Sebastian EmmertKuckucksliebe

Ich kann dir Tränen in die Augen schießen lassen

und Tote wiedererwecken.

Ich komme im Bruchteil einer Sekunde

und bleibe ein Leben lang.

Wer bin ich?

 

Es heißt, alle Menschen seien gleich. Sogar im Grundgesetz ist diese Annahme fest verankert. Doch sie ist falsch! Denn es gibt gute Menschen und es gibt schlechte Menschen. Es gibt geborene Anführer und es gibt Mitläufer. Es gibt die Lebenden und es gibt die Toten. Es gibt die Menschen, die am Morgen aus der Nacht erwachen und dadurch der Dunkelheit entkommen. Und es gibt  Menschen, die die Dunkelheit in jeder Sekunde des Tages tief in sich tragen. 

 

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Der Frühling hat das lästige Band des Winters endgültig abgeschüttelt. Es bedarf nur weniger Sekunden am Morgen und schon hat die aufgehende Sonne das Spiel mit dem Tau der Nacht begonnen, es funkelt und glitzert, als bestünde alles Gras aus kleinen Diamanten. Diamonds are  a girl´s best friend denkt Leonie Hartmann beim Blick aus dem Fenster und summt leise die Melodie, während sie auf nackten Füßen noch einmal in Richtung Bett schleicht. Langsam schlüpft sie unter die noch warme Decke und robbt an den Mann ihrer Träume heran. Er lässt keine Anzeichen erkennen, ob er schon wach ist und so legt Leonie einen Arm um ihn. Ein paar Sekunden später spürt sie, wie er ihre Hand nimmt und sie mit seiner umschließt.

„Guten Morgen“ flüstert Leonie und küsst sein Ohr. 

„Mit dir ist jeder Morgen ein guter Morgen“ murmelt Maximilian. 

Leonie kuschelt sich fester an ihn, genießt die Nähe und kurz überfällt sie eine Traurigkeit. Würde sie doch den ganzen Tag so mit ihm verbringen können. Doch um spätestens 10 Uhr muss sie die gemeinsame Wohnung verlassen. Maximilian dreht sich zu ihr und blinzelt gegen die Sonne an, die in ihrem Rücken durch das geöffnete Fenster fällt. Er rückt noch näher, sodass er im Schatten liegt, den ihr Körper wirft. Langsam wandert seine Hand ihre Hüfte hinauf und hinterlässt einen wohligen Schauer auf ihrer Haut. Leonie spürt, wie sich die feinen Härchen auf ihrem Rücken beginnen aufzustellen. Sie mag es, wie ihr Körper auf ihn regiert. Und sie genießt, in ihm den einen Menschen gefunden zu haben, ihre Zukunft.

 

Es ist dann doch schon weit nach 10 Uhr, als sie durch die Haustür hastet. Maximilian und sie konnten nicht voneinander lassen. Doch auch wenn sich Leonie nun beeilen muss, so bereut sie keine einzige Sekunde der sich nun anbahnenden Verspätung. Vielmehr zaubert ihr jeder Gedanke an den bisherigen Morgen unweigerlich ein seliges Lächeln ins Gesicht. Noch nicht einmal ein Jahr sind Maximilian und sie nun ein Paar. Immer noch erscheint ihr jeder Moment mit ihm neu, die Zuneigung wird selbst nach all den Monaten von Tag zu Tag noch stärker. Leonie hätte nie gedacht, noch einmal so für einen Menschen empfinden zu können. Doch sie tut es. Auch wenn ein immer kleiner werdender Teil in ihr sie immer wieder mahnt, sich nie wieder so auf einen Menschen einzulassen. Aber was kann sie tun? Sie spürt, dass es richtig ist. Dass er der Richtige ist. Sie will ihn und ist bereit, alles dafür zu opfern. Sich ihm ganz und gar zu verschreiben. Mit ihm hatte ihre Zukunft begonnen und die Vergangenheit wird mit jedem Tag blasser und blasser. Doch gänzlich abschütteln kann sie das Geschehene nicht, so gerne sie auch würde. Erst recht nicht an einem Tag wie heute. Dem 28. April. Dem Geburtstag ihrer besten Freundin.

 

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Als sie ihn im September 2019 das erste Mal sah, löste sein Anblick nicht das Geringste in ihr aus. Nicht, weil er nicht attraktiv gewesen wäre oder sein Lächeln, das er ihr schenkte, nicht wärmend und einladend wirkte, sondern vielmehr, weil Leonie sich zu jener Zeit völlig in sich selbst zurückgezogen hatte. Damals war sie einfach noch nicht bereit, sich jemandem zu öffnen. Maximilian war mit drei Freunden ins D´Agostino gekommen, wo Leonie nur drei Wochen zuvor begonnen hatte, zu arbeiten, nachdem sie gerade in die Stadt gezogen war. Hätte Fiona, ihre Kollegin, sie nicht irgendwann darauf hingewiesen, dass der „heiße Typ mit dem Lockenkopf“ sie die ganze Zeit nicht aus den Augen ließe, sie hätte ihn wohl bis heute nicht wahrgenommen. Im Nachhinein ist sie Fiona doch dankbar für den Ratschlag, „es mal mit einem Lächeln zu versuchen: hilft bei Männern und beim Trinkgeld“, auch wenn sie damals nur mit den Augen gerollt hatte.  Leonie begann im weiteren Verlauf des Abends, nun selbst immer öfter zum Tisch zu blicken, an dem Maximilian saß. Immer wieder trafen sich ihre Blicke. Doch während sie die ersten Male schnell wieder wegsah, hielt er ihrem Blick immer stand, bis auch sie sich traute, ihm direkt in die Augen zu sehen. Dieses darin liegende stumme Versprechen, lies sie mit einem Mal wieder in eine bessere Welt und eine bessere Zukunft glauben. Ohne es zu merken, lächelte sie zurück. 

 

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„Es ist 10:43 Uhr, meine Liebe“ empfängt sie Fiona im D´Agostino. Sie lehnt an der Theke und schaut auf den darüber angebrachten Fernseher, auf dem die Kanzlerin und der Gesundheitsminister zu sehen sind. 

„Scheiß Corona“ grummelt Fiona. „Die Menschen können gar nicht so viel Pizza bestellen, als dass sich das für uns rechnen könnte.“ 

Sie dreht sich zu Leonie um. 

„Geh Massimo lieber aus dem Weg. Der hat eine scheiß Laune, sag ich dir.“

Fiona beginnt Leonie zu mustern und ihre Mundwinkel umschließt ein spöttisches Grinsen. 

„Da hatte jemand Sex“ lacht sie und streicht Leonie eine Haarsträhne aus dem Gesicht. 

„Was? Nein, ich habe nur verschlafen“ dementiert Leonie, spürt aber, wie ihr unweigerlich Röte ins Gesicht schießt.

„Nein, du hast nicht verschlafen, du hast mit Max geschlafen“ lacht Fiona. 

Bevor Leonie etwas sagen kann, fliegt die Küchentür auf und Massimo schmeißt einen Pizzakarton auf die Theke. 

„Adresse steht drauf. Schön, dass du endlich da bist“. 

Massimo verschwindet wieder in der Küche, während Fiona das läutende Telefon abnimmt. 

„Dir auch einen guten Morgen“ murmelt Leonie, greift nach dem Pizzakarton, winkt Fiona zu und macht sich auf den Weg. 

„Das beste Heilmittel gegen das Virus sind wir Menschen selbst“, hört sie die Kanzlerin sagen. Unweigerlich muss sie wieder lächeln und an den Menschen denken, der ihr Heilmittel ist. Sie fingert ihr Handy aus der Hosentasche und schreibt Maximilian eine kurze Nachricht, nur aus Emoticons und Herzen bestehend. Doch wie so oft in Momenten des vollkommenen Glücks schleicht sich die Dunkelheit wieder in ihre Welt. Denn sie weiß nur zu gut, dass Menschen auch etwas anderes als ein Heilmittel sein können. Menschen können auch eine Waffe sein. 

 

Die Lieferung ist schnell erledigt, die Adresse liegt nur zwei Querstraßen weiter. Leonie streift den Mundschutz und die Handschuhe ab, als sie das D´Agostino wieder betritt. Durch die Fenster, die den Blick in den Biergarten ermöglichen, der unter normalen Umständen wohl jetzt schon gut gefüllt wäre, sieht sie Massimo mit einem Weinglas und einer Zigarette in der Sonne sitzen, während Fiona gelangweilt an der Theke auf ihrem Handy herumtippt. 

„Wie viel hat er schon getrunken?“ fragt Leonie und nickt in Richtung des Biergartens. 

„Wenn du ihn fragst, noch nicht genug“ zuckt Fiona mit den Schultern. „Ich gebe dem Laden hier noch 3 Wochen, wenn sich dann nichts ändert, können wir aufs Amt gehen. Ach nein“ sie schlägt sich übertrieben an den Kopf „dürfen wir ja bestimmt auch nicht, ist bestimmt auch geschlossen. So wie alles.“ Fiona seufzt. „Ich will endlich mal wieder tanzen gehen“

Das Telefon klingelt und da ihre Kollegin melancholisch an der Theke lehnt, nimmt Leonie ab. 

D´Agostino, ihre Bestellung bitte.“

Am anderen Ende hört sie nur einen leisen Atem.

„Hallo?“ fragt sie nach. 

„Das geht schon den ganzen Morgen so. Es klingelt, doch niemand meldet sich“ hört sie Fiona sagen. 

