csalowskiDas Foto

 

Sie stockt. Im Nebenraum hektische Schritte auf dem Parkett. Ansonsten ist es ruhig in der kleinen Privatdetek­tei, deren Räume Maja vor wenigen Minuten betreten hat. Sie blickt wieder aus dem Fenster in den Garten im Innenhof, in dem eine Kirsche gerade anfängt zu blühen. In Gedanken ver­sunken. Stechende Gedanken. Aber bald wird sie es wissen, hofft sie. Ob Richard sie betrügt. Ein Klackern von Absätzen holt sie zurück in den düsteren Raum, sie wendet sich um, will zurück zum Stuhl auf der anderen Seite des Schreib­tischs, der für Gäste vorgesehen ist. Dabei bleibt Maja an einem Stapel Akten hängen, der eben noch auf der Fensterbank lag und nun mit einem dumpfen Schlag auf den Parkettboden knallt. Gehetzt sieht sie zur Tür. Wie peinlich wäre das, wenn Melzer, der Privatdetektiv, den sie im Internet gefun­den hat, jetzt hereinkäme. Er müsste ja denken, dass sie in seinen Sachen gekramt hätte. Schnell bückt Maja sich, ihr geblümter Rock verdeckt fast das gesamte Papier auf dem Boden, Unterlagen, manche geheftet, andere in loser Blatt­sammlung, achtlos zwischen Aktendeckel gestopft und nun hier auf dem Boden verteilt. Sie will gerade einfach alles zusam­menschieben, da fällt ihr Blick auf einen der Aktendeckel, der sich ein wenig zur Seite geschoben hat. Das kann doch nicht …? Angestrengt lauscht sie einen Moment, versucht herauszufinden, wieviel Zeit ihr noch bleibt. Da: ganz deutlich zu erkennen. Anastasia, dieser verhasste Name. Wie kommt das? Warum steht dieser Name, ihr zweiter Vorname, hier auf dem Aktendeckel? Der Name ihrer Großmutter, den sie Melzer nicht genannt hat. Und auch sonst niemandem in der Detektei.

 

Maja zögert, lauscht erneut. Es ist immer noch still. Wie lange wartet sie hier schon auf ihn? Zwei Minuten? Drei? Sie hat die Zeit vergessen.

 

Langsam bewegt sie ihre Hand auf den Aktendeckel zu. Wie skurril das ist. Sie tut gerade so, als könnte diese Akte sie beißen. So ein Quatsch, denkt sie, was soll da schon drin verborgen sein. Er ist schließlich Detektiv, er hat recherchiert, denkt sie, und dann kommt ihr der Gedanke, dass es womöglich einen Weg für Privatdetektive gibt, auf die Daten des Einwohnermeldeamts zuzugreifen. Ja, so wird es sein, versucht sie sich zu beruhigen. Sie hört ihren Atem, der in ihren Ohren rauscht, oder ist das das Blut, das ihr in den Kopf gestiegen ist? Sie bekommt immer so schnell einen knallroten Kopf, wenn sie sich über etwas aufregt. Richard fand das am Anfang immer lustig und hat sie damit aufgezogen. Richard. Der sie vielleicht betrügt.

 

Draußen hört sie jetzt Stimmen. Hektisch greift Maja mit spitzen Fingern den Aktendeckel und schlägt ihn zurück. Und erstarrt. Dort, in dieser beige-gelben Papierakte, mit einer Büroklammer an die Innenseite des Deckels geklemmt, hängt ein Foto. Auf dem Foto: sie. Maja.

 

 

II

 

„Nun komm schon runter! Lass den Vögeln auch noch was übrig!“ Richard muss ein wenig lachen, als er sich das sagen hört. Inzwischen klingt er schon genauso wie sein Vater, als der in seinen Vierzigern war. Richard wird ihm ohnehin immer ähnlicher, zumindest behauptet das seine Mutter. Ach, Dad, denkt er traurig und ist für einen Moment abgelenkt. Merkt erst spät, dass die Leiter zu wanken begonnen hat, und erschreckt sich kurz, als ihm Maja plötzlich, drei Sprossen über ihm stehend, vorwurfsvoll entgegenblickt.

 

„Willst du vielleicht, dass ich runterfalle?“, faucht sie ihn an.

 

Er seufzt. Innerlich. „Sag so was nicht, Maju. Du weißt doch, dass das Quatsch ist.“

 

Sie schnaubt kurz. Dreht ihm wieder den Rücken zu, um die letzten Sprossen hinunterzuklettern. Betrachtet schließ­lich, unten angekommen, den Haufen Äpfel im Korb, blickt nach oben, zuckt mit den Schultern und sagt: „Dann lassen wir den Rest eben vergammeln.“

 

Richard seufzt. Innerlich. Mit Maja zu diskutieren, selbst wenn er es auf seine netteste Art und Weise versucht, sie zärtlich Maju nennt, bringt nichts. Er hat es schon vor langer Zeit aufgegeben.

