BettyFeigling

– 2020 –    

 

Was war das für ein schöner Tag. Die Sonne strahlte und kein Wölkchen trübte den Himmel. Hier im Park war eine Menge los. Die Leute genossen die Zeit im Freien. Man sah Menschen mit Volleybällen spielen, andere tollten mit ihren Hunden herum und wieder andere lagen einfach nur im knöchelhohen Gras und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen.  

 

Ich lief bereits die fünfte Runde hier im Park und der Schweiß tropfte von meiner Stirn. Es gab für mich nichts Schöneres, als das Handy zuhause zu lassen, mir die Laufschuhe anzuziehen und einfach loszurennen. Heute hatte ich eindeutig einen guten Tag. Die Musik trieb mich voran und ich setzte einen Fuß vor den anderen. So stolz war ich schon lange nicht mehr auf mich. Ich war mir sicher, heute würde ich meinen Rekord brechen und die fünfzehn Kilometer schaffen!  

 

Ich lief gerade durch ein kurzes Waldstück des Parks, als ich auf einmal ein lautes Knacken neben mir im Gebüsch hörte. Ich war so überrascht, dass ich umknickte und hinfiel. Schmerz durchzuckte meinen linken Knöchel und ich wusste sogleich, dass ich meinen Rekord heute wohl doch nicht brechen würde. Schmerzerfüllt hielt ich meinen Fuß umklammert und sah mich um. Irgendetwas stimmte hier nicht. Zwar war das Knacken kein zweites Mal aufgetaucht, aber ich spürte, dass mich jemand beobachtete. Ich fühlte sozusagen Blicke auf mir. Gänsehaut überzog meinen Körper. Hier war ich völlig ausgeliefert, denn es war kein Mensch weit und breit zu sehen. Die anderen genossen das schöne Wetter, kaum jemand konnte sich heute aufraffen und durch den schattigen Wald laufen. Langsam richtete ich mich auf und probierte mit dem linken Fuß anzutreten. Sofort knickte er weg. Plump fiel ich zurück auf den Boden. So würde ich es niemals nach Hause schaffen! Erneut richtete ich mich auf, denn dieses komische Gefühl war noch nicht verschwunden. Konnte es sein, dass mich wirklich jemand beobachtete? Stark humpelnd sah ich mich um und entdeckte ein kleines Stück vor mir eine alte Parkbank. Mit langsamen Schritten humpelte ich darauf zu. Als ich näher kam, bemerkte ich, dass ein Gegenstand am Rande der Bank lag. Er glänzte in der Sonne, doch ich konnte nicht erkennen, worum es sich handelte. Mit jedem kleinen Schritt kam ich der rettenden Parkbank näher und da sah ich, dass es ein Handy war. Also war vielleicht doch jemand in meiner Nähe! Denn wer ließ heutzutage schon sein Handy unbeaufsichtigt liegen! Ich hatte die große Hoffnung, dass jemand nur schnell in den Wald gegangen war, um sich zu erleichtern, und mir gleich zu Hilfe kommen würde. Vor Schmerzen stöhnend ließ ich mich schwer auf das alte Holz fallen. Es knirschte laut. Wieder sah ich mich um. Kein Mensch war zu sehen. Und trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Wurde ich jetzt verrückt?   

 

Mein Knöchel war bereits stark angeschwollen und mir wurde bewusst, dass ich ohne Hilfe niemals nach Hause kommen würde. Ob Kim schon daheim war? Normalerweise arbeitete sie freitags immer länger, um am Montag mit einem leeren Schreibtisch in eine neue Woche starten zu können.  

