SaichiLiebste Laila

Nervös richtete Laila ihren Blick, in Richtung der Türen und hoffte keinen Kontrolleur zu sehen. An jeder Halstestelle stiegen gefühlt zwanzig Menschen mehr dazu, so dass Laila immer mehr in die Mitte gedrängt wurde und gezwungen war sich zu setzten. Dabei umklammerte sie den Brief für ihren Bruder, so fest sie konnte. Wöchentlich tauschten sie ihre Briefe aus. Den Brief steckte sie nach einer Weile in ihre Innentasche der Jacke. Sie schloss die Augen, um sich zu entspannen, den Trubel in der Bahn zu vergessen. Nichts verabscheute sie mehr, als vollgestopfte Bahnen.

„Entschuldigen Sie, ist das ihres?“ Blitzartig öffnete Laila die Augen und schaute auf ein Smartphone. Es musste ihr aus der Jacke gefallen sein. Sie nahm das Smartphone dankend an sich und wischte über den Bildschirm. Als sie den Sperrbildschirm sah, stockte ihr der Atem. Sofort schaute sie in Alle Richtungen. Versuchte den jungen Mann, der ihr das Smartphone höflich übergeben hatte, zu finden. Doch in der vollgefüllten Bahn, war es ihr schlicht unmöglich gewesen. In der Bahn schien es plötzlich noch enger zu werden. Laila bekam kaum Luft, wollte aufstehen, aus der Bahn verschwinden, hatte aber keine Kraft aufzustehen. Jemand beobachtete sie, das spürte sie genau. In Jeden der Einzelnen Menschen schien sie plötzlich böse Absichten zu erkennen. Nachdem sie sich nach langen Minuten gesammelt hatte, kämpfte sie sich durch die Menschenmenge und stieg eine Station früher am Frankfurter Hauptbahnhof aus. Als sie auf den nassen Beton sprang, holte sie erst einmal tief Luft. Es schien, als wäre ihr in der Bahn der Hals zugeschnürt worden. Dann wischte sie erneut über den Bildschirm und schnappte noch immer nach Luft. Weiter als zum Sperrbildschirm gelang sie nicht. Sie wischte den Bildschirm fast noch gefühlte hunderte Male frei, um sich zu vergewissern, dass sie nicht ein Opfer ihrer Fantasie geworden war. Ab der Sekunde, als sie das Bild auf dem Smartphone gesehen hatte, schwirrten ihre Gedanken nur noch in der Vergangenheit. Die Gedanken, die sie schon seit über fünf Jahren begraben hatte. Mit keinen der vier Menschen auf dem Bild hatte sie noch Kontakt gehabt und wollte es auch gar nicht mehr. Es war nicht nur das Bild selber, dass sie beunruhigte, sondern die Tatsache, dass auf den Köpfen ihrer damaligen Freunde ein Kreuz bearbeitet worden war. Laila schluckte schwer und versuchte endlich los zu laufen, blickte die ganze Zeit abwechselnd auf das Smartphone und den vielen Menschen, die ihr entgegen kamen. Alle schienen Verdächtig. Mit jedem Schritt den sie machte, wurde sie nervöser. Der kühle abendliche Frühlingswind blies kleine Regentropfen auf ihr Gesicht. Sie stöhnte und beschleunigte ihre Schritte. Lief an der Brücke vorbei und bog so schnell sie konnte in eine Nebenstraße, die nur noch einen Katzensprung von der Gutleutstraße entfernt war. Sie wollte nichts mehr, als sich in ihrer Wohnung verschanzen. Sie schlich förmlich durch das Treppenhaus und schloss die Tür sofort ab, als sie in ihre Bruchbude trat. Dann setzte sie sich auf das Bett, blickte andauernd auf das kleine Fenster und die Tür. Noch immer umklammerte sie mit der einen Hand das Fremde Smartphone. Mit der anderen Hand, kaute sie an ihren Fingernägeln. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie ihre Gedanken einigermaßen sortiert und das Smartphone auf ihren Nachttisch gelegt hatte. Als sie sich drei bis vier Gläser weißen Wein gönnte, versuchte sie das Handy zu entsperren. Leider ohne Erfolg. Sie ließ es wütend auf dem Nachttisch zurückfallen. Dann legte sie sich hin. Zitternd starrte sie noch immer auf die Tür, hörte wie der Regen leise an ihr Fenster klopfte und fiel nach fast zwei Stunden der Panik in einen unruhigen Schlaf.