 

„Was hältst du von einem Apfelkuchen?“, fragt er.

 

„Das kommt ganz darauf an“, sagt sie und zwinkert leicht.

 

Er stutzt. „Worauf denn?“

 

„Na, darauf, ob ich mich jetzt nach dieser Aktion in Ruhe unter die Dusche stellen und darauf warten kann, dass es anfängt, gut zu duften aus der Küche. Oder ob das heißen soll, dass ich mich nach all der Arbeit jetzt auch noch hin­stellen und den Kuchen selber backen soll!“

 

Klar, denkt Richard. Als wäre es in den letzten Jahren je anders gewesen. Er erinnert sich kaum noch an die Zeit, als Majas Zwinkern wirklich bedeutete, dass sie einen Scherz mit ihm machte, dass sie entspannt war, dass sie gleich gemeinsam lachen und sich vielleicht sogar berühren würden. Wie machen das eigentlich andere Paare, fragt er sich. Wenn er sich an früher erinnert, an andere Beziehungen, an Frauen vor Maja, ganz verschwommen, dann war das doch möglich. Zu­sam­men lachen. Übereinander lachen.

 

„Was?“

 

Richard blickt auf. „Hm?“

 

„Du hast geseufzt. Was ist?“

 

„Nichts“, sagt Richard, „ich war nur in Gedanken. Geh du nur duschen, ich kümmere mich schon um den Kuchen.“

 

 

III

 

Das Wasser tost in ihren Ohren. Sie lässt es direkt hineinprasseln, hat den Kopf bewusst so zur Seite gelegt, dass der Strahl genau auf ihr Ohr trifft. Aber es funktio­niert nicht. Sie hört immer noch Melzers Worte. „Sie müssen sich das gut überlegen, Frau Santos.“ An den Satz erinnert sie sich noch. Viel mehr weiß sie nicht mehr.

 

Er hat sie herzlich begrüßt, Privatdetektiv Melzer, als er schließlich ins Zimmer kam. Schien ihr nichts anzumerken. Rechtzeitig hatte sie die Akte wieder zugeklappt, den Stapel zusammengeschoben und zurück auf die Fensterbank gelegt, war um den Tisch herumgestürzt, auf den Stuhl, der da stand, einer von zwei Stühlen auf der anderen Seite des Schreib­tisches. Klassisches Setting für so ein Büro, dachte sie noch, als sie sich auf den Stuhl rettete, der ihr am nächsten stand. Gerade rechtzeitig, denn schon ging die Tür auf, und Melzer stand im Raum. Wie schaut jemand, der so tun muss, als sähe er einen zum ersten Mal, obwohl das gar nicht stimmt, fragte Maja sich. Zwar war das nur ein Schnappschuss von ihr gewesen dort in dieser Akte, aber er hatte da nun mal gelegen, in seinem Büro, in seiner Akte – also musste er sie doch zumindest von diesem Foto bereits gekannt, sie in diesem Moment erkannt haben.

 

Sie neigt den Kopf zur anderen Seite, spürt das Wasser auf ihrer rechten Stirnseite abperlen. Es fühlt sich immer noch nicht laut genug an, um ihre Gedanken zu übertönen. Was soll sie jetzt tun?

 

Sie zuckt zusammen, als sie plötzlich im Augenwinkel Richard erblickt, der sie ansieht. Anstarrt. Ruckartig dreht sie sich zu ihm um, verschränkt die Arme vor der Brust. „Was ist?“, herrscht sie ihn an. Und bemerkt, wie sich die Falte zwischen seinen Augen bildet, die nahezu perfekt gerade von oben nach unten verläuft. Wie er die Augenbrauen zusammen­zieht. Nicht das jetzt wieder, denkt sie. Für einen Moment sieht es so aus, als wolle Richard etwas sagen. Da stehen sie, starren sich an, sie nackt unter der Dusche, der Wasserstrahl trifft noch immer mit voller Wucht auf ihren Körper, und durch die offene Badezimmertür zieht es ein wenig, sodass sich Gänsehaut an ihren Armen bildet. Er vor der Glasscheibe, die Arme hängen schlaff an der Seite herunter. Untätig steht er da und scheint nachzudenken. Was, wenn er sie verlässt? Sie denkt den Gedanken nicht zu Ende, will nicht, kann nicht, sieht sich suchend um, findet das Handtuch dort auf dem Schemel, weit weg, so weit weg, Richard steht zwischen ihr und dem Schemel, zwischen ihr und dem Handtuch. Er scheint ihre Blicke zu bemerken, dreht sich um, plötzlich ebenfalls angespannt, sie sieht seine Muskeln unter seinem Hemd zucken und spielen. Noch einen Moment zögert er, sein Blick scheint einen Punkt in weiter Ferne zu fixieren, er kräuselt die Stirn, als suche er etwas, dann setzt er sich in Bewegung, geht zum Schemel, mintfarben lackiert ist er und wackelt ein wenig seit damals, als Richard ihn reparieren musste, nachdem er in einer ähnlichen Situation gegen die Wand geflogen war, das eine Bein von dreien zerschmettert, und so richtig gerade ist es nie wieder geworden, das Längenverhältnis des neuen Beins zu den anderen stimmt einfach nicht, da hätte er sich mehr Mühe geben müssen.

 

Maja beginnt sich langsam zu entspannen, als sie sieht, wie Richard mit dem großen Badetuch auf sie zukommt. Sie stellt das Wasser ab, wringt ihre Haare aus und nimmt den Abzieher in die Hand.

 

„Lass“, sagt Richard. „Der Apfelkuchen ist fertig, du magst ihn doch am liebsten, wenn er noch warm ist. Vielleicht haben wir auch noch Vanilleeis in der Kühltruhe. Geh nur, iss ein wenig Apfelkuchen, ich mach das hier schon.“

 

Ihre Blicke treffen sich. Sie irrt sich, muss sich irren. Er würde sie nicht verlassen, wie kommt sie nur auf den Gedanken, fragt Maja sich, und ihr Blick wird weich. Er ist gut zu ihr. Er macht Apfelkuchen. Mit Vanilleeis. Sie werden das schon schaffen.

 

 

IV

 

„Sind Sie sich wirklich sicher, Frau Santos?“ Melzer klingt noch skeptischer, als es seine Worte vermuten lassen.

 

„Ja“, sagt Maja. „Ich habe es mir anders überlegt.“ Stille. Warum? Es könnte ihm doch egal sein.

 

„Nun gut. Sie wissen, ich hätte Sie gerne in dieser Sache unterstützt. Aber ohne Mandat …“

 

Ein „Danke, Herr Melzer“ bringt sie gerade noch heraus, bevor sie das Gespräch beendet. Ob das richtig war?

 

Sie zuckt zusammen, als Richard hinter ihr die Küche betritt. Hat er etwa im Flur gestanden und das Gespräch mit angehört? Sie überlegt fieberhaft, was genau sie gesagt hat und ob er sich daraus zusammenreimen kann, was sie vorhatte. Dass sie ihm nachspionieren wollte. Nicht gerade ein Ver­trauensbeweis. Nein, denkt sie. Es hätte auch irgendein Gespräch mit einem Handwerker sein können, ja, ein Handwer­ker, einer, der den Kamin neu verkleiden hätte sollen, aber zu teuer war, das haben sie sich ja ohnehin schon länger überlegt. Maja wartet. Richard steht inzwischen neben ihr, öffnet den Oberschrank, nimmt sich auch einen Teller und packt gleich zwei Stücke vom herrlich duftenden Apfelkuchen darauf.

 

„Maja?“

 

Sie schaut hoch. In die Augen, die sie schon so lange begleiten, von denen sie sich schon so lange beobachtet fühlt. Sie sucht. Nach einem Anzeichen. Nach einem Hinweis dafür, ob er das wirklich gewagt hat. Das Foto in der Akte. Ob er …? Der Gedanke ist plötzlich da und sticht ihr ins Herz. Wieso ist ihr das nicht früher eingefallen? Hat ER ihr etwa nachspioniert? „Richard…?“

 