 

Das Handy neben mir vibrierte. Ich zuckte zusammen. Schon wieder bekam ich Gänsehaut. Ich wurde dieses komische Gefühl nicht los, dass jemand jede meiner Bewegungen überwachte. Dass jemand wollte, dass ich genau auf dieser Parkbank saß. Und dass jemand dieses Handy absichtlich hier nur für mich positioniert hatte. Doch wer sollte mich denn verfolgen? Ich war Manager einer Bank und keine allzu wichtige Persönlichkeit mit Feinden! Wahrscheinlich bildete ich mir das alles nur ein und ein unschuldiges Eichhörnchen hatte mich beinahe zu Tode erschreckt. Ich lehnte mich zurück, doch sofort spürte ich den Schmerz in meinem linken Fuß. Was sollte ich jetzt tun?  

 

Eigentlich war ich nicht der Mann, der in fremden Handys herumschnüffelte. Doch das hier war ja eindeutig keine normale Situation! Ich wollte damit nur Kim anrufen, damit sie mich abholen konnte. Zitternd griff ich nach dem Telefon. In diesem Moment hörte ich hinter mir ein weiteres lautes Knacksen. Es hörte sich an, als ob eine schwere Person auf einen Ast getreten war. Panisch zuckte ich zusammen. Das Handy fiel mir aus der Hand und das Display bekam einen Sprung. Blitzschnell sah ich mich um, doch es war niemand zu sehen. Mir wurde klar, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuging. Auch mein Körper hatte das bemerkt, denn der Angstschweiß rann meinen Rücken hinunter. Ich wollte einfach nur weg.  

 

Ich ignorierte den stechenden Schmerz im Fuß und griff zitternd nach dem Handy. Kim würde mich bestimmt gleich abholen und zum Arzt bringen. Mit bebenden Fingern strich ich über den Bildschirm, um ihn zu entsperren. Er gab das bekannte „Kling“ von sich und ich erstarrte. Ein panischer Schrei entfuhr meiner Kehle und ich sprang auf, vom Schmerz spürte ich nichts. Blitzschnell überblickte ich meine Umgebung, aber es war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Kein Mensch ging den schmalen Pfad entlang und man hörte nichts außer dem Singen einzelner Vögel. Langsam senkte ich den Blick auf das Handy. Das konnte doch nicht wahr sein? Der Hintergrund zeigte ein Foto von zwei Personen, die sich umarmten. Links stand eine junge, bildhübsche Frau. Eine mir sehr bekannte, junge, bildhübsche Frau. Und rechts davon? Rechts davon stand ich. Das Blut gefror in meinen Adern und ich konnte meinen Blick nicht mehr vom Bild lösen. Das Handy konnte dieser Frau nicht gehören, denn sie war seit mehr als 20 Jahren tot. Und ich hatte Schuld daran. 

  

 

– 1991 –  

 

Die Reifen des VW Golfs quietschten in der Kurve. Die junge Frau neben mir kicherte verhalten. Wenn man sie nicht kannte, wusste man nicht, ob sie sich fürchtete oder ob sie die wilde Fahrt genoss. Doch ich kannte sie gut genug. Sie war mein Ein und Alles. Sie war meine absolute Traumfrau und wir waren gerade auf dem Weg in die Berge, um ein romantisches Wochenende gemeinsam zu genießen.  

 

Sarah und ich kannten uns jetzt seit mehr als einem Jahr. Dieser Tag im letzten November hatte mein Leben verändert. Ich war mit meinen Eltern in dieses Kaff gezogen und total unzufrieden. Welcher 17-Jährige lebte auch gerne mit seiner Familie in einem kleinen Ort, in dem es lediglich einen Supermarkt und drei Restaurants gab? Die nächste Diskothek war mehr als eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt.  

 

Völlig frustriert stand ich an der Kassa und kaufte mir eine Packung Zigaretten, als sie hinter mich trat und einfach nur ein: „Du weißt aber schon, dass das sehr schädlich für deinen schönen Körper ist?“ sagte. Ich drehte mich um und wollte dieser Person eigentlich entgegnen, dass sie mich in Ruhe lassen sollte. Aber als ich in Sarahs Augen schaute, war es um mich geschehen und ich konnte nur komisch grinsen. Verlegen bezahlte ich meine Zigaretten und ihre Limonade und wir verließen das Geschäft gemeinsam.  

