gomesoDie Auferstehung

 

Prolog

 

Die kleine Nachttischlampe warf ein schwaches Licht in das ansonsten abgedunkelte Kinderzimmer. Gemeinsam lagen sie in ihrem Betthimmel. Den rosa Stoffhasen Mr. Rudy hielt sie in ihrem Arm. Die Bettdecke erzeugte eine wohlige Wärme, während er die Geschichte von den Tieren im Wald vorlas. Sie mochte seine tiefe Stimme und schloss die Augen, um sich Papa-Bär besser vorstellen zu können.

 

Stille. Sie hörte, wie er vorsichtig das Buch zu Seite legte. Gleich würde er ihr Zimmer verlassen. Schade, sie wollte doch noch erfahren, ob Papa-Bär den Fluss findet.

 

Plötzlich spürte sie seine Hand auf ihrem Bauch und hielt gespannt den Atem an. Behutsam drehte er sie von der Seite auf den Rücken. Langsam schob er seine Hand tiefer. Sie lag jetzt auf ihrer Unterhose. Was hatte er vor?   

 

Sie hörte ein Ratschen, wie wenn sie den Reißverschluss ihrer Jacke öffnete. Die graue mit den rosa Elefanten drauf. Er zog ihre Unterhose runter. Panik kroch in ihr hoch und sie drückte Mr. Rudy noch fester an sich. Langsam schob er seinen Körper auf ihren. Sie wagte es nicht mehr, zu atmen. Dann begann der Schmerz.

 

 

 

Kapitel 1

 

Heute

 

Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster direkt in Pias Gesicht. Sie schloss die Augen, genoss die Wärme auf ihrer Haut. Laut Dr. Jawad bekam sie jetzt eine Chance, die sie unbedingt nutzen sollte. Auch wenn Pia nach der langen Zeit mittlerweile nicht mehr viel Hoffnung auf ein normales Leben hatte, so wollte sie ihm doch glauben, denn Dr. Jawad, der freundliche Inder mit den pechschwarzen Augen musste es wissen: Er hatte schon viