauen. Anschließend an die Morde soll er die Herzen der ungeborenen Kinder gegessen und ihre Hände getrocknet haben, um Talismane daraus zu machen. Nachdem man ihn gefasst hat, ist er nach drei Tagen schwerster Folter …“

„Sei ruhig, das ist ja widerlich!“, fiel ihm Antoinette ins Wort und sah ihn angewidert an. „Ich werd mir jetzt ein Lied wünschen, damit ich auf andere Gedanken komme.“

Sie ging, ihr langes Ballkleid ein wenig raffend, in Richtung Bühne. Die große, füllige Sängerin, beugte sich zu der kleinen Blondine, deren Frisur heute nach eigenen Angaben zwei Stunden gedauert hatte, und begann, nachdem sie den Wunsch vernommen hatte, mehr zu hauchen, als zu singen: „Amore baciami, baciami … baciami …“ Antoinette, die am Tage eher zurückhaltend ist, doch sich in Nächten wie diesen beflügelt von Alkohol und dem Lebensgefühl der Nacht zur selbstgekrönten Königin eben dieser aufschwingt, ging, sich drehend und wiegend, zurück zum Tisch der Freunde, wo sie ihren Tanz nicht beendete, sondern mit der Sängerin ein sinnliches „e forte stringimi, stringimi … stringimi“ sang.

Raffael nutzte den Moment, in dem alle seine Freunde nur Augen für Antoinettes kleinen Auftritt hatten, um Theresa einen Kuss auf den Mund zu drücken. Sie erwiderte ihn, doch nur flüchtig und sagte mit einem vielsagenden Lächeln: „Warten wir damit, bis wir hier raus sind.“

Antoinette unterbricht ihren Tanz mit einem überraschten Kiekser. „Wie kommt das denn da hin?“, sagte sie, während sie ein rotes Smartphone vom Boden aufhob, auf das sie wohl gerade getreten war. „Gehört das jemanden von euch?“

Alle verneinten.

„Schalt’s doch mal an“, schlug Uriel vor.

„Wozu denn?“, wirft Raffael ein. „Gib’s dem Kellner – der dem’s gehört, wird sich’s irgendwann schon wieder holen.“

„Sei halt nicht so langweilig“, lallte Barachiel. „Wenn du weniger langweilig wärst, wär die Theresa vielleicht schon mit dir heimgegangen.“

Antoinette hatte es derweil schon entsperrt. „Seltsam. Es sind gar keine Apps drauf, bloß eine Bildergalerie.“

„Aufmachen! Aufmachen! Aufmachen!“, skandierte Michael und die anderen stimmten mit ein.

„Na gut, na gut“, lachte Antoinette, doch als sie auf das Icon der Galerie tippte, blickte sie verwirrt auf das, was sich ihr bot. „Da sind bloß zwei Bilder drauf. Eines von einer jungen, schwarzhaarigen Frau und eines von … Raffael.“

„Blödsinn, zeig her!“ Raffael beugte sich über den Tisch und nahm ihr das Handy aus der Hand. In dem Moment aber, als er beide Bilder gesehen hatte, legte er es wieder auf den Tisch. „Das bin ich nicht“, sagt er nur, tonlos und ohne Regung.

„Lass mal sehen“, sagte der betrunkene Barachiel und schon hatte er das Handy in der Hand. „Natürlich bist du das! Das ist doch dein Profilbild! Und die Frau …“ Er brach in schallendes Gelächter aus. „Die Frau kenn ich auch, das ist …“

„Woher willst du denn diese Frau kennen?“, unterbrach ihn Raffael hastig. Er spürte wie seine Hände schwitzig wurden. Er sah den immer noch kichernden und in sich zusammengesackten Barachiel an. „Du bist doch komplett dicht. Wir gehen jetzt mal aufs Klo, bevor du uns hier noch alles vollspeibst.“

Er stand auf, packte ihn am Arm und zerrte ihn hinter sich her auf die Toilette. Dort angekommen kontrollierte er alle Kabinen, ob auch niemand außer ihnen auf der Toilette war und schob dann Barachiel in eine davon.