 

Von diesem Tag an waren wir ein Paar und unzertrennlich. Seit diesem Moment an der Kassa hatte ich keine Zigarette mehr angerührt, denn ich wollte so perfekt für sie sein, wie Sarah für mich war. Unsere Beziehung war das Beste, was mir passieren konnte. Nur ihr jüngerer Bruder störte. Er verfolgte uns überallhin und ich wusste, dass er etwas gegen mich hatte. Zwar hatte er dies nie angesprochen, aber ich merkte, dass er mir nicht vertraute und seiner einzigen Schwester einen besseren Mann als mich wünschte.  

 

Nach einer stundenlangen Fahrt stiegen wir aus meinem Auto aus. Ich hatte am Straßenrand geparkt und den Kofferraum geöffnet. Selbstverständlich hatten wir an alles gedacht und die ganze Campingausrüstung dabei. Jeder schnallte sich seinen Rucksack um und wir marschierten Arm in Arm los. Unser Ziel war der naheliegende Gipfel des Sonnenkogels, auf dem wir unser Lager für dieses Wochenende aufschlagen wollten. Von dort oben hatten wir den perfekten Blick und konnten jeden Sonnenauf- und –untergang genießen.  

 

Lachend und blödelnd stiegen wir über Steine und Äste und erreichten nach eineinhalb Stunden den Gipfel. Dort baute Sarah das Zelt auf, während ich mich auf die Suche nach kleinen Ästen machte, damit es meiner Traumfrau nicht kalt werden würde.  

 

 

 

– 2020 – 

 

Wie erstarrt stand ich immer noch neben der Parkbank und blickte auf das Handy. Schon seit einigen Minuten hatte sich der Sperrbildschirm eingeschalten und war schwarz geworden. Doch vor meinem inneren Auge wollte das Bild nicht verschwinden. Sarah. Sarah! Das konnte doch nicht wahr sein? Wie kam ein Foto von ihr auf dieses Handy? Alle Bilder von damals gingen mir durch den Kopf. Unser Traumwochenende. Unser Marsch auf den Gipfel. Unsere gemeinsame Nacht. Und der nächste Tag, der mein ganzes Leben veränderte. Ich konnte ihren Schrei immer noch hören. Er würde mich mein restliches Leben begleiten.  

 

Völlig in Gedanken hatte ich den Schmerz in meinem Knöchel vergessen. Ich dachte erst daran, als ich das Knacksen erneut hörte. Dieses Mal war es lauter. Kam mir jemand näher? Mittlerweile hatte ich gar keine Zweifel mehr daran, dass das Handy für mich platziert worden war. Auch mein Stolpern war beabsichtigt gewesen. Da war ich mir sicher. Und jetzt kam diese Person näher. Wer konnte das sein? Marc? Er war früher mein bester Freund gewesen. Doch es hieß, dass er den ganzen Aufruhr damals nicht verkraftet hätte und nach Amerika ausgewandert wäre. Hatte er sich entschlossen, nach Österreich zurückzukehren? Niemand sonst wusste Bescheid. Oder? Erneut ein Knacksen. Panisch stolperte ich ein paar Meter nach vorne, um den langen Weg aus dem Waldstück zu sehen. Da! Ein junger Mann kam auf mich zugerannt. Er war noch ganz weit entfernt, doch ich rief laut um Hilfe. Mit den Armen auf mich aufmerksam machend schrie ich mir fast die Seele aus dem Leib. Mein Fuß gab nach und ich stürzte auf den dreckigen Waldboden. Aber ich schrie angsterfüllt weiter. Der Mann hatte mich bemerkt und kam mir schneller entgegen. Als er nur wenige Meter von mir entfernt war, hörte ich im Wald hinter mir erneut ein Knacksen. Diesem Geräusch folgte ein heiseres, tiefes Lachen. Ich kannte die Stimme, konnte sie nur nicht zuordnen. Aber damit war klar, dass ich mir das alles nicht eingebildet hatte. Ich wurde verfolgt. Jemand hatte es auf mich abgesehen. Und dieser jemand wusste Bescheid. 