„Ja, ich würde gerne was bestellen“ ertönt doch noch eine Stimme aus der Leitung. Eine Stimme, von der Leonie nicht sagen kann, ob sie einem Mann oder einer Frau gehört.

„Bitte?“ 

„Eine Pizza Salami. Herrengasse 13. Danke.“

„Ihr Name?“ fragt Leonie, doch da ist die Leitung schon tot. 

„Komisch“ murmelt Leonie, macht sich dann aber doch auf, Massimo die Bestellung zu überbringen. 

 

Die Herrengasse liegt fast am anderen Ende der Stadt, nur zwei Straßen weiter und es wäre außerhalb des Lieferradius gewesen. Die Gegend an sich ist eine, die Leonie aus ihrem früheren Leben kannte und in die sie ohne Grund niemals freiwillig einen Fuß gesetzt hätte. Vor 40 Jahren war es bestimmt einmal schön hier. Doch nun sind die Vorgärten verwildert, die Fassaden bröckeln und es steht allerlei Unrat an der Straße und vor den Häusern. Leonie stellt den rot-weiß-grün lackierten Fiat Punto mit dem D´Agostino-Schriftzug, den sie für die Ausfahrten nutzt, vor dem freistehenden Einfamilienhaus mit der Nummer 13 ab und blickt aus dem Fenster. Der Gartenzaun bildet keine wirkliche Einheit mehr, einzelne Streben des brüchigen Holzes liegen im mit Unkraut überwucherten Vorgarten. Das dahinterliegende Haus an sich würde mit einem neuen Anstrich vielleicht sogar etwas hermachen. Seufzend zieht sie sich den Mundschutz und die Handschuhe über. Immerhin kein Mehrparteienhaus, schließlich hatte sie ja lediglich eine Lieferadresse aber keinen Namen bekommen. Vermutung, dass es ein dummer Streich einer gelangweilten Person in Quarantäne sein könnte, ist dennoch nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Leonie steigt aus dem Auto auf die menschenleere Straße. In Zeiten der Ausgangssperre kein ungewohntes Bild, doch nicht einmal in den umliegenden Häusern kann sie irgendein Zeichen von Leben ausmachen.

 

Sie schnappt sich den Warmhaltebehälter, in dem die Pizzaschachtel liegt und geht auf das alte, verrostete Gartentor zu. Keine Klingel, kein Namensschild. Also schiebt sie das Tor in Richtung des mit Unkraut übersäten Weges auf, was ein lautes Quietschen verursacht, das sich unangenehm durch die sonstige Stille der Straße zieht. Langsam geht Leonie auf die Eingangstür zu. Ihr Puls beschleunigt sich und sie ist kurz davor, aufgrund ihrer plötzlichen Nervosität über sich selbst zu lachen. Die Situation ist ihr dennoch suspekt. Noch suspekter, als die Fußmatte vor der Tür. Nicht, dass es eine gibt. Sondern die Tatsache, dass sie noch nagelneu aussieht und sich somit überhaupt nicht in das heruntergekommene Bild der Gegend einfügen will. Doch noch seltsamer ist der Gegenstand, der auf der Fußmatte liegt: ein iPhone der neuesten Generation. 

 

Leonie stellt die Box ab und beugt sich herunter, um das Handy aufzuheben. Dadurch fällt ihr Blick auf den Schriftzug der darunterliegenden Fußmatte. Herzlich willkommen bei Familie Straubitz prangt in geschwungenen Lettern darauf. Leonie erstarrt und kalter Schweiß tritt ihr auf die Stirn. Sie stopert ein paar Schritte zurück und versucht, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. „Das kann immer noch ein sehr, sehr schlechter Scherz in Kombination mit Zufall sein“ versucht sie sich selbst zu beruhigen. Die Maske klebt an ihrem Gesicht und beginnt zu jucken. Als sie sie zurechtrücken will merkt sie, dass sie immer noch das iPhone in der Hand hält. Durch die Bewegung ihrer Hand hat sich das Display eingeschaltet, was Leonie erst lediglich aus dem Augenwinkel wahrnimmt, bevor der Bildschirm wieder schwarz wird. „Dreh nicht durch, Hartmann“ ermahnt sie sich selbst. Sie blickt wieder auf den schwarzen Bildschirm und tippt mit dem Finger darauf. Leonie hat das Gefühl, unter der Maske keine Luft mehr zu bekommen, und gerade in dem Moment, in der sie sie von ihrem Mund zieht, verschwindet ihr eigenes Bild wieder vom Display und ihr sich darin spiegelndes ungläubiges Gesicht ist alles, was sie auf dem Handy sieht. 

 

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„Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe, Leonie?“

Die Stimme klang fern, ganz weit entfernt, wie durch Watte gedämpft.  Sie saß auf der Couch im Wohnzimmer und wiegte sich selbst leicht hin und her, summte ein Lied, dessen Text sie nicht mehr kannte, ihre Mutter ihr aber immer vor dem Schlafen gehen vorgesungen hatte. Sie wusste nur noch, dass es von Sternen handelte. Und nun waren ihre Mutter und ihr Vater selber zu Sternen geworden. 

Der Polizist ihr gegenüber gab es auf, setzte die Uniformmütze wieder auf und verließ den Raum. Draußen sagte er etwas davon, dass es nichts bringe, dass das Mädchen unter Schock stünde. Ein Kollege, weit jünger als er und wohl nur wenige Jahre älter als Leonie selbst, betrat das Wohnzimmer und setzte sich neben sie. 

„Wie heißt das Lied?“ fragte er mit der Andeutung eines Lächelns. 

Leonie blickte starr auf den Sessel, in dem ihr Vater immer gesessen hatte, um die Zeitung zu lesen. Er würde nun für immer leer bleiben, die Zeitung ungelesen. „Ich muss die Zeitung abbestellen“ dachte sie, und im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass sie nicht wusste, wie man dies tat. Dass sie überhaupt nichts wusste. Dass sie nicht kochen konnte, dass sie keine Kleidung waschen konnte, dass sie nichts von Alldem wusste, was der Alltag mit sich brachte. Dass sie in all den Jahren ihres bisherigen Lebens darauf vertraut hatte, dass ihre Eltern ihr das alles noch sagen würden, zeigen würden, beibringen würden. Es war ja noch Zeit, sie sollte einfach nur jung sein, unbekümmert, leben. Doch nun war die Zeit vorüber – von einer Sekunde auf die andere. Das Herz schlägt, das Herz schlägt – das Herz schlägt nicht mehr. Das Herz des Kolibris schlägt im Flug sogar 1.200mal in der Minute. Das entspricht 20 Schlägen in der Sekunde. Seltsame Fakten, die einem in den Sinn kommen, wenn man sie nicht braucht. Und Leonie brauchte sie in diesem Moment überhaupt nicht. 

„Was soll nun aus mir werden?“ flüsterte Leonie.

Der junge Polizist versteifte unmerklich. Er legte ihr seine warme Hand auf den Rücken und streichelte sie in wiederkehrenden, beruhigenden Bewegungen. 

„Das wird sich alles regeln“ sprach er ihr Mut zu. „Es gibt Menschen, die werden sich um dich kümmern.“

„Ich will einfach auch tot sein.“ 

Der Satz kam ohne großes Überlegen aus ihrem Mund, er wollte einfach heraus, als Ausdruck ihres tiefsten Empfindens in diesem Moment.

Die Hand auf ihrem Rücken stockte kurz.

„Das willst du nicht. Du hast dein Leben noch vor dir und deine Eltern würden wollen, dass du es lebst und nicht einfach wegwirfst.“ 

Kurz trafen sich ihre Blicke und in diesem kurzen Moment konnte sie auch in seinen Augen den Schmerz und die Dunkelheit sehen.

 „Voss, gib es auf. Der Psychologe ist auf dem Weg, das Jugendamt ebenso“ knurrte der ältere Kollege aus der Tür. 

Der Polizist nickte, schluckte und drehte sich langsam weg. 

 

Leonie war 15 Jahre alt, als sie ihre Eltern verlor. Autounfall. Unverschuldet. Es gab keine Verwandten mehr, die sie hätten aufnehmen können und so kam sie in das „Haus zur Sonne“. Und Magdalena Straubitz sollte ihre beste Freundin werden. 

 

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„Ruhig, ruhig, ruhig“. 

Fiona redet immer wieder auf sie ein, während sie mit einer Hand ihren Rücken streichelt, so wie der Polizist Jahre zuvor. 

„Und jetzt nochmal von vorne“. 

Leonie knallt das iPhone auf den Tisch.

„Schau doch selbst“. 

Fiona tippt den Bildschirm mit dem Finger an und Leonies Gesicht lacht ihr vom Bildschirm entgegen. Das Foto ist wohl kaum ein Jahr alt. So wirklich einordnen kann Leonie es selbst nicht, hat aber eine Vermutung. Zudem ist ihr klar, dass etwas auf dem Bild fehlt, vielmehr jemand, und es nur der Ausschnitt aus einem Foto ist. 

„Keine Sperre, man kann einfach rein“ stellt Fiona fest und Leonie nickt.  

„Hab ich auch schon rausgefunden, aber das Handy ist komplett leer. Keine Nachrichten, Adressen, Nummern oder Apps über den Werkszustand hinaus.“

„Kaffeekränzchen?“ ertönt Massimos Stimme aus der Küche. Doch beim Blick auf seine Mitarbeiterinnen spart er sich jeglichen weiteren Kommentar und setzt sich an den Tisch. Sein Atem ist weingeschwängert. Es ist wohl nicht bei dem einen Glas von vorhin geblieben. 