„Ich sag’s dir, wenn du irgendetwas sagst, bring ich dich um. Es läuft gerade richtig gut mir Theresa und diese blöde alte Sache kann mir das ganz schnell ruinieren. Es sind ja Gott sei Dank nur Fotos von ihr und mir drauf und sonst keine … Ich will mir das mit Theresa heute nicht wegen diesem Scheiß ruinieren.“

„Aber was ist denn schon dabei?“, grinste Barachiel blöde. „Das ist doch alles schon ewig her. Und außerdem war es ja eigentlich ganz lustig, wenn wir beide mal ehrlich sind.“

„Das ist doch ganz egal, du Vollidiot.“ Raffael sah sich noch einmal nervös um. „Du weißt ganz genau, dass das nicht nur die Sache mit mir und Theresa kaputt machen kann. Wenn das einer von den fünf da draußen weiß, weiß es morgen jeder! Und dann ist nicht nur mein Leben vorbei, sondern auch deines!“ Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Irgendjemand hat’s auf uns abgesehen. Wir müssen das für uns behalten, so wie wir das damals abgemacht haben. Ansonsten können wir richtige Probleme bekommen. Verstehst du mich?“

Barachiels Blick glitt ins Leere. Er begann zu würgen.

„Scheiße, kotz gefälligst ins Klo und nicht auf meinen Smoking!“ Gerade noch rechtzeitig drehte er Barachiel in Richtung Schüssel. „Speib dich erstmal aus.“ Er beugte sich zu ihm hinunter. „Und wenn du wieder kommst, sagst du kein Wort, dass das klar ist?“

Die Gestalt, die tief in den Schatten seines Eckplatzes gelehnt war, beobachtete die Gruppe, die sich gerade den Kopf darüber zermarterte, was es mit diesem Handy und diesen beiden Fotos auf sich haben könnte. Jaja, so langsam begannen sie Theorien zu spinnen, Einfälle zu haben. Und ihre Fantasie würde nur noch mehr angeheizt werden, wenn sie erst einmal die restlichen Fotos sehen würden. Ein betrunkenes Gehirn kommt auf die herrlichsten Einfälle, die manchmal näher an der Wahrheit waren, als so mancher nüchterner Gedanke. Und manches, was des Tags verborgen liegt, sieht man besonders gut bei Nacht.

Auf seinem Rückweg machte Raffael noch einen Zwischenstopp bei der Bar und bestellte sich einen Whisky, um seine Nerven zu beruhigen. Er stürzte ihn herunter und verlangte seinen und Theresas Teil der Rechnung. Während der Barkeeper sie fertig machte, ging er zur Garderobe, um ihre Mäntel zu holen und nachdem er gezahlt hatte, ging er zurück an den Tisch, wo ihn gespannte Gesichter, hinter denen sich gerade die wildesten Theorien gesponnen hatten, erwarteten.

„Ich weiß nicht, was die Fotos sollen. Ich kenne diese Frau nicht und ich glaube, dass das alles bloß ein blöder Scherz ist. Wahrscheinlich sogar von einem von euch“, erklärte er im Stehen. „An denjenigen ein großes Bravo, es war sehr lustig, aber mir ist jetzt der Spaß vergangen. Ich werde jetzt heimgehen.“ Er hielt Theresa ihren Mantel hin und fragte: „Kommst du mit?“

Sie sah ihn lange und mit angrifflustig verengten Augen an. „Ich glaub dir nicht.“

Raffael ließ den Mantel sinken. „Was soll das heißen, du glaubst mir nicht?