 

Diese Gedanken wurde ich auch nicht los, als ich zuhause auf der Couch lag. Der junge Mann im Park hatte meine Notlage erkannt und ließ mich mit seinem Handy Kim anrufen. Zudem musste er bemerkt haben, dass ich völlig neben der Spur war und blieb bei mir, bis Kim eingetroffen war. Sie brachte mich nach Hause und nun lag ich hier mit einer Packung Tiefkühlerbsen auf meinem Knöchel. Die Schwellung war ein wenig zurückgegangen, doch der Schmerz war geblieben. Auch der Schmerz in meinem Herzen war geblieben. Dieses Handyfoto hatte mich völlig aus der Bahn geworfen. Meine Gedanken kreisten immer um dieses bestimmte Wochenende. Es hatte tatsächlich jemand die Wahrheit herausgefunden und wollte Rache. 

 

 

 

– 1991 – 

 

Gähnend öffnete ich meine Augen. Der Wecker klingelte erbarmungslos. Sarah hatte ihn eingepackt, denn sie wollte um keinen Preis den Sonnenaufgang verpassen. Gestern hatten wir lange geredet und waren erst spät in unsere Schlafsäcke gekrochen. Daher war das Aufstehen jetzt umso schwieriger. Während ich mich noch nicht einmal aufgesetzt hatte, hatte Sarah schon den Wecker abgeschaltet und war aus dem Zelt gestiegen. Kalte Luft zog herein und ich bekam Gänsehaut. Dieses Wochenende war eines der schönsten, die ich in meinem Leben gehabt hatte. Hier waren wir nur wir. Wir zwei. Ohne meinen Job als Mechaniker in einer schäbigen Werkstatt. Ohne ihren lästigen Bruder, der immer ein Auge auf sie hatte. Ohne unsere Eltern. Nur wir. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen und ich stand auf und verließ das Zelt. Langsam trat ich hinter sie und umarmte sie. Keiner sagte ein Wort. So genossen wir die Stille und bewegten uns erst wieder, als die Sonne schon hoch auf dem Horizont stand.  

 

Nachdem wir gefrühstückt und unsere Zelte zusammengepackt hatten, machten wir uns auf den Rückweg. Sarah kannte die Umgebung und wollte unbedingt einen anderen Weg gehen. Natürlich konnte ich ihr diesen Wunsch nicht abschlagen, obwohl dieser Steg schwieriger war. Mehr als einmal passierten wir ein vergilbtes Schildchen mit der Aufschrift „Achtung! Steinschlag!“. Der Weg wurde immer schmaler und wir mussten öfter klettern. Der Rucksack auf meinen Schultern fühlte sich mit jedem Schritt schwerer an, doch ich beschwerte mich nicht. Sarah sprang wie ein junges Reh von Fels zu Fels und strahlte mich an. Während ich erschöpfter wurde, schien sie mehr Kraft zu bekommen.  

 

Obwohl wir eigentlich bergab zum Ausgangspunkt gehen wollten, wurde der Weg immer steiler. Irgendwann waren die Felsen so groß, dass wir uns gegenseitig hinaufhelfen mussten. Sarah war sich sicher, dass wir uns nicht verirrt hatten. Sie meinte, in ungefähr einer Viertelstunde kämen wir zu einem wunderschönen Aussichtspunkt und danach wären wir schnell beim Wagen. Der Schweiß tropfte von meiner Stirn und meine Wasserflasche war schon längst leer. Auch Sarah wurde müder, doch ihre Laune stieg und stieg. Als sie mir auf den nächsten Felsen half, erkannte ich, warum sie genau diesen Weg eingeschlagen hatte. Wir hatten es geschafft. Vor uns lag unsere Heimat. Obwohl ich erst seit kurzem hier wohnte, bezeichnete ich diese wunderschöne Landschaft mittlerweile als Heimat. Nur wegen ihr. Sie hatte diesen Ort zu meiner Heimat gemacht. Wir legten uns hin, ließen unsere Blicke schweifen und genossen die Ruhe. Erst nach längerer Zeit beschlossen wir, uns auf den Weg nach unten zu machen. Bis wir zuhause ankommen würden, wäre es schon Abend. Unsere Eltern machten sich bestimmt bereits Sorgen.  

 

Sarah war übermütig. Sie hatte die Pause genützt und Kraft getankt und sprang von einem Stein zum anderen. Ich war ängstlich und folgte ihr, so schnell ich konnte. An manchen Stellen ging es links und rechts meterweit nach unten. Ich hatte Höhenangst und konnte ihr gar nicht zusehen. Da ich langsamer war, verlor ich Sarah irgendwann aus den Augen. Ich spürte, wie die Angst bis in meine Haarspitzen kroch. Wo war sie? Ich wurde immer schneller. Mit Händen und Füßen kletterte ich den Weg nach unten. Plötzlich hörte ich ein Rumpeln. Es hörte sich an, als ob mehrere Felsen in die Tiefe stürzten. Instinktiv drückte ich mich an den nächsten Stein. Panisch rief ich Sarahs Namen. Doch ich bekam keine Antwort. Auf einmal hörte ich einen lauten Schrei. Sofort erkannte ich ihre Stimme. Nein! Es war mir egal, ob mich Steine treffen würden. Ich musste zu Sarah! Ohne auf den Weg zu achten, lief ich dorthin, wo ich ihre Stimme vermutete. Bis ich zu einem großen Abgrund kam. Ich öffnete meinen Mund und meinte ihren Namen zu schreien, doch kein Laut verließ meine Kehle. Meine Höhenangst war mir in diesem Moment egal. Ich kniete mich hin und schaute nach unten. War sie wirklich da unten? In meinem Gedanken sah ich schon, wie sie hinter mir aus einem Busch sprang und laut lachte. Und trotzdem lehnte ich mich zitternd nach vorne und blickte nach unten. Ich erkannte ihre Hose. Sarah. Sie lag in diesem Abgrund. Ein großer Stein lag auf ihrem rechten Arm und hatte ihn zerdrückt. Ihre Augen waren geschlossen, doch ihr Gesichtsausdruck war friedlich. Ein Bein stand komisch ab und war blutverschmiert. Mir wurde schwindlig. Ich lehnte mich zurück und setzte mich hin. Sarah. Es war meine Schuld. Alles war meine Schuld. Ich hätte mich nicht dazu überreden lassen sollen, diesen Weg zu gehen. Ich hätte schneller sein müssen. Ich hätte die Gefahr erkennen müssen! Doch ich hatte versagt. Ein lauter Schrei der Verzweiflung verließ meine Kehle. Tränen strömten über meine Wangen und verschmierten den Staub und Dreck der Wanderung. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und das war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich irgendwann aufstand und einfach losging. Ich ging und ging, bis ich bei meinem Auto war. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hierhergekommen war, wusste nichts mehr von meiner Wanderung. Aber ich stieg ein und fuhr los.  

 

An den Blick von Marc würde ich mich mein Leben lang erinnern. Er starrte mich an. Er öffnete mir die Tür und erkannte, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Ohne ein Wort zu sagen, trat ich ein und setzte mich auf seine Couch. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nur eines war mir klar: Niemals konnte ich in meine Heimat zurückkehren. Vor Verzweiflung weinend erzählte ich ihm stockend von Sarah. Und danach packte ich meine Sachen und verschwand. Für immer.  

 

  

 

 

 

– 2020 –  

 

Kim sah mich an. Ihr Blick war zweifelnd und besorgt. Sie hatte mehrmals nach mir gerufen, doch ich war in meine Gedanken vertieft gewesen. Ich konnte ihr keine Erklärung liefern, denn niemand wusste davon. Keiner. Ich hatte meine Heimat verlassen, ohne mich bei jemandem zu melden. Ich war fortgefahren und war mit einer neuen Identität in meiner neuen Heimat angekommen. Bis jetzt hatte ich mich hier auch sicher gefühlt. Ich hatte mir ein neues Leben aufgebaut. Mit einem tollen Job. Mit einer tollen Frau. Ich hatte mein altes Leben verdrängt. Bis jetzt.  

 

Die letzten Tage war ich wie ausgewechselt gewesen. Auch Kim erkannte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich konnte nicht mit ihr reden. Ich konnte mit niemandem reden. Mir konnte niemand helfen. Das, was ich getan hatte, war schlimm. Ich hatte Sarah zurückgelassen. Hatte sie noch gelebt? Hatte sie bemerkt, dass ich feige davon gelaufen war anstatt bei ihr geblieben zu sein?  

 

Zwei Wochen später war mein Knöchel wieder verheilt. Meine inneren Wunden würden jedoch niemals heilen. Sie waren mit diesem Handyfoto so schnell aufgerissen worden, dass die Narben ewig spürbar sein werden. Egal, wo ich mich befand, überall sah ich Sarah. Überall meinte ich, verfolgt zu werden. Ich spürte Blicke auf mir, obwohl niemand in meiner Nähe war. Ich hörte Sarahs Schrei. Ich sah sie in jeder Frau, die mir in der Stadt entgegenkam. Und ich hörte dieses Lachen. Dieses tiefe, unheimliche Lachen aus dem Park. Wer war das? Was wollte er von mir? 

 

Da ich weder am Tag noch in der Nacht meine Ruhe fand, verbrachte ich meine schlaflosen Nächte oft auf der Couch. Ich schaute mir Filme an, von denen ich nichts mitbekam. Wenn die Sonne aufging, ging ich laufen. Ich joggte mehr als fünfzehn Kilometer täglich. Aber ich konnte mich nicht über meinen neuen Rekord freuen. Mein Leben hatte eine Wendung genommen. Schon wieder. Meine übliche Laufroute durch den Park nahm ich nur, wenn Leute in meiner Umgebung waren. Mehr als einmal setzte ich mich auf eine Bank und lief erst dann los, wenn jemand anderer an mir vorbeigelaufen war.  

 

So war es auch heute. Ich saß auf einer Parkbank und starrte in die Luft. Wieder hatte ich höchstens zwei Stunden geschlafen und Kim machte sich immer größere Sorgen um mich. Für morgen hatte sie einen Termin bei einer Psychotherapeutin für mich ausgemacht. Wenn ich schon nicht mit ihr reden konnte, sollte ich wenigstens mit jemand anderem darüber reden. Kim wurde immer bedrückter, denn sie merkte, dass sie mir nicht helfen konnte. Unser Zusammenleben hatte sich verändert.  

 

Völlig in Gedanken versunken bemerkte ich, dass ein Mann an mir vorbeilief. Er joggte gemütlich und als er ein paar Meter von mir entfernt war, stand ich auf und lief ebenfalls los. Er war der erste Mensch, den ich heute hier im Park gesehen hatte. Es war noch nicht einmal fünf Uhr, um diese Uhrzeit war kaum ein anderer unterwegs. Ich lief und lief. Normalerweise konnte ich so meine Gedanken vergessen und mich nur dem Sport widmen. Auch das hatte sich verändert. Der Mann vor mir schien das gleiche Tempo wie ich zu haben. Ich hatte keine Mühe, ihm nachzukommen und ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Als wir in das dunkle Waldstück kamen, wurde mir mulmig zumute. Seit dem Auftauchen des Handys konnte ich nicht mehr an dieser Stelle vorbeilaufen, ohne eine Gänsehaut zu bekommen. Zwischenzeitlich meinte ich sogar, ich hätte mir das Ganze nur eingebildet und es hätte gar kein Handy gegeben.  

 

Bei der Bank angekommen blieb der Mann vor mir plötzlich stehen. Er bremste so abrupt ab, dass ich ihm beinahe hineinlief. Und dann drehte er sich um und mir wurde schlecht. Er grinste mich an und begrüßte mich mit einem Lachen. Es war das gleiche tiefe Lachen wie damals. Mir wurde alles klar. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Er hatte mich gefunden. Das würde mein Ende sein. Panisch drehte ich mich um, doch es war niemand zu sehen. Ich war in eine Falle getappt. Er hatte mich geschnappt.  

 

„Na, erkennst du mich, Tom?“, fragte der Mann. Ich brachte kein Wort heraus. Ich war nicht mehr Tom. Schon seit neunundzwanzig Jahren nicht mehr. So lange war es auch her, dass mich jemand mit diesem Namen angesprochen hatte. Ich war Lukas. Langsam nickte ich, denn natürlich hatte ich ihn erkannt. Ich konnte meine Augen nicht von ihm lösen. Warum war es mir vorher nicht aufgefallen? Diese Sommersprossen. Diese Zahnlücke. Ich hätte ihn erkennen müssen, als er an mir vorbeigelaufen war. „Dann weißt du sicher auch, warum ich hier bin.“ Wieder konnte ich nur nicken. „Ich bringe zu Ende, was zu Ende gebracht werden muss“, sagte er und griff in seine Jackentasche. Er holte eine Pistole heraus. Sie glänzte in der Sonne und ich schluckte hart. Ich schätzte meine Chancen ab. Wenn ich mich umdrehen und weglaufen würde, würde er schießen. Wenn ich bliebe, würde er ebenfalls schießen. Ich war ihm ausgeliefert. „Warum jetzt?“, flüsterte ich. Der Mann deutete mit der Pistole auf mich. Ich konnte meine Augen nicht davon abwenden und Tränen traten in meine Augen. Er erklärte mir, dass das alles Zufall war. Es sei wohl Schicksal, dass er mich in der Stadt beim Einkaufen gesehen und erkannt hatte. Auch er hatte das kleine Dorf von damals verlassen und war in die Großstadt gezogen. Als er mich bemerkt hatte, wusste er, dass er nun endlich Rache nehmen konnte. Er wollte, dass es mir mindestens gleich schlecht erging wie ihr damals.  

 

Mein Mund war staubtrocken und meine Beine zitterten, dass ich kaum aufrecht stehen konnte. Mir war extrem schlecht und ich war kurz davor, mich zu übergeben. Er hatte mich gefunden. All das, was ich mir aufgebaut hatte, hatte er innerhalb einer Sekunde zerstört. Und er würde auch mich zerstören. „Woher…?“, murmelte ich. Mehr brachte ich nicht heraus. Doch das musste ich auch nicht. Er wusste, was ich fragen wollte. Meine Zunge klebte trocken an meinem Gaumen fest. Angstschweiß und Tränen flossen über mein Gesicht. „Woher ich Bescheid weiß?“, fragte er mich grinsend. Er war mir überlegen und genoss das. Seine Finger spielten mit dem Abzug der Pistole und er wischte sich mit der anderen Hand übers Gesicht. Auch er schien die letzten Nächte nicht gut geschlafen zu haben. Mehrmals in der Minute drehte er sich um, um zu kontrollieren, ob wir alleine wären. Doch niemand war zu sehen. Wir zwei waren die einzigen in diesem Waldstück. Er hatte das geplant. Und sein Plan schien aufzugehen. Plötzlich lachte er wieder sein tiefes, trockenes Lachen. Und dann begann er zu erzählen. Er erklärte mir, dass er Sarah und mir auch damals an diesem besagten Wochenende gefolgt sei. Er habe neben meinem Auto geparkt und sei uns mit ein paar Metern Sicherheitsabstand gefolgt. Er habe doch schon damals gewusst, dass ich nicht der Richtige für seine Schwester gewesen sei, und das habe sich ja auch bestätigt. Leider zu spät.  