„Was ist hier los?“ fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen, während er eine Zigarette aus der Packung pfriemelt. 

„Nicht hier drin“ tadelt ihn Fiona. 

„Wieso nicht? Macht mir das Gesundheitsamt sonst den Laden dicht? Die haben wohl gerade andere Probleme! Hol mir lieber einen Aschenbecher und einen Rotwein. Aber nicht den billigen für die Gäste“. Mit einer Handbewegung scheucht Massimo Fiona wie eine lästige Fliege hinfort. 

„Also?“ fragt er in Richtung Leonie.

Sie erzählt und erzählt, Massimo raucht und trinkt, schickt Fiona noch einmal zum Nachschenken, was diese dazu verleitet, ihm einfach die Flasche neben sein Glas zu stellen. 

Nachdem Leonie geendet hat herrscht kurz Stille im Raum. 

„Also hat niemand die Pizza bezahlt?“ fragt Massimo schließlich.

„Ja, genau das ist der springende Punkt“ stöhnt Fiona. 

„Gib mal das Handy“ sagt er und drückt seine Zigarette aus, nur um gleich die nächste aus der Schachtel zu ziehen. Mit hochgezogener Augenbraue navigiert er durch die verschiedenen Apps, bis er den Bildschirm zu Leonie dreht. „Wer ist die Frau auf dem Foto neben dir?“ fragt er.

„Das“ antwortet Leonie „das ist Magdalena Straubitz.“

Und sie beginnt zu erzählen, was sie bis dahin noch niemanden erzählt hat. Nicht einmal Maximilian. 

 

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Das „Haus zur Sonne“ wurde ihr neues Zuhause. Bei ihrer Ankunft wurde sie von Frau Wolters begleitet, ihrer vom Jugendamt zugewiesenen Betreuerin. Leonie hatte keine Ahnung, wie alt ihre Betreuerin war, doch sie war sich sicher, dass sie nicht so alt sein konnte, wie sie aussah. Zu jeder sich bietenden Gelegenheit zog sie eine der langen, dünnen Zigaretten aus ihrer Handtasche und zündete sie an. Nach jeder Zigarette nahm sie ein Eukalyptusbonbon, steckte es sich in den Mund und sprühte sich mit Parfum ein. Sie riecht wie ein nuttiger Koala-Bär dachte Leonie und grinste in sich hinein.

Die Tür öffnete sich schon, kaum, dass sie durch das große Tor getreten waren. Ein Mann, gut gekleidet und wohl an die 40 Jahre alt, stand in der Tür. Sein Lächeln verstrahlte Wärme. 

„Hallo Herr Seligmann“ strahlte Frau Wolters und strich sich mit der Hand über das Kleid, bevor sie ihm diese zur Begrüßung reichte. „Das ist Leonie Hartmann. Und Leonie, das ist Robert Seligmann. Er wird sich von nun an um dich kümmern“. 

Nun schenkte er auch ihr ein Lächeln, doch in diesem Moment kam es Leonie so vor, als ob mehr als nur Freundlichkeit in diesem Lächeln lag. 

 

Das „Haus zur Sonne“ lag abgeschieden auf einer kleinen Anhöhe, die einen fantastischen Blick über über den Ostteil der Stadt freigab. Es war unterteilt in drei Ebenen. Im Erdgeschoss war ein großer Aufenthaltsraum, der Speisesaal, die Küche und das kleine Büro von Herrn Seligmann, an welches seine privaten Räume grenzten. Im ersten Stock waren die Zimmer der jüngeren Kinder, im zweiten Stock unter dem Dach die Räume für die älteren. Robert Seligmann führte Leonie kurz durch das Haus und zeigte ihr schließlich ihr Zimmer, in dem zwei Schränke, zwei Schreibtische und zwei Betten standen. Auf dem einen Bett lag schon ein Mädchen etwa in ihrem Alter. 

„Magdalena, das ist Leonie. Sie ist ab heute deine Zimmergenossin.“

Das Mädchen reagierte nicht und so ging Herr Seligmann zu ihr und entfernte den Grund ihrer nicht vorhandenen Reaktion aus ihren Ohren. 

„Musik um diese Uhrzeit ist verboten, der hier ist konfisziert“. 

Magdalena sprang auf, doch bevor ihr Griff in Richtung des MP-3-Players gehen konnte, fiel ihr Blick auf Leonie, die verschüchtert in der Tür stand. Die Wut wich aus ihren Augen, sie ging zu ihr und nahm sie in den Arm. „Ich bin Magda, schön, dass du da bist“. Leonie spürte die Wärme ihres Körpers und allein die Geste der Umarmung gab ihr das erste Mal seit Langem wieder ein Gefühl von Geborgenheit. 

 

Langsam lebte sich Leonie ein. Magdalena war ihr dabei Hilfe und Stütze zugleich. Sie klärte sie auf, wie die Dinge im Haus liefen, was sie tun konnte und was besser nicht. „Glaub mir, du willst nicht, dass der Seligmann dich bestraft.“ 

„Wieso? Wie schlimm kann es sein?“ fragte Leonie unbedarft. 

„Du willst es nicht, glaub mir“ gab Magdalena kopfschüttelnd zurück. 

 

Robert Seligmann führte seine Aufsicht streng, er schien allgegenwärtig. Stets trug er ein kleines Notizbuch mit sich, in dem er Verfehlungen notierte. Jeden neuen Strich, den er neben einen Namen setzte, kommentierte er mit „Das war deine Nummer“ und fügte die Zahl der notierten Verfehlungen an. Leonie sollte in den ersten Monaten ohne Vermerk durch den Alltag kommen, doch ihre schulischen Leistungen litten unter ihrer Trauer. Am Abend des ersten Zwischenzeugnisses in ihrer Zeit im „Haus zur Sonne“ kam Robert Seligmann in ihr Zimmer, setzte sich auf ihr Bett und wies Magdalena an, das Zimmer zu verlassen. Magdas Blick fiel auf Leonie und sie flüsterte ihr im Hinausgehen zu, dass sie es einfach geschehen lassen solle. Leonie verstand nicht, doch bevor sie nachdenken konnte, hörte sie die Stimme des Heimleiters. 

„Leonie, was soll nur aus dir werden?“ fragte er. 

Sie zuckte mit den Schultern, starr und eingeschüchtert.

„Mathe: 5. Englisch: 5. Deutsch: 4. Physik: 6“ begann er ihr Zeugnis vorzulesen. 

Kurz ließ er das Schweigen im Raum wirken, bevor er fortfuhr. 

„Du weißt, wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Und wer keine Leistung bringt, der ist eine Last für die Gesellschaft. Willst du eine Last sein, Leonie? Willst du ein Nichts sein? Denn momentan bist du das: ein Nichts!“ 

Leonie schluchzte und begann zu weinen. 

„Ich bin kein Nichts“ antwortete sie trotzig. 

„Doch, das bist du!“ Seligmann schrie nun fast. „Du bist nichts als eine Last für uns. Alle hier kümmern sich um dich, sorgen für dich. Und was machst du? Du bringst keine Leistung und keinen Ertrag“.

Leonie antwortete nichts mehr, sondern weinte nun ungehemmt. 

„Tränen helfen da auch nicht weiter“ kommentierte Seligmann ungerührt. Doch seine Stimme hatte sich verändert. „Komm, setz dich zu mir“ sagte er nun ruhiger und klopfte neben sich auf die Bettdecke. Sie ging langsam zum Bett und setzte sich neben ihn. Seine Hand legte sich auf ihren Rücken und begann, sie zu streicheln. Ihr Körper versteifte sich, trotz der eigentlich sanften Berührung.

„Willst du etwas sein, Leonie?“ fragte er sie.

Sie nickte. 

„Ich helfe dir dabei, jemand zu werden“.

Und Leonie ließ es geschehen, so wie Magda es ihr gesagt hatte. Es tat weh. Und es tat bei jedem weiteren Mal mehr weh, mit dem er ihr gänzlich ihre Jugend nahm. 

 

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„Das ist….habt ihr das nicht angezeigt?“ 

Fionas Stimme durchschneidet die Stille, die nun am Tisch herrscht. Massimo sitzt regungslos da, merkt nun aber, dass er die Zigarette während der Erzählung einfach hat abbrennen lassen. Umgehend zündet er sich eine neue an. 

Leonie zuckt mit den Schultern. „Wir waren alle in der gleichen Situation, hatten niemanden mehr. Magdalenas Eltern waren ebenfalls verstorben, ihre Schwester war älter und studierte in den USA, konnte sich also nicht um sie kümmern. Wir hatten nur dieses Haus und ihn. Irgendwann sagte ich es Frau Wolters, doch sie tat es als „pubertäres Rebellieren“ ab. Sie versprach, mit Herrn Seligmann zu sprechen, doch ich glaube, er hat sie dann einfach flachgelegt und damit war sie zufrieden.“

„Aber jetzt könnt ihr ihn doch anzeigen, so lange ist das doch noch nicht her. Ihr wart minderjährig und Schutzbefohlene“ hakt Fiona nach. 

„Nein, können wir nicht“. 

Leonie atmet aus und erzählt weiter. 