„Ich sagte, ich glaub dir nicht. Du kennst die Frau. Das seh ich dir an. Und bevor du mir nicht erzählst, wer sie ist, geh ich nirgends hin.“

Keiner der anderen sagte etwas. Raffael lachte ungläubig auf. „Was ist denn jetzt bitte los mit dir? Ich kenne diese Frau nicht! Das sind zwei Fotos, zwischen denen überhaupt kein Zusammenhang besteht. Ja, das ist mein Profilfoto, aber was hat das denn bitte zu bedeuten? Nichts! Irgendwer spielt mir hier einen richtig dummen Streich und wer immer das ist: Ich find’s nicht im Geringsten witzig.“ Raffael war mit seiner Erklärung am Ende angekommen und weil er nicht wusste, was er jetzt sagen oder tun sollte und nur in leere, ihn auf irgendeine Art und Weise anklagende Gesichter schaute, kramte er in der Innentasche seines Smokings nach Zigaretten. Als er sich eine anzündete, murmelte er in die Flamme hinein: „Und selbst wenn ich sie kennen würde, würd’s euch einen Scheißdreck angehen.“

Michael schlug mit seiner flachen Hand auf die marmorne Tischplatte. „Also kennst du sie doch“, rief er voll jubelnden Entsetzens.

„Das hab ich verdammt nochmal nicht gesagt!“, schrie Raffael zurück, eine Spur zu laut und zu schnell.

Eine halblaute Mahnung des Kellners, der gerade den Nebentisch abräumte, verhinderte, das Raffael über den Tisch und seinem Gegenüber an die Gurgel sprang.

„Herrgott, ist ja jetzt wieder gut“, schaltete sich Maria ein. „Jetzt sei halt nicht so dramatisch und setz dich wieder hin. Trink noch was, vielleicht beruhigst du dich ja dann wieder.“

Raffael wollte sich aber nicht beruhigen. Streitlustig drehte er sich zu Theresa. „Du willst also auch noch nicht gehen?“

„Nein. Und jetzt setz dich wieder zu mir.“

Für einen kurzen Moment blieb Raffael stehen, wie ein trotziges Kind, seine geballten Fäuste an seine Beine gepresst. Nach einer Weile wurde ihm bewusst, wie lächerlich er gerade aussehen musste und setzte sich also doch neben Theresa.

„He, Ober!“, rief Uriel. „Für unseren beleidigten Freund noch einen Gin Tonic und Sechs Kurze bitte! Und zwar vom Besten, was du hast!“

„Muss denn das jetzt sein?“

„Aber natürlich, wer noch trinken kann, muss trinken.“

„Apropos Trinken: Wo ist denn eigentlich Barachiel?“, fragte Antoinette.

„Der kotzt sich gerade die Seele aus dem Leib“, sagte Raffael.

„Ja sollte dann nicht mal jemand nach ihm sehen?“

„Wenn es einen gibt, den man zum Kotzen alleine lassen kann, dann ist es Barachiel. Der hat Übung darin.“

„Na bitte!“ Michael klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Gar nicht mehr so missmutig! Ah, und da kommt ja auch schon unsere Order! Besten Dank! Also – auf diesen denkwürdigen Abend und darauf, dass Raffael die – unter uns gesagt – rattenscharfe Schwarzhaarige noch nie in seinem Leben gesehen hat!“

Sie stießen an und die Gestalt in den Schatten beobachtete genussvoll die freudige Gesellschaft am anderen Ende des Raumes. Sie wussten ja noch nicht, dass bald das fröhliche Trinken und Feiern vorbei sein würde. Rattenscharf, hat dieser Eine Volltrottel gesagt. Nein, sie war nicht rattenscharf, sie war wunderschön, makellos. Sie war ein unverstandenes Geschöpf, eines, das nur er wirklich kannte, zu dem nur er tatsächlich vorgedrungen war. Er nahm sein Handy heraus – als er es anschaltete, tünchte das Licht des Displays sein eingefallenes Gesicht in ein fahles Licht –, wählte das nächste Bild aus und drückte auf Senden.

Die kurze Stille, während alle ihren Schnaps hinuntertranken, wurde durchbrochen von einem dezenten Klingeln, auf das Aufleuchten des Displays folgte. Darauf prangte die Nachricht: Unbekannte Nummer hat dir ein Foto gesendet.

Alle sahen auf das Handy, keiner wagte etwas zu sagen. Nur Raffael sagte nach einer Weile leise, aber unglaublich bestimmt: „Wer auch immer dieses Handy anfasst, den bring ich um.“

Mit einem freudigen Ausruf schnappte sich Maria das Handy.

„Ich wusste ja gar nicht, dass unser lieber Freund Raffael ein Besucher solch anstößiger Etablissements ist!“, gab sie verzückt von sich als sie das Foto ansah. Die anderen stürzten an das Handy um zu sehen, was genau sie meinte.

„Gib das sofort her!“, bellte Raffael und riss ihr das Handy aus der Hand, um selbst zu sehen, was sich dort offenbarte.

Man sah, wie er – und es war unverkennbar er – gerade das Innere eines in der Stadt berühmt-berüchtigten Bordells betrat. Hinter ihm, das konnte man nur erahnen, lugte Barachiel hervor. Kraftlos ließ sich Raffael auf seinen Sessel fallen. Theresa aber setzte sich nicht wieder neben ihn, sondern blieb stehen, dort wo sie war.

„Ich habe ja eine Theorie“, sagte Michael und stand auf, um wie ein Staatsanwalt den Platz vor dem Tisch abzuschreiten, die Augen verengt, eine Hand in die Seite gestemmt und die andere in die Luft deutend, als würden dort die Indizien fein säuberlich aufgereiht sein und man müsste bloß auf sie deuten, um die ganze Sachlage ganz einfach zu deduzieren. „Raffael P. ist eines nachts bei einer Sauftour, wie er sie ja des Öfteren unternimmt, auf die glorreiche Idee gekommen, seinem untervögelten Selbst etwas Gutes zu tun. Anstatt, wie es vielleicht manch anderer der Anwesenden tun würde, einfach den Laptop anzuschmeißen und nachzusehen, was einschlägige Internetseiten denn an visuellem Material, wenn man es so ausdrücken möchte, zu bieten haben …“ – „Schuldig“, meldete sich Uriel und erntete dafür schallendes Gelächter. – „nun, anstatt also diese erbärmliche Variante zu wählen, wählte Raffael P. nun also die noch viel erbärmlichere! Anstatt eine holde Maid von der Tanzfläche zu sich ins Bett zu … bugsieren, dachte sich Raffael P.: Ach, dann bezahle ich halt für meinen Sex … mit Barem und mit meiner Würde!“

Wieder schallendes Gelächter.

„Und diese Dame, die wir dort auf dem Beweisbild sehen …“ Michael präsentierte noch einmal das Bild. „ … also Corpus Delicti A … Nun auf diesem Bild sehen wir die Dirne, die unser Angeklagter in dieser Nacht gefreit hat.“

Das Plädoyer wurde mit Beifall und Gelächter honoriert.

„Und deswegen hast du jetzt so ein Drama veranstaltet, Raffael?“, fragte Antoinette, immer noch lachend, wie alle anderen. Nur Theresa lachte nicht.

„Also ich finde das überhaupt nicht lustig“, sagte sie und ohne ein weiteres Wort raffte sie ihren Mantel und ihre Tasche zusammen und ging Richtung Ausgang.

Raffael sprang auf und rief ihr nach, doch es kam keine Reaktion. Sie schwebte davon und obwohl er eigentlich bereits wusste, dass es keinen Zweck mehr hatte, lief er ihr nach, nicht ohne sich noch einmal zu seinen vermeintlichen Freunden umzudrehen und ihnen ein sarkastisches „Danke.“ hinzuwerfen.

Wieder erhellte sich das Gesicht der Gestalt durch das Licht des Displays. Aber niemand bemerkte ihn, so sehr war er mit dem Hintergrund verschmolzen. Ein rares Talent, niemals irgendjemandem aufzufallen. Er machte ein Bild der Szene, die sich ihm in der Ferne bot: Wie sie dort saßen, im schummrigen, goldenen Licht vor dem roten Samt, in ihrer eleganten Aufmachung, könnte man sie fast für Akteure in einem Gemälde des Realismus halten. „Ballgesellschaft beim Après“ könnte es zum Beispiel heißen. Oder „Jeunesse Dorée, die meint, der Abend wäre langsam vorbei, wobei er doch gerade erst angefangen hat.“ Ein bisschen sperrig vielleicht, aber eigentlich sehr treffend.

Das Foto, das er jetzt auswählte, um es seinen Marionetten zu schicken, traf ihn mitten ins Herz. Es ging ihm jedes Mal so, wenn er es betrachtete. Solche Schönheit, solch eine geschundene Schönheit. Er spürte Trauer in sich aufsteigen. Aber noch mehr spürte er Wut, die, wie er, still war und ruhig. Dafür aber umso tödlicher.

Die Band verkündete den wenigen versprengten Gästen, dass sie jetzt ihr letztes Lied spielen würden. Sie bekamen müden Applaus, für den sie sich höflich bedankten. Wie Honig tropfte die Stimme der Sängerin durch die Lautsprecher auf die letzten Recken dieser Nacht.

My funny Valantine …

Mit vor Erregung bebenden Lippen sah er ihnen zu, wie sie das Bild öffneten, wie ihre Freude und ihr Spaß jäh zum Ende kam, wie sich ansahen, mit geschocktem Blick – so etwas hatten sie noch nicht gesehen.

You look so laughable …

Wie viel Geld ihm diese Liebe gekostet hatte. Aber sie war jeden Cent wert gewesen. Und jetzt, im Moment der Rache, hatte sich alles, alles bezahlt gemacht hat.

Unphotographable …

Wahrscheinlich stand er gerade draußen und beteuerte ihr seine Liebe, dass das alles so lang her sei und er sich geändert habe. Dass er sie doch liebe, dass er nie den Mut gehabt habe, ihr das zu sagen. Er würde auf ihre Haut sehen, die jetzt im Dunkel der Nacht ganz weiß wäre, als wäre überhaupt kein Blut mehr in ihr, als wäre sie nur eine geisterhafte Vorstellung, der er zwar nachjagte, aber die fort war … fort.

But don’t change a hair for me, not if you care for me …

Was weiß der schon was Liebe ist. Liebe ist rachsüchtig, sie ist nachtragend, sie ist wankelmütig, sie ist todeslüstern. Sie ist verrückt.

Jetzt gab es nur noch eine Sache zu tun. Er musste sich beeilen.

Raffael stand auf dem Trottoir und sah dem Taxi hinterher, in das sie gerade gestiegen war. Der Duft ihres Parfüms, das nach Pfingstrosen roch, war von den Abgasen des Taxis davongetrieben worden. Gerade hatte er es noch gerochen, als er vor ihr stand und ihr sagte, dass das alles schon so lange her wäre. Aber es hatte nichts genützt. Sie war wortlos eingestiegen und ihn beschlich das ungute Gefühl, dass das letzte Mal gewesen wäre, dass sie einander gesehen hatten. Es war nur eine leise Ahnung, aber wie das so ist bei Betrunkenen, diese leisen Ahnungen können sich ganz schnell in eherne Tatsachen verwandeln.

Hier an der frischen Luft, spürte Raffael erst, wie betrunken und müde er war. Er wollte nach Hause gehen, die Nacht war lange genug gewesen.

Als er an den Tisch der Freunde trat, um seinen Mantel zu holen, blickte er in entsetzte Gesichter.

Langsam griff Uriel nach dem Handy und schob es wie in Zeitlupe und mit einem erbärmlichen Kratzen auf der Marmorplatte zu der Seite des Tisches, an der Raffael stand.

Raffael sah von einem Freund zum anderen und erst nachdem er tief durchgeatmet hatte, blickte er nach unten. Und sah sofort wieder weg.

Er schloss die Augen. Ihm wurde schwindlig und eine widerliche Übelkeit kroch ihm die Speiseröhre empor.

„Ihr glaubt nicht wirklich, dass ich das war?“ Er konnte nur flüstern und noch immer hielt er seine Augen geschlossen.

„Raffael“, sagte einer. „Warst du das?“

Raffael hörte ihn kaum. Es war als wäre er in einer dicken Schicht aus Watte, die Stimmen drangen nur ganz gedämpft zu ihm. Er schwitzte, obwohl ihm eiskalt war. Nur mit Mühe konnte er ein „Nein“ aus sich herauspressen, dann ein kräftigeres und schließlich öffnete er die Augen.