 

Mir wurde schwindlig und ich fiel auf meine Knie. Ich begann zu würgen und übergab mich mitten auf den Weg. Er lachte. Sogar die Nacht hatte er damals in unserer Nähe ein wenig abseits vom Gipfel verbracht. Somit hatte Sarahs Bruder Flo alles mitbekommen. Alles. Er war uns auch auf unserem Rückweg gefolgt. Flo hatte den Sturz von Sarah beobachtet. Er hatte mich beobachtet. Er musste gesehen haben, wie ich zitternd vor dem Abgrund gehockt war und geschluchzt hatte. Flo musste auch beobachtet haben, wie ich Feigling meine Sachen gepackt hatte und abgehauen war. Ich hatte meine Freundin im Stich gelassen. Ich hatte Sarah sich selbst überlassen und sie war gestorben. Möglicherweise hätte ich sie retten können. Doch ich war so feige gewesen und verschwand. Ich hatte nicht nur sie zurückgelassen, ich hatte meiner Familie, meinem Job und meiner Heimat den Rücken für immer zugekehrt.  

 

Flo grinste. Er wusste, was in meinem Kopf vor sich ging. Ich erkannte, dass mein Leben eine große Lüge gewesen war. Die letzten neunundzwanzig Jahre versuchte ich, mir eine neue Identität aufzubauen. Zum Teil war mir das auch gelungen. Lukas war es gelungen. Doch in meinem Innersten war ich immer Tom geblieben. Je mehr Zeit vergangen war, desto kleiner wurde Tom in mir, aber ganz verschwunden war er nie. Und Flo hatte es geschafft, ihn wieder ganz zum Vorschein zu bringen.  

 

Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Schweigend standen wir uns gegenüber. Keine andere Menschenseele war in unserer Nähe. Er grinste mich zufrieden an und spielte immer noch an seiner Pistole herum. Aus ihm war ein großer, starker Mann geworden. Neben ihm wirkte ich klein und schmächtig. Ich war verzweifelt und schaute in den Boden. Meine Situation war aussichtslos. Ich konnte ihn weder überwältigen, noch konnte ich wegrennen. Ich hatte keine Chance gegen Flo.  

 

Gerade als ich meinte, weit entfernt Schritte zu hören, sagte er ernst und ohne zu lachen: „Sarah hat gelebt. Ich bin zu ihr hinuntergeklettert und habe ihre Hand gehalten. Sie hat die ganze Zeit nach dir gefragt. Bis sie ihre Augen für immer geschlossen hat.“ Diese wenigen Sätzen gaben mir den Rest. Tränen strömten über mein Gesicht und ich schluchzte hemmungslos. Er hatte mir mein Versagen noch deutlicher gemacht. Ich wusste, dass ich nichts sagen konnte. Es gab nichts, was diese Situation besser machen würde. Also blieb ich still.  

 

So standen wir uns wenige Augenblicke gegenüber. Dann hob er seine Hand, in der er die Pistole hielt und zielte auf mein Herz. Ein zufriedenes Lächeln überzog sein Gesicht und er flüsterte: „Ich bringe zu Ende, was zu Ende gebracht werden muss.“ Dann betätigte er den Abzug und schoss. Es musste nur eine Millisekunde gedauert haben, bis die Kugel mich traf. Doch in dieser Zeit sah ich Sarah. Ich sah sie, wie wir gemeinsam auf dem Sonnenkogel standen und uns umarmten. Ich sah den Sonnenaufgang. Und dann wurde alles schwarz.

 

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