 

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Mit 18 zogen Leonie und Magdalena zusammen in eine kleine Wohngemeinschaft, hielten sich mit kleinen Jobs und dem mit der erreichten Volljährigkeit nun verfügbaren Erbe von Leonies Eltern über Wasser. Doch das Erlebte im „Haus zur Sonne“ wollte beide nicht loslassen, lastete wie ein schwarzer Schatten über ihrem Alltag. Leonie war nicht fähig, sich auf eine Beziehung geschweige denn auf körperliche Nähe einzulassen. Bei Magdalena schlug es genau ins Gegenteil um. Sie wechselte Männerbekanntschaften wie ihre Unterwäsche. Leonie kam nicht mehr mit, wer gerade aktuell, wieder aktuell oder abgelegt war. Sie kümmerte sich aber auch wenig darum, denn nach dem bestandenen Abitur begann sie eine Ausbildung bei der Polizei. Dabei traf Alexander Voss wieder, den Polizisten, der ihr Jahre zuvor die Nachricht überbracht hatte, dass ihre Eltern verstorben waren. Sie begann das erste Mal etwas für einen Mann zu empfinden, auch wenn es lange dauerte, bis sie es sich einzugestehen konnte. Magdalena schmiss derweil etliche Ausbildungen, bis sie durch einen ihrer Liebhaber in die rechte Szene abdriftete. Doch nicht das führte zum Bruch, sondern das, was am letzten Abend ihrer Freundschaft geschehen sollte. 

 

Sie hatten sich an diesem Sommertag in den Park gesetzt, etwas gegessen und einfach nur den Tag genossen. Seit Langem lief es mal wieder gut zwischen Leonie und Magdalena, was hauptsächlich an Magda lag, die plötzlich ruhiger und fokussierter wirkte. Leonies Beziehung zu Alexander Voss war in letzter Zeit eine Bürde für die Verbindung zwischen ihnen geworden. Doch war es auch seiner Liebe zu Leonie zu verdanken, dass er ihre beste Freundin bei einer der vielen Gelegenheiten, in der er Magdalena dienstlich begegnete, nicht mit auf die Wache nahm, sondern mit einem „los, verzieh dich“ flüchten ließ. 

„Ich habe mich verliebt“ gestand Magdalena Leonie an diesem Tag. 

„Wieder einmal“ lachte Leonie, doch anhand Magdas ernstem Blick wurde ihr schnell klar, dass es dieses Mal anders war. 

„Weißt du, seit dem Haus zur Sonne hatte ich immer das Gefühl, dass ich Sex brauche, um Macht ausüben zu können. Ich bestimme, wen ich ficke. Und habe es im Gegensatz zu früher selbst in der Hand, wann und wo ich gefickt werde. Doch die Zeiten sind vorbei, mit Lando ist es anders. Gut, es hat angefangen wie mit so vielen. Ich habe ihn getroffen, er hat mir gefallen, ich wollte ihn und hab ihn mir genommen. Doch schon beim ersten Mal habe ich gespürt, dass es anders ist, dass es intensiver ist. Die meisten Kerle fanden es einfach geil, dass ich mir genommen habe, was ich wollte, dass ich sie gefickt habe. Doch mit ihm war es anders, er hat mir widerstanden, die Rollen haben während des Sex immer wieder gewechselt. Und bei jedem anderen wäre ich einfach gegangen, doch nicht bei ihm. Er wollte mich, zu seinen Bedingungen. Und er hat sie immer wieder eingefordert. Und er war der Erste, bei dem ich mich fügen wollte.“

Magda sah Leonies fragenden Blick.

„Was?“

Lando?“

„Das ist nicht sein richtiger Name. Lando ist altgermanisch für „Kämpfer der Heimat“.“

Leonie nickte mit hochgezogenen Augenbrauen und Magda merkte, dass die Stimmung wieder umzuschlagen drohte. 

„Weißt du noch“ wechselte sie deshalb das Thema „damals, auf der Anhöhe, unter unserem Baum? Wir waren 16 oder so, in unserer eigenen Welt. Oben im Baum war ein Nest, wir sind darauf geklettert und haben die Eier angeschaut. Eines war viel größer und von einer anderen Farbe. Ein Kuckucksei. Du hast mich gefragt, ob eine Kuckucksmutter ihr Kind lieben würde, obwohl sie es in fremde Nester legt und das Kind niemals sehen wird. Ich habe lange darüber nachgedacht und irgendwann nachts habe ich die Antwort gefunden.“

Leonie nickte.

„Du hast gesagt, dass Liebe unendlich ist, man sich in der Liebe verlieren kann. Dass Liebe wie der Wind ist, unsichtbar und trotzdem da, mal ganz still und dann wieder stürmisch, fast schon zerstörerisch. Doch man kann sie immer spüren, so ist die Liebe. Und das weiß auch das Kleine in dem Kuckucksei. Seine Mutter hat es weggegeben, doch sie hat ihm alles mitgegeben und so ein Leben ermöglicht. Und das ist auch ein Ausdruck von Liebe. Keiner Liebe die sichtbar ist, aber als unsichtbares Band existiert. So wie wir auch wissen, dass unsere Eltern uns lieben, selbst wenn sie nun nicht mehr da sein können. Doch auch sie haben uns unser Nest gegeben, in dem wir aufwachsen konnten.“

Magda sah eine Weile einfach nur in den Himmel.

„Ich glaube, so ist es bei uns auch. Wir haben so viel durchgemacht, so viel miteinander erlebt. Sind sprichwörtliche durch dick und dünn gegangen und nicht nur das Leben hat uns mehr als nur einmal gefickt….“

Leonie schnaubte und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. 

„…aber das ist alles egal, wir sind eins. Und nichts wird uns entzweien. Selbst wenn wir uns in unterschiedliche Richtungen entwickeln wird zwischen uns wird immer diese Art der Kuckucksliebe bestehen. Wenn wir sie manchmal auch nicht sehen können, so wird unsere Verbundenheit und Liebe zueinander immer da sein.“

Die liebevollen Worte ihrer besten Freundin rührten Leonie zu Tränen. Magdalena rutschte zu ihr rüber und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, unschuldig, fast kindlich. Dann wischte sie ihr die Tränen aus den Augen. 

„Es ist erstaunlich, dass wir halbwegs normal geworden sind“ grinste Leonie.

„Sprich nur für dich, meine Liebe“ lachte Magdalena. „Ich habe noch eine Überraschung für dich“ strahlte sie sie an. „Dafür musst du aber heute Abend um Acht zum Hafen kommen.“

In diesem Moment legte sich eine Wolke über die Sonne. Es schien, als ob die Schatten der Vergangenheit über die beiden hereinbrechen würden.

 

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„Und was ist dann passiert?“

Massimo hat sich inzwischen auf die Eckbank gesetzt. Vom Stuhl war er immer wieder heruntergerutscht, die Bank bietet ihm mehr Halt. 

„Dann ist das passiert, was nie hätte passieren dürfen. In doppelter, fast dreifacher Hinsicht“ flüstert Leonie, steht auf, geht zur Theke und holt den teuren Grappa aus Massimos Geheimfach. Unter anderen Umständen hätte er nicht nur protestiert, er hätte sie umgehend gefeuert. Doch nun sitzt er einfach nur da und formt mit der rechten Hand das Zeichen für drei Gläser. 

Leonie setzt sich wieder, schenkt ein, sie prosten sich stumm zu und nachdem die Wärme Leonies Bauch erreicht hat, redet sie weiter. 

 

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Sie hatte eigentlich eine Verabredung mit Alexander. Sie sagte ihm mit dem Hinweis ab, dass sie sich mit Magda auf den Planken am Hafen treffen wollte und er sie dort abholen könnte, wenn es nicht allzu spät werden würde. Er willigte zähneknirschend ein. Magda hatte ihr eine Wegbeschreibung gegeben, der sie folgte. So betrat sie zum vereinbarten Zeitpunkt eine alte Lagerhalle. Es war dunkel, überall lag der Unrat vergangener Zeiten. 

„Hallo?“ rief Leonie fragend in das Dunkel. Im hinteren Teil der Halle erstrahlte eine Glühbirne.

„Hallo Süße“ rief Magdalena. „Komm her zu uns.“

Leonie lief zögernd auf das Licht zu. Vor Magdalena erkannte sie einen Stuhl, auf dem in gekrümmter Haltung eine Person saß. Je näher sie kam, umso deutlicher wurde, wer dort saß. Und dass sie mit jedem Schritt einen Schritt zurück in ihre eigene Vergangenheit wagte. 

„Was….was soll das? Was macht er hier?“

Ihre Stimme schien die reglose Person aus ihrem unruhigen Schlaf zu wecken. Langsam reckte sich ihr der Kopf entgegen, über der rechten Augenbraue klaffte eine große Wunde. Die Augen traten Robert Seligmann aus dem Kopf, als er Leonie erkannte. Er versuchte zu sprechen, doch der Knebel in seinem Mund ließ nur undeutliche Grunzlaute zu. 

„Ruhig, du Schwein“ schrie ihn Magdalena an und trat ihm in die Seite. 

„Was soll das?“ fragte Leonie erneut. 

Magdalena drehte sich um und wies auf den Tisch hinter sich, auf dem Messer, Äxte, Lötkolben und Schusswaffen drapiert waren. „Das – das wird unsere Therapie, meine Liebe. Am heutigen Abend machen wir uns frei von unserer Vergangenheit. Und von unserem Peiniger“. Sie deutete wieder auf Seligmann, der nicht minder fassungslos ihren Ausführungen gefolgt war und nun wieder anfing, gequälte Laute der Panik von sich zu geben. 

„Magda, das geht nicht…“ 

Sie fuhr zu Leonie herum, ihr Blick war durchdringend.

„Was geht nicht? Dass wir Vergeltung üben? Dass wir das Schwein hier schächten für all die Male, die er uns gefickt hat, für all die Zeit, in der er uns eingeredet hat, wir seien ein Niemand und nichts wert? Und wie das geht, Leonie, und wie das geht! Wir werden ihm zeigen, wer wir sind! Wir sind seine Richter und Henker, sein Schicksal und sein Ende!“

Leonie blickte auf den zuckenden und gefesselten Körper von Robert Seligmann. Er war unmerklich gealtert, aber immer noch war er deutlich der Mann, der sie vor Jahren im Haus zur Sonne begrüßt hatte. Immer noch war er der Mann, der ihr die Jungfräulichkeit genommen, ja gar geraubt, hatte und ihr lange die Lust auf eine wirkliche sexuelle Beziehung genommen hatte. Sie empfand nichts als Hass für ihn – und dennoch konnte sie nicht sehen, dass diese „Überraschung“, wie Magdalena es nannte, auch nur irgendetwas daran ändern würde. 

„Wie hast du ihn hierhergeschafft?“ fragte Leonie. Zeit schinden, sie musste Zeit schinden. Vielleicht fand sie eine Möglichkeit, das alles hier zu beenden. Seligmann würde vieles tun, aber bestimmt keine Anzeige erstatten. 

Lando hat ihn gestern Nacht direkt aus seinem Zimmer hierhergebracht. Ich habe ihn darum gebeten, er hat nicht wirklich Fragen gestellt. Ein Pädoschwein weniger, das hat ihm als Info gereicht. Und er hat mir sein Arsenal hier zur Verfügung gestellt. Nett, oder?“

Leonie schüttelte nur verzweifelt den Kopf. 

„Weißt du, was er gerade getan hat, als Lando durchs Fenster seines Büros gestiegen ist? Er hat sich einen runtergeholt, vor dem PC. Auf dem kleine Mädchen von irgendwelchen alten Säcken gefickt worden sind. Glaubst du, es hat aufgehört? Glaubst du, wir waren die einzigen, die von ihm „bestraft und erzogen“ worden sind? Willst du, dass noch mehr das erleben müssen, was wir erleben mussten? Willst du das?“ 

Magdalenas Stimme war immer lauter geworden, die letzten Fragen hatte sie Leonie unter Tränen ins Gesicht geschrien. 

„Magda, ich weiß, wie schlimm das alles ist. Was er getan hat und wahrscheinlich immer noch tut. Aber überstürz hier bitte nichts, lass uns reden …“

„Reden, ich hab genug darüber geredet! Das hat mir nie geholfen“ schreit Magdalena sie an. „Für dich hat es ohne reden funktioniert, du hast es einfach in dir vergraben. Du kommst irgendwie damit zurecht, kannst deine Dämonen kontrollieren, ja, vielleicht glaubst du sogar, dass du es verdient hast. Und dass deine Arbeit als Polizistin verhindert, dass es anderen so geht wie uns. Dass du damit die Welt besser machst. Aber nicht meine Welt, ich trage es mit mir herum, Tag für Tag. Ich versuche meine inneren Dämonen nicht mein Leben zerstören zu lassen, das gelingt mal mehr, mal weniger. Aber diesen Dämon hier“ sie tritt hinter Seligmann und zieht seinen Kopf an den Haaren nach hinten „diesen Dämon hier können wir ein für alle Mal besiegen und zerstören. So wie er uns zerstört hat.“

Langsam ließ sie die Klinge eines Messers an seiner Kehle entlanggleiten, bis sie es ruckartig nach unten zog und damit die Knöpfe seines Hemdes aufschnitt. Dass sie dabei auch die Haut seiner Brust in Mitleidenschaft zog nahm sie wohl gerne in Kauf. Seligmann wand sich unter Schmerzen, Tränen überströmten sein Gesicht. 

„Wenn wir das tun, dann sind wir schwach, Magda. Dann haben die Dämonen endgültig gesiegt“ schrie Leonie, um ihr irgendwie Einhalt zu gebieten. 

Magda ließ Seligmanns Kopf nach vorne fallen, betrachtete das Repertoire an Utensilien auf dem Tisch und wählte eine Zange. 

„Leonie, Leonie, Leonie. Wir müssen unser Leben in die Hand nehmen. Ein wertvoller Teil der Gesellschaft sein. Das hat uns der gute Herr Seligmann doch gelehrt. Und wie könnten wir der Gesellschaft einen größeren Dienst erweisen, als ihn hier zu beseitigen, diesen Abschaum?“ 

Sie spuckte ihm ins Gesicht, nahm die Zange und stellte sich breitbeinig vor ihn hin. Mit einer schnellen Bewegung erfasste sie seine rechte Brustwarze und begann langsam, die Zange im Uhrzeigersinn zu drehen. 

Leonie nutzte die Chance und holte ihr Handy hervor, so lange Magdalena ihr den Rücken zudrehte. Komm schnell. Mit Waffe. L.  schrieb sie Alexander. 

Als sie das Handy wieder weggesteckt hatte drehte sich Magda gerade zu ihr um und betrachtete die eingeklemmte Brustwarze vor sich. 

„Der menschliche Körper ist schon seltsam. So zerbrechlich“. Sie wandte sich wieder zu Seligmann um, ging vor ihm in die Knie und begann langsam seinen Gürtel zu lösen. Seine Stirn war schweißnass. Zitternd und machtlos verfolgte er ihr Tun, während das Blut von seiner Brust tropfte. 

„Na, das gefällt dir, mhh?“ fragte Magdalena mit Kleinmädchenstimme. „Ich war ganz unartig, Herr Seligmann. Sie müssen mich bestrafen.“

Leonie schlich hinter ihr an den Tisch mit den Utensilien, ergriff eine der Waffen, prüfte, ob das Magazin voll war und trat wieder hinter Magdalena. 

„Schluss jetzt damit!“ sagte sie mit ihrer festmöglichsten Stimme.

Magdalena hörte, wie Leonie den Hahn spannte und stöhnte theatralisch. 

„Echt jetzt? Hier sitzt unser Peiniger und du richtest die Waffe auf mich? Deine Freundin? Dreh nicht durch, Hartmann!“

Leonie schluckte und versuchte dennoch, mit kontrollierter Stimme weiterzureden.

„Das tut mir mindestens genauso weh wie dir“. 

Magdalena lachte und riss Seligmann die Hose herunter.

„Genau das hat der hier auch immer gesagt“.

Sie sahen ihn beide an und erkannten deutlich, dass der Mann, der gefesselt, geschunden und blutend in Unterwäsche vor ihnen auf dem Stuhl saß, tatsächlich eine Erektion hatte. 

„Sie ihn dir an, Leonie. Sogar das hier macht ihn geil“. 

Leonie spürte, wie die Wut in Magdalena einen neuen Höhepunkt erreichte. Magda erhob sich, holte ein Fleischermesser vom Tisch und ging wieder zu Seligmann zurück. Immer noch von Leonie mit der Waffe ins Visier genommen. Kurz blickte Magdalena ihre Freundin an – und dann ging alles ganz schnell. Sie riss Seligmann die Unterhose herunter, nahm seine Hoden und trennte sie mit einem Schnitt von seinem Körper. Seligmann krümmte sich und brüllte erstickt in seinen Knebel hinein, bis er kraftlos auf dem Stuhl zusammensank. 

Magdalena drehte sich um, die blutigen Hoden abwiegend in der Hand und grinste die paralysierte Leonie an. 

„Nun hab ich endlich mal was selber in die Hand genommen, mhh?“. Ein leises Lachen folgte, das immer lauter wurde. Bis sie hinter Leonie blickte und ihr Lachen verstummte. 

„Was macht der hier?“ schrie sie Leonie an, die sich ihrerseits nun umdrehte und sah, wie Alexander mit gezogener Waffe auf die beiden zukam. 

„Oh, Leonie. Ich habe mich so in dir getäuscht.“

„Magdalena Straubitz, Sie sind hiermit verhaftet. Lassen Sie das Messer weg und legen Sie sich mit ausgestreckten Händen auf den Boden“ befahl Alexander. 

„Das glaube ich nicht, Alexander“ sagte Magdalena neigte den Kopf schelmisch grinsend zur Seite. 

 

Leonies Herz drohte zu platzen. Das Herz eines Kolibris schlägt im Flug 20mal in der Sekunde dachte Leonie wieder. Irgendwie musste sich dieser Fakt in ihr Hirn eingebrannt haben und es rief ihn in jedem dieser Momente ab, wenn es vom Stress überfordert zu werden drohte. 

 

Nun schien jede Sekunde aus jeweils 20 Bildern zu bestehen. Magdalena, wie sie Messer und Hoden fallen ließ und hinter sich griff, eine Waffe aus dem Hosenbund zog und auf Alexander richtete. Ein Schuss, der fiel, der Luftzug, den Leonie spürte, die Kugel, die sie meinte, an sich vorbeifliegen zu sehen, ein weiterer Schuss, die Kugel, wie sie Alexander oberhalb des rechten Auges in den Kopf eindrang, Magdalena, wie sie überrascht auf ihre Brust hinuntersah, aus der im Rhythmus ihres eigenen Herzschlags unablässig Blut heraustrat. Die Waffe, die in Leonies Hand ruhte, in Zielrichtung auf ihre beste Freundin. Die langsam zu Boden sank, während Alexander einfach nur zu Boden stürzte. Und dieses Geräusch, das nach den Schüssen die Halle erfüllte. Das nicht enden wollte, das in ihren Ohren schmerzte. Das erst endete, als Leonie realisierte, dass es der Schrei aus ihrem eigenen Mund war. Der aus ihrem tiefsten Inneren nach außen drang. Von dort, wo ihre eigenen Dämonen saßen, die sich langsam aber sicher durch ihre Seele fraßen und alles in Dunkelheit tauchten. 

 

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„Scheiße. Was hast du alles mitgemacht, Mädchen?“ 

Im Aschenbecher vor Massimo türmt sich ein Berg gerauchter Zigaretten. 

„Und…Alexander ist tot?“ stellt Fiona zögerlich die Frage. 

Leonie nickt unter Tränen. „Alexander war sofort tot. Die Kugel ist einmal direkt durch den Kopf und hinten wieder ausgetreten. Keine Überlebenschance.“

„Und…die anderen?“

„Magdalena ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Ich hatte ihre Aorta getroffen. Bis heute weiß ich nicht, wie. Es war wohl nur ein Reflex, ich habe nicht gezielt, kann mich nicht erinnern, abgedrückt zu haben. Nur Seligmann hatte es überlebt, aber nicht lange. Sie haben ihn in einer OP wieder zusammengeflickt, doch noch bevor er von der Polizei vernommen werden konnte, hatte er sich mit einem Laken seines Krankenhausbettes erhängt. Meine Dienststelle hat es unter Notwehr eingeordnet und keine Ermittlung gegen mich in die Wege geleitet. Ich habe dennoch meine Ausbildung geschmissen, habe die Stadt verlassen und bin hierhergekommen. Weg von allem, weg von meinen Erinnerungen, ein Neuanfang. Ich hatte ja niemanden, den ich zurücklassen musste.“

Kurz herrscht wieder Stille am Tisch, Fiona nimmt Leonies Hand.

„Und….wie kommt nun das Bild auf dieses Handy? Wer weiß noch davon?“

Leonie zuckt mit den Schultern. 

„Von mir niemand. Und auch sonst kann das niemand wissen. Alle, die davon wussten, sind tot. Magdalena, Alexander, Seligmann….“

Massimo richtet sich auf, aber bevor er etwas sagen kann, erfüllt wieder ein Klingeln den Raum. Doch dieses Mal ist es nicht das Telefon der Pizzeria, es ist das Handy auf dem Tisch. Alle drei blicken sich an, bis Leonie schließlich auf „Annehmen“ drückt und den Lautsprecher aktiviert. 

„Hallo?“ fragt sie zögerlich.

„Hallo Süße, wie geht es dir? Lange her, oder?“

Massimo und Fiona blicken Leonie fragend an. Doch sie kann die Stimme nicht deuten.

„Wer bist du? Und was willst du von mir?“ fragt sie stattdessen. 

„Es ist traurig, dass du mich nicht mehr zu kennen scheinst. Dann habe ich mich wohl schwer in dir getäuscht. Nicht einmal zum Geburtstag willst du mir gratulieren! Was ist nur aus unserem unsichtbaren Band, unserer Kuckucksliebe geworden? Naja, hätte mir schon klar sein sollen, als du mich damals erschossen hast.“

„Das kann nicht sein, du bist tot“ schreit Leonie ins Telefon. Tränen nehmen ihr den Blick, die sie trotzig wegwischt. 

„Süße, schau mal durchs Fenster“.

Ruckartig schnellen drei Köpfe in Richtung des Fensters, das auf die Straße hinausgeht. Und Leonie erkennt als erste die Frau, die mit einem Handy am Ohr auf der anderen Straßenseite steht. Vorbildlich mit Mundschutz und der freien Hand langsam in Richtung der Pizzeria winkend. Ein Lastwagen fährt zwischen ihr und dem Fenster vorbei. Als er die Sicht wieder auf die andere Straßenseite freigibt, ist diese verwaist. 

 

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„War sie das? War das Magdalena?“ findet Fiona als erste ihre Stimme wieder und blickt Leonie ungläubig an, die ihrerseits komplett starr auf ihrem Stuhl sitzt und immer noch auf die Stelle starrt, an der eben noch die Frau stand. 

„Ich, ich weiß es nicht. Es kann sein, kann aber auch nicht sein“. 

„Es kann eigentlich gar nicht sein“ fällt ihr Massimo ins Wort. „Sie ist schließlich tot. Und wir sind hier ja nicht bei Game of Thrones. Was tot ist kann niemals sterben oder so.“

Leonie nickt mechanisch mit dem Kopf. Was war hier nur los?

„Ich muss nach Hause“ sagt Leonie unumwunden, Massimo nickt nur und schickt Fiona gleich mit in den Feierabend. 

„Wirst du Maximilian sagen, was los ist?“ fragt Fiona auf dem Weg zur U-Bahn. Sie hat sich bei Leonie untergehakt, was jegliche momentane Abstandsregel eigentlich untersagt und Leonie zudem die Möglichkeit nimmt, ihre Umgebung auf verdächtige Personen abzusuchen. Zumal viele Menschen mit Mundschutz unterwegs sind und alleine dadurch schon verdächtig wirken. 

„Ich weiß es nicht“ gesteht Leonie und fügt gleich noch hinzu: „Wahrscheinlich nicht. Es geht um mein altes Leben, mein altes Ich. Um eine Leonie Hartmann, die ich selbst zu vergessen suche. Ich bin hierhergekommen, um mir ein neues Leben aufzubauen. Du, Massimo, Maximilian – ihr alle seid Teil meines neuen Lebens und jetzt wissen schon 2/3 von euch über meine Vergangenheit Bescheid. Das macht mich so…nackt, verwundbar. Und vor Maximilian will ich das nicht auch noch sein. Auch weil ich nicht weiß, wie er damit umgehen würde.“

Unbewusst zieht Leonie ihre dünne Jacke enger um ihren Körper. Fiona nickt nur stumm, kann sich einen Kommentar aber doch nicht verkneifen. 

„Naja, solange du ansonsten noch nackt vor Maximilian sein willst, ist ja alles in Ordnung“. 

Erst sieht Leonie sie schräg von der Seite an, kann sich ein prustendes Lachen dann aber doch nicht verkneifen. Und so gehen sie, gegenseitig untergehakt, lachend durch den warmen Nachmittag. So wie es zwei Freundinnen mit Mitte 20 gerne tun. So, als ob alles normal wäre und sie nicht eben mit einer Toten telefoniert hätten. 

 

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Als Leonie zu Hause ankommt findet sie einen Zettel auf der Kommode im Flur. 

Danke für den tollen Morgen. Würde den Tag gerne so enden lassen, wie er begonnen hat  Kuss, Maxi.

Nur zu gerne würde Leonie seinem Wunsch entsprechen. Doch sie weiß, sie hat andere Dinge zu tun. Maximilian und sie hatten oft über das Zusammenziehen gesprochen, aber es bisher bei Worten belassen. Leonie war trotz der Urgewalt, mit der Maximilian in ihr Leben eingedrungen war, stets auf langsame Schritte bedacht gewesen. Sowohl seinetwegen als auch ihretwegen. Er sollte nicht merken, wie tief sich die Narben der Vergangenheit in ihre Seele gruben. Sie hatte sich eigentlich geschworen, nie wieder jemanden so nahe an sich heranzulassen, dass neue Narben entstehen konnten. So wohnt er in seiner Vierer-WG knapp 20 Minuten entfernt, während sie ihre 60 Quadratmeter weiter ihr alleiniges zu Hause nennen kann, wo sie die meiste Zeit miteinander verbringen. Kurz legt sie sich in das gemachte Bett, auf die Seite, auf der Maximilian heute Morgen noch gelegen hatte. Sie drückt ihr Gesicht auf sein Kissen und saugt seinen Geruch ein. Sommer. Liebe. Vertrautheit. Dann zwingt sie sich, wieder aufzustehen und nicht ihren Träumen nachzuhängen. 

Am Schreibtisch öffnet sie die mittige Schublade und zieht unter Notizzetteln, Heftklammern und alten Rechnungen ihr Telefonbuch hervor. Mögen sich noch so viele Leute über sie lustig machen, sie ist trotz ihrer jungen Jahre fest davon überzeugt, dass Dinge, die man handschriftlich notiert hatte, nicht so schnell verloren gehen wie die Sachen, die man digital speichert und dann mit einem Knopfdruck für immer vernichtet. 

Oliver Dietrich. Lange hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Er war in ihrem alten Leben der beste Ermittler im Bereich der Internetkriminalität gewesen und zudem der beste Freund von Alexander. Sie atmet einmal durch, wählt die Nummer und wartet gespannt bis das Freizeichen endet. 

„Dietrich“ ertönt es schroff vom anderen Ende der Verbindung. 

„Ja, Diddi, hier ist Leonie“ meldet sich die vermeintlich vertraute Stimme aus dem Gestern. 

„Leonie Hartmann. Alexanders Freundin“ fügt sie an, als sie keine Antwort erhält.

„Ich weiß, wer du bist. Was willst du?“ 

Leonie schließt kurz die Augen. Es ist die Reaktion, die sie erwartet, aber nicht erhofft hat. Auf dem Revier hatten damals alle ihr die Schuld dafür gegeben, dass Alexander gestorben war. Sie hatte sich in Gefahr begeben, ihn mit hineingezogen und konnte letztlich nicht verhindern, dass er starb. 

„Diddi, es tut mir…“

„Für dich nur Oliver bitte“ fällt er ihr ins Wort.

Leonie schluckt und überlegt, einfach aufzulegen. Aber sie braucht ihn. 

„Oliver, es ist etwas passiert. Etwas das mit damals zu tun hat, mit Alexanders Tod.“

„Ich höre“.

„Ich habe ein Handy zugespielt bekommen. Es ist komplett clean, nichts deutet auf seine Herkunft her, nur ein Bild ist darauf. Ein Bild von Magdalena Straubitz und mir. Heute Mittag, da hat es geklingelt.“

Sie lässt eine Pause folgen.

„Ein Handy hat also geklingelt. Warte, ich suche meine Standleitung zur Boulevardpresse, das wird ein Hit.“

Sie ignoriert seine Bemerkung und fährt fort.

„Und am anderen Ende war jemand, der mich glauben lassen will, dass sie Magdalena ist. Die Frau stand auf der Straße, ich habe sie gesehen. Mit Mundschutz, aber es könnte sie sein.“

Bis auf ein heiseres Lachen lässt Oliver Dietrich keine Reaktion erkennen. 

„Kann ich zu dir kommen und du schaust dir das Handy mal an? Bitte, ich weiß, du magst mich nicht, ihr alle hasst mich, aber ich brauche Hilfe. Deine Hilfe. Bitte. Wenn du es nicht für mich tust, dann für Alexander.“

Vom anderen Ende folgt ein weiteres langes Schweigen. 

„Das sind wohl die Geister der Vergangenheit, die dich verfolgen. Leonie, du siehst das falsch. Alexanders Tod hat uns damals alle getroffen. Und niemand hat dir einen Vorwurf gemacht. Deswegen nicht. Aber dass du einfach abgehauen bist, alles hast stehen und liegen lassen, nicht einmal zu seiner Beerdigung gekommen bist – das haben dir hier alle krumm genommen.“

Leonie kommen unweigerlich die Tränen. 

„Nichts für Ungut, Leonie. Du wirst deine Gründe gehabt haben. Und selbst, wenn ich es nicht für dich tun wollen würde, dann für Alex. Und weil es verdammt nochmal verdammt interessant klingt.“

„Danke, Oliver. Ich fahre gleich los. Um 19 Uhr kann ich bei dir sein.“

„Das ist in Ordnung. Und Leonie?“

„Ja?“

„Nenn mich wieder Diddi“.

 

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Kurz vor 19 Uhr steht sie vor dem anonymen Häuserblock, in dessen 17. Stock Oliver Dietrich wohnt. Auf dem Weg hat sie mit Maximilian telefoniert, der sich enttäuscht, aber zumindest nicht allzu wütend zeigte. Sie klingelt, nimmt den Fahrstuhl und wird von Oliver in Empfang genommen. Keine Umarmung, kein Händedruck. Sie winken sich einfach nur zu. 

Seine Wohnung ist komplett abgedunkelt und erstaunlicherweise klimatisiert. 

„Meine Babys brauchen eine optimale Temperatur zwischen 22 und 25 Grad“ erklärt Oliver, während er sie durch ein Labyrinth von Serverschränken hindurch zu seinem Arbeitsplatz führt, der aus zwei übereinander angeordneten Reihen mit jeweils vier Bildschirmen besteht. 

„Zeig mal her“ fordert er Leonie auf und sie händigt im das Handy aus, das er sogleich mit einem der Rechner verbindet. Blitzschnell fliegen seine Finger über die Tastatur. 

„Und? Was…“

„Pssst….“ unterbindet er ihre Frage. 

Leonie schweigt und betrachtet Fenster, die auf verschiedenen Bildschirmen aufgehen und Zahlen- und Buchstabenkombinationen, die scheinbar willkürlich aufpoppen und wieder verschwinden. 

„Da haben wir was“ lächelt Oliver irgendwann. 

„Was?“ fragt Leonie aufgeregt.

„Es ist wirklich komplett sauber, aber die Tracking-App ist aktiviert. Und ein anderes Handy greift regelmäßig darauf zu.“

„Kannst du mir sagen, wem dieses Handy gehört oder wo es gerade ist?“ fragt Leonie.

„Das versuche ich in diesem Moment herauszufinden“ nickt Oliver. „Währenddessen nehme ich mir noch die Bilddatei vor“.  Er kratzt sich kurz am Kopf, lässt dann die Finger knacken, nur um sie sogleich wieder über die Tastatur fliegen zu lassen. „Ich mag Herausforderungen“ lächelt er. Tell me your secret I won´t tell a word cross my heart hope to die look into my eyes singt Oliver leise vor sich hin. 

„Freut mich, dass ich dir eine Freude machen kann“ gibt Leonie lakonisch von sich, während sie nach einer Sitzmöglichkeit Ausschau hält. Doch Oliver Dietrich scheint in seinem Leben nicht auf Besucher vorbereitet zu sein und seine Zeit nur mit sich und seinen acht Bildschirmen zu verbringen. Also bleibt sie einfach hinter ihm stehen. 

„Ich kann dir nun zweierlei sagen“ sagt er irgendwann.

„Und das wäre?“

„Dass dieses Bild mit deinem Handy aufgenommen wurde. Am 26. Juli 2019. Alexanders Todestag.“

Leonie nickt. Das Picknick im Park. Als Leonie noch dachte, ihre Freundschaft zu Magdalena würde ewig währen und nicht in einer schmutzigen Fabrikhalle enden.  

„Und?“

„Und das Handy ist ein Wegwerfhandy, nicht registriert und somit lässt es sich nicht einer Person zuordnen. Aber es ist gerade hier in der Stadt, keine 5 Kilometer entfernt“.

 

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Oliver hatte sie dann schließlich doch noch zur Verabschiedung in die Arme geschlossen und ihr alles Gute gewünscht. Sie solle sich melden, sobald das Rätsel gelöst sei. Sein Angebot, die alten Kollegen zu informieren, schlug sie dankend aus. Sie war genug in ihre Vergangenheit gereist. Zeit, der Reise ein Ende zu setzen. Das Handy klingelt und sie nimmt ab. Doch es ist nicht ihr Handy, das klingelt. Es ist das andere, das blinkend auf dem Beifahrersitz liegt. 

„Hey Süße, du bist mal wieder in der Stadt?“

Leonie fährt an den Straßenrand, setzt den Warnblinker und versucht ihre Stimme zu kontrollieren.

„Wer bist du?“ 

„Das weißt du!“

„Ich weiß überhaupt nichts“.

„Ach Süße, haben wir das nicht hinter uns gelassen? Wir sind keine Nichts. Wir sind Richter und Henker, Schicksal und das Ende“. 

Leonie läuft es eiskalt den Rücken hinunter. 

„Du bist tot!“

Am anderen Ende ertönt ein schrilles Lachen. 

„Das hättest du wohl gerne. Aber wie so oft hast du es nicht zu Ende gebracht. Willst du dich davon überzeugen? Ich habe übrigens noch eine Überraschung für dich!“

„Noch eine? Die letzte war ja schon super.“ Leonie wundert sich selbst über ihren Sarkasmus in dieser Situation und setzt hinterher: „Ich weiß übrigens, wo du bist. Und auf dem Weg dorthin!“

Kurz herrscht eine überraschte Stille am anderen Ende.

„Das ist ja schön, ich wollte dich gerade eh zu mir einladen. Dass wir uns hier treffen, wo du mich das letzte Mal schon getroffen hast. Wortspiel. Witzig, nicht? Dann kann unsere neue Freundschaft dort beginnen, wo sie einst endete. Bis gleich, Süße“.

Dann ist die Leitung tot. 

Leonie wirft kurz einen Blick ins Handschuhfach, schließt es beruhigt wieder und fährt weiter in Richtung des alten Hafens. 

 

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Es hat sich nichts verändert, seit sie das letzte Mal hier war. Nichts. Auf dem Weg hat sie noch einmal mit Diddi telefoniert und ihm gesagt, sie würde nun doch auf sein Angebot eingehen und er solle die alten Kollegen informieren. Er versprach, umgehend alles in die Wege zu leiten. Doch Leonie kann nicht warten. Sie muss mit Magdalena sprechen – oder der Frau, die sich als sie ausgibt. Also betritt sie die Lagerhalle, noch bevor die Polizei eintrifft. 

 

Für einen kurzen Moment fühlt es sich wie vor knapp einem Jahr an. Leonie tritt in die Dunkelheit, unterlässt es aber dieses Mal, zu rufen. Zielstrebig durchquert sie die Halle. Auf halbem Weg erhellt eine einzelne Glühlampe das Szenario. Wieder steht dort ein Stuhl, doch dieses Mal ist es ein Bürostuhl mit hoher Lehne, die ihr zugewandt ist. Der Tisch ist wieder da, mit fast allen Werkzeugen und Waffen wie beim letzten Mal. Auf dem Tisch sitzt jemand. 

„Hi“ sagt die Frau, neigt den Kopf und winkt ihr zu, wie sie es heute Mittag auf der Straße getan hat. Immer noch trägt sie den Mundschutz. Die Statur, die Frisur, die Augen….Leonie schaudert. 

„Bist du jetzt unter die Chirurgen gegangen?“ fragt Leonie und bleibt in einem Sicherheitsabstand stehen. 

Ein heiseres Lachen ertönt unter dem Mundschutz, doch die Augen lachen nicht mit. 

„Nein, aber wer weiß, wie infektiös du bist? Das letzte Mal habe ich mir schließlich auch was eingefangen“. Sie lacht wieder, das letzte Wort hat sie symbolisch mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände in Anführungszeichen gesetzt. 

„Aber du hast recht. Wir sollten uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen“. 

Die Frau steht auf, geht auf Leonie zu und nimmt den Mundschutz ab. Und Leonie gegenüber steht Magdalena. In einer etwas gealterten Ausgabe. 

„Du bist ihre Schwester!“ entfährt es Leonie.

„Und du ihre Mörderin!“. 

Der Schlag kommt schnell und Leonie geht zu Boden. 

Ihre Widersacherin beugt sich zu ihr hinunter, legt den Kopf schief und grinst. 

„Maria, angenehm“.

Leonie spuckt Blut auf den staubigen Boden und lacht.

„Maria und Magdalena. Eure Eltern hatten echt Humor“.

Maria erhebt sich wieder, holt mit dem rechten Fuß aus und tritt ihr in den Unterleib. Ein Brennen durchzieht Leonies ganzen Körper. 

„Mach dich nicht über unsere Eltern lustig, Schlampe!“

Maria geht zurück, wartet bis sie sich Leonies Aufmerksamkeit gewiss sein kann und dreht langsam den Stuhl um. 

„Ich habe dir ja noch eine Überraschung versprochen“ lächelt sie.

Unter einem übertriebenen „Tadahh!“ von Maria erkennt Leonie, wer dort auf dem Stuhl sitzt. Ein kurzer Schrei entfährt ihrer Kehle.

Maximilian sitzt gefesselt und mit weit aufgerissenen Augen vor Leonie. Sein Gesichtsausdruck brennt sich auf ihrer Netzhaut ein und sie ist sich sicher, dass er nie mehr von dort weichen wird. Unverständnis. Fragen. Angst. All das sieht sie in seinem Blick.

„Es wird alles gut, Schatz“ flüstert Leonie in seine Richtung. 

„Es wird alles gut, Schatz“ wiederholt Maria mit säuselnder Stimme. „Es tut mir leid, meine kleine Disneyprinzessin, aber das wird es nicht. Das hier ist das wahre Leben, das hat kein verficktes Hollywood Happy End.“

„Woher weißt du das alles? Woher weißt du von der Kuckucksliebe, woher von den Richtern und Henkern?“ fragt Leonie. Zeit gewinnen. Die Polizei ist auf dem Weg. 

„Ihr wart damals nicht alleine hier. Lando hat alles gesehen und gehört. So wie auch jetzt. Er war nur überrascht von dem Ende, sonst hätte er damals eingegriffen. Doch so ist es nun auch ganz schön, so kann ich selbst Rache nehmen für meine Schwester. Sollte es wieder schiefgehen, dann wird er dich dieses Mal nicht verschonen.“

„Deine Schwester war verrückt.“

„Meine Schwester war eine gequälte Seele, die nach Erlösung suchte. Und leider dich als Freundin hatte. Aber genug davon, legen wir los. Sitzt du gut? Dann schau, was ich mit deinem Liebling mache.“

Maria zieht ein Messer hervor und hält es Maximilian an den Hals. 

Vor Leonies Augen beginnt wieder, alles in Zeitlupe zu verschwimmen. Sie greift in ihren Hosenbund, so wie Magdalena es einst an Ort und Stelle getan hatte, zieht die Waffe hervor, die seit ihrem letzten Besuch in dieser Halle im Handschuhfach ihres Wagens lag, zielt und drückt ab. Maria wird durch den Treffer in ihre Brust nach hinten geschleudert und bleibt regungslos auf dem staubigen Boden liegen. Schwer atmend tritt Leonie zu ihr, nimmt das Messer aus ihrer starren Hand, geht zum Bürostuhl und beginnt, Maximilian loszuschneiden. 

„Wir müssen hier raus Schatz, schnell. Die Polizei ist auf dem Weg und irgendwo hier ist dieser Lando.“

Maximilian nimmt sie in den Arm.

„Alles wird gut“.

Leonie schmiegt sich für einen Moment an ihn, während er ihr sacht das Messer abnimmt. 

„Aber du hast recht, wir müssen schnell machen“ sagt er und sie sieht ihn an. Und sie spürt das Messer in ihren Rücken gleiten.

„Ich bin Lando“ flüstert er, während sie langsam an seinem Körper hinab zu Boden gleitet. 

In der Ferne vernimmt sie den Klang der eintreffenden Polizei. Licht erhellt die Decke über Maximilian – oder wer auch immer er nun war. In jedem Fall nicht mehr der, der er noch bis vor Sekunden für sie war. Und mit dem Blick in seine kalten Augen verliert sie den Glauben an eine bessere Welt und eine bessere Zukunft. 

 

֍

 

Vier Wochen sind seit Leonies zweitem Abend in der Lagerhalle vergangen. Sie erholt sich nur langsam von dem Erlebten. Obwohl sie noch strikte Bettruhe verordnet bekommen hatte, verbringt sie jede freie Minute bei Massimo und Fiona in der Pizzeria, wo Massimo ihr einen Ehrenplatz eingerichtet hat.

„Wie kommst du zurecht?“ fragt Fiona, als sie ihr einen Cappuccino bringt. 

„Wie soll man damit zurechtkommen?“ fragt Leonie und drückt dadurch ihre eigene Ratlosigkeit aus, während sie mit einem Löffel Zucker in die Tasse rieseln lässt. Fiona setzt sich ihr gegenüber und blickt sie an. „Willst du nicht vielleicht doch zu einer Psychologin?“

Leonie lacht verzweifelt. „Und alles wieder und wieder bereden? Zerreden? Das bringt doch nichts. Was passiert ist, ist passiert. Und es lässt sich nicht ändern! So gerne ich es ändern würde!“

Fiona pult an ihren Fingernägeln. 

„Ich habe gestern mit Maxim…Lando geredet“ sagt Leonie unvermittelt in die Stille. „Das ist das Gespräch, das ich brauchte, nicht eines mit einer Seelenklempnerin.“

Fiona hält inne und blickt sie einfach nur an.

„Diddi hat das für mich geregelt. Die Kollegen von früher sind mir nach dem, was mir widerfahren ist, nun etwas milder gestimmt und ich durfte in die JVA. Er saß da, in diesem Verhörzimmer, und ich kann dir nicht sagen, ob ich ihn wiedererkannt hätte. Er war nicht mehr der Mann, für den ich so viel empfunden habe. Er war einfach nur noch ein Körper, alles andere war tot. Und so kalt war er dann auch. Innerlich wie äußerlich.“ Ein kurzer Schauer überzieht Leonies Haut bei dem Gedanken. „Aber er hat geredet. Viel. Fast zu viel. Wie er damals in der Halle war, alles beobachtet hat. Wie er geil geworden ist, als Magda Seligmann malträtiert hat. Wie überrascht er war, als alles seinen Lauf nahm. Wie er geflüchtet ist, wie er wahnsinnig geworden ist, vor Wut, Trauer und Rachedurst. Wie er sich erst einmal Zutritt zum Krankenhaus verschafft hat, wie er die Kleidung eines Pflegers geklaut hat, in Seligmanns Zimmer gegangen ist und ihn aufgeknüpft hat. Und wie er dann alles geplant hat. Wie er Maria in Boston ausfindig gemacht hat, ihr alles erzählt hat. Wie die beiden merkten, dass sie gar nicht so verschieden waren. Wie einfach es für ihn war, sich Zutritt zu meinem Leben zu verschaffen, wie er die Nächte bei mir verbracht hat, mit mir geschlafen hat, nur um dann morgens in die Herrengasse zu gehen, wo Maria auf ihn wartete – in dem Haus, in dem Magda und sie als Kinder so oft zu Besuch waren. Im Haus ihrer Großeltern. Dort, wo er dann mit ihr geschlafen hat und sie dabei Magda nannte. Er erzählte, wie Marias eigene Identität langsam schwand und sie wirklich zu Magda wurde. Sie lasen ihre Tagebücher, Maximilian erzählte aus seiner gemeinsamen Zeit mit Magda. Und alles, wirklich alles nahm seinen Lauf. Bis zum Tag von Magdalenas Geburtstag, den sie mit meinem Tod feiern wollten. An dem sie mich beobachteten, wie ich das Handy fand. Wie ich panisch wurde. Wie es den beiden gefallen hat. Bis hin zum Messer in meinem Rücken, das irgendwie alles Lebenswichtige verfehlt hat, was es verfehlen konnte. Und doch irgendwie tief in mein Herz eindrang…“

Leonie schweigt für einen Moment und wischt sich eine Träne aus dem Auge. 

Fiona nimmt ihre Hand und drückt sie. Auch sie hat Tränen in den Augen. 

„Du bist am Leben und du darfst nie aufhören, zu leben“.

Leonie nickt. 

„Ich weiß. Leider werde ich nie vergessen können, nicht Magda, nicht Seligmann, nicht Maximilian, nicht Lando, nicht Maria. Aber vielleicht gelingt es mir, mich nicht mehr daran zu erinnern. Jeden Tag ein bisschen weniger bis es nur noch ist wie die Kuckucksliebe. Unsichtbar und doch da. Tief in mir, ein Teil von mir. Aber nicht der Teil, der mich definiert. Sondern nur ein unbedeutender Teil meiner Vergangenheit, der dort verschlossen und für das Morgen irrelevant ist.“

Leonie nippt an ihrem Cappuccino, der inzwischen kalt geworden war. Doch draußen wartete die Sonne. Und der nächste erste Tag ihres nächsten neuen Lebens. 

 

Ich kann dir Tränen in die Augen schießen lassen und Tote wiedererwecken.

Ich komme im Bruchteil einer Sekunde und bleibe ein Leben lang.

Wer bin ich?

 

DIE ERINNERUNG

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