„Nein!“

Er sah sie, die ihm wie Geschworene gegenüber saßen, mit jetzt aufgerissenen Augen an.

„Fragt Barachiel, er kann es euch ja beweisen! Das würden wir nie tun!“

„Dann suchen wir ihn“, bekam er zur Antwort.

Gemeinsam gingen sie zur Toilette, Raffael fühlte sich wie in einem Traum, als würde er schweben, abseits von allem, was er für die Realität gehalten hatte.

Auf der Toilette war er aber nicht. Auf der Straße konnte er nicht sein, von da kam Raffael ja gerade. Vielleicht im Hinterhof.

Sie öffneten die schmale Metalltür zu einem kleinen Hof, der mit Mülltonnen und Sperrmüll vollgestellt war. Raffael, der ihnen nachgegangen war, sah es als letztes.

Barachiel lag bäuchlings auf dem Boden, am Kopf eine Platzwunde, die Augen leblos aufgerissen.

Alle drehten sich zu Raffael um.

„Ich glaube es ist besser, wir rufen die Polizei.“

Raffael konnte keinen klaren Gedanken fassen, das Blut pulsierte in seinem Schädel, als würde er gleich platzen. Er stolperte nach hinten, drehte sich um und ohne sich einmal umzusehen, hastete er durch das Lokal hinaus auf die Straße.

Die Freunde unternahmen keinen Versuch, ihm hinterherzulaufen, sie gingen ins Lokal zurück, um das Personal zu informieren und die Polizei zu rufen. Doch noch ehe sie eines von beiden tun konnten, fiel ihr Blick auf einen hageren, blassen Mann, der in der Mitte der Tanzfläche stand.

Die Sängerin sagte: „Auf besonderen Wunsch spielen wir noch einen allerletzten Song. Learning the Blues.“

Schnarrend setzte die Trompete ein und der einsame Tänzer setzte sich in Bewegung. Er hob die Arme, ganz langsam und als die Sängerin zu singen begann … „The tables are empty, the dancefloor’s deserted“ … nahm er sich selbst in die Arme, behutsam, wie ein zärtlicher Liebhaber. Sachte glitt seine Hand zu seiner Jackentasche. Er hatte den Mund halb geöffnet und das goldene Licht blitzte auf seinen Zähnen. Mit geschlossenen Augen nahm er einen silbernen Gegenstand aus seiner Jackentasche, hielt ihn sich an seine Schläfe und bevor irgendjemand verstand, was dort vor sich ging, sackte er in sich zusammen, nachdem ein markerschütternder Knall die Musik unterbrochen hatte.

Er hatte, was er wollte. Auch wenn er sich nicht sicher sein konnte, was mit Raffael passieren würde: Er hat, was er wollte.

One thought on “Jeunesse Dorée

  1. Moin Bruno,

    Kritik hilft dabei, besser zu werden. Ich mach dann mal den Anfang.

    Coole Geschichte die du dir da ausgedacht hast.

    Deine Namensfindung war ja mal richtig originell. Die Erzengel und Barocke Königinnen ( da bin ich mir nicht sicher ) , da muss man erstmal drauf kommen.

    Deine Geschichte hat mir gefallen, obwohl man nie wirklich weiß, was nun wirklich passiert ist. Das Ende ist gut gemacht. Schön offen gestaltet, so mag ich das. Auch die Tatsache das deine Geschichte sehr viele Fragen zurück lässt, gefällt mir persönlich sehr gut! Das startet das eigene Kopfkino.

    Deine erste Geschichte, oder schreibst du öfter? Du hast eine tolle Ausdrucksweise und dein Schreibstil wirkte auf mich unaufgeregt und locker.

    Deine Geschichte war am Anfang etwas wirr, weil du zweimal aus der 3. Person ( ER ) schreibst und man nicht mehr so leicht die „ Spur „ halten konnte. Aber das nur als kleine Anmerkung.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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