Es waren nicht viele Stunden vergangen, als sie früh morgens aufwachte und keine Minute brauchte, um sich an die gestrigen Stunden zu erinnern. Sofort griff sie nach dem Smartphone, aber als sie darüber wischte, sprang ihr vertrauter Bildschirm auf. Ein langweiliges Foto eines Sonnenuntergangs. Panisch setzte sie sich auf und schaute um sich.  Schnell sprang sie aus dem Bett und griff nach dem erst besten Gegenstand, der in ihrer Nähe war und schlich durch die Wohnung. Nachdem sie Küche, Bad und den ihr kleines Zimmer abgesucht hatte, ließ sie die Tischlampe mit erleichtern auf den Boden fallen. Sie war definitiv allein. Bevor sie in weitere Panik verfiel, ließ sie sich die letzten Stunden nochmal genau durch den Kopf gehen. Hatte sie ein Fremdes Smartphone in den Händen gehalten? Hatte sie es woanders abgelegt? Voller Verzweiflung suchte sie ihren kleinen Tragekoffer und packte ihre wichtigsten Sachen ein und vergewisserte sich bevor sie zur Tür lief, ob sie auch wirklich nichts vergessen hatte. Die Tür musste sie nicht mehr aufschließen, denn das hatte bereits Jemand getan, oder hatte sie doch vergessen abzuschließen? Sie schluckte schwer und schaute erst durch den Spion, dann spähte sie ganz leicht mit dem Kopf nach rechts und links. Langsam zweifelte sie an ihrem Verstand. Eilig durchquerte sie das verkommene Treppenhaus und fand sich unten wieder, wo das Chaos, des Alltags herrschte. Als sie die paar Minuten förmlich zum Bahnhof gejoggt war, kaufte sie sich mit ihrem letzten Geld ein Ticket nach Leipzig. Die Fahrt erwies sich als Katastrophe, denn sie musste zwei Mal umsteigen und zu ihrem Pech, hatte der Zug auch noch zwei Stunden Verspätung. Sie war schon völlig ausgelaugt, als sie endlich am Leipziger Bahnhof ankam und sich durch die Straßen schlängelte, bis sie endlich das Haus ihres Bruders erreichte. Der einzige Mensch, der ihr noch geblieben war. Der Mensch, der nichts von Handys und dem Internet hielt und schnell in eine Art Paranoia verfiel. Der Mensch, der nur mit einem Brief oder einem Besuch zu erreichen war. Selbst der Empfängername auf den Umschlag sollte steht’s sein Pseudonym zieren. Auch bat er sie oft darum so undurchsichtig wie möglich zu bleiben. Immerhin wusste er genau über sie und ihre Taten Bescheid und versuchte alles daran nicht nur sich selbst, sondern auch sie zu schützen. Sie konnte immer auf ihn zählen und wusste, dass er ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen würde, selbst wenn sie unangekündigt vorbei kam. Mit zittrigen Händen klingelte sie an der Tür, bekam aber keinerlei Antwort. Also kletterte sie über das kleine Tor und sprintete hoch zur Wohnung. Die Tür stand offen und Laila befürchtete schon das Schlimmste. Sie brauchte einige Sekunden, bis sie sich in die Wohnung traute, rief beim hineingehen seinen Namen und bekam wie zu erwarten keine Rückmeldung. Die Luft war bedrückend, kaum zu ertragen. Der Scheußliche Gestank erinnerte sie an jene Nacht. Langsam trappte sie durch den Flur und öffnete die Tür des Wohnzimmers so langsam sie konnte. Einen schmerzlichen Schrei konnte sie sich nicht verkneifen, als sie ihren geliebten Bruder auf dem Sofa liegen sah. Der Anblick war entsetzlich. Auch wenn sie ihn kaum noch erkennen konnte, wusste sie, dass er es war. Sie spürte es. Auch einen Ausbruch von Tränen konnte sie nicht zurückhalten. Mindestens zwanzig Minuten stand sie einfach da. Unter Schock, nicht wissend was sie als nächstes tun sollte. Sie wusste genau was hier passiert war. Auch wusste sie wer ihm das angetan hatte. Trotzdem konnte sie sich keinen Reim daraus machen, wie er ihren Bruder finden konnte. Doch dann dämmerte es ihr, als sie neben der verkohlten Leiche ihres Bruders einen Brief liegen sah. Es war nicht irgendein Brief, sondern der Brief den sie einen Tag zuvor an ihn versenden wollte. Mit einem kräftigen Schluchzen sank sie zu Boden und kramte in ihrer Innentasche der Jacke herum, bis sie einen fremden Brief hervor holte. Sie robbte den Brief auf und fand darin ein Schreiben. Das Schreiben eines tief getroffenen Mannes. Eines Mannes, dem sie mehr Leid zugetragen hatte, als ihr lieb gewesen war.

Liebste Laila,

wahrscheinlich kannst du dich nicht mal mehr erinnern, aber wir waren in derselben Abschlussklasse. Ich habe jeden Tag hinter dir gesessen, gehofft, dass du dich umdrehst und mir in die Augen schaust. Dass du mir sagst, dass du dich Schuldig fühlst, dass du zu tiefst bereust was passiert ist. Nie hast du dich umgedreht, nie hast du dich gefragt wie ich mich fühle. Und doch warst du dafür verantwortlich. Meine Schwester… An dem Tag, an dem ich sie verloren hatte, bin ich ein Anderer geworden. An dem Tag bin ich mit ihr gestorben. Habe alles verloren, meine Familie, mein Leben. Warum habt ihr euch nicht gestellt. Warum habt ihr eure Tat nicht zugegeben? Ich habe nun lange genug gewartet, darauf, dass ihr es doch noch versteht. Keine Angst meine Liebe. Ich werde dir nichts tun. Du solltest nur dasselbe Schicksal erleiden, wie ich es schon seit Jahren erleide. Deine Tat sollte nicht ungestraft bleiben. Ich hoffe du bist stolz darauf. Darauf, dass du nicht nur das Leben meiner Schwester und meines, sondern auch das deines Bruders auf dem Gewissen hast.

Mein tiefstes Mitgefühl

Wer auch immer ich heute sein mag

Laila hatte es genau vor Augen. Die Nacht, sie und ihre betrunkenen Kumpanen, das Haus und den Spaß, den sie hatten, als sie das verlassene Haus anzündeten. Sie erinnerte sich genau an die Schreie aus dem Haus, wie sie diese ignorierten und nie wieder ein Wort darüber verloren. Nie mehr wollte sie an diese grausame Nacht erinnert werden. Ließ ihre Vergangenheit und alle Menschen die damit zu tun hatten hinter sich, ausgenommen von ihrem Bruder. Jetzt blieben ihr nur noch zwei Möglichkeiten. Den Rat ihres ermordeten Bruders zu befolgen, das Leben in völliger Isolation zu führen oder dessen Tod zu rächen.    

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