„Ja?“ Er betrachtet sie. Ruhig. Besonnen. Wartet darauf, dass sie weiterspricht. Ahnt er, was sie ihn fragen will? Der Gedanke versetzt ihr einen Stich. Sie hat solche Hoffnung in diese Idee gelegt, in den Wunsch, der sie schon seit Jahren umtreibt, endlich ein Kind zu bekommen. Ein zweites Kind. Wenn es nur da wäre, wenn sie nur etwas hätten, das sie wieder neu verbindet. Gerade jetzt, wo sie nicht weiß, ob sie ihm vertrauen kann und ihm doch vertrauen will, wäre das doch ein Beweis, dass er zu ihr steht. Etwas, für das sie Sorge und Liebe teilen können, denkt sie, dann wäre die Wut vielleicht nicht mehr so groß, so mächtig, so erdrückend und allumfassend, dann würden sie sich vielleicht nicht mehr so oft streiten, dann würde er es nicht mehr schaffen, sie so oft zu reizen, bis aufs Blut, bis sie rot sieht, bis sie nicht mehr kann. Dann würde er es nicht mehr schaffen, ihr heimlich die Schuld zu geben, diese unaus­sprechliche, undenkbare Schuld. Sie hat es doch nicht gewollt, das muss er doch endlich verstehen, es war ein Versehen, sie hat doch nur endlich Ruhe gewollt, endlich schlafen, es ist doch verständlich, dass man irgendwann auch einmal schlafen muss. So laut war es, so laut hat es geschrien, dieses kleine Etwas, da hat doch was nicht gestimmt, es war ganz sicher nicht ihre Schuld, mit diesem Kind hat etwas nicht gestimmt. Diesem ersten Kind.

 

„Kaffee, Maja? Willst du auch einen Kaffee?“

 

Ihr Gesicht verdunkelt sich. Sie beobachtet, wie Richard sich von ihr wegdreht zur Kaffeemaschine, wie er Wasser aus dem Hahn in die Kanne füllt, sechs Tassen. Dann schüttet er es in den Wasserbehälter, holt einen Kaffee­filter aus dem Apothekerschrank und das Kaffeepulver, zählt die Löffel ab. Wie kann er nur, denkt sie. Wie kann er nur nicht merken, dass es gerade wieder passiert? Ich war doch nicht schuld daran, was damals geschehen ist, ich wollte doch nur schlafen, jeder muss doch mal schlafen. Plötzlich steht er vor ihr, Richard, ihr Mann, der Vater des Kindes, das sie verloren haben. Sieht sie an, mustert sie geradezu. Zieht die Stirn kraus, da ist sie wieder, die Falte, die er vorhin schon gezogen hat, diese Furche zwischen seinen Augen. Es macht sie wütend, so wütend, wie er einfach dasteht und nicht bemerkt, welcher Schmerz sie umtreibt und wie hoffnungsvoll sie gleichzeitig ist. Sie wollte ihn über­raschen mit der Idee, es wieder zu versuchen, ein zweites Kind, endlich wieder eine richtige Familie sein. Ein Risiko, ja, so viel Zeit ist noch nicht vergangen, seit sie das Kind verloren haben, aber das einzugehen, war sie bereit gewesen, damit sie endlich wieder glücklich hätten sein können, ein Kind, endlich wieder ein Kind, ein zweiter Versuch. So un­säglich wütend macht es sie, wie er jetzt dasteht und tut, als wisse er von nichts, dabei kann es nur so gewesen sein, ER muss das gewesen sein, ER muss Melzer kontaktiert haben, wie sonst soll ihr Foto in die Akte gekommen sein und dieser schreckliche zweite Vorname auf den Deckel?

 

„Maja?“, sagt Richard wieder, und da reicht es ihr, er soll aufhören, endlich aufhören mit den Vorwürfen, den laut­losen, sie hört es doch, ganz laut und deutlich, wie er sie ohne einen einzigen Ton anschreit, in Gedanken, sie sieht es auf seinem Gesicht in seinen Augen. Du bist schuld, schreit es ihr entgegen, du hast unser Kind totgeschüttelt! Da ist es. Dieses Stromstoßgefühl, mit dem es immer beginnt, als würde etwas sie anzünden, jeder Muskel in ihrem Körper hat plötzlich den Impuls, auf volle Kontraktion zu gehen, ihr ganzer Körper ist eine einzige Anspannung. Sie richtet sich auf, legt den Kopf schief, tritt auf ihn zu. Raus, alles raus, es muss raus, dieses ganze Gefühlschaos, die Schuld, die Scham, die Wut, Wut auf ihn und auf sich und auf ihre kleine Tochter, die plötzlich nicht mehr schrie, sondern stumm und leblos in ihren Händen lag.

 

Ein Schlag mit der flachen Hand, gleichzeitig tritt sie Richard mit voller Wucht gegen das Knie, er knickt sofort ein, wehrt sich nicht, macht sich klein. Er kauert auf dem Boden, kein Laut verlässt seine Lippen. Wie eine Stummfilm­szene ist das, kaum ein Laut ist zu hören, von Maja nicht, von Richard nicht, nur das dumpfe Geräusch, das es macht, wenn Majas Hände auf ihn treffen, wenn ihr Fuß seine Seite erwischt. Gespenstisch still ist es, als es irgendwann aufhört.

 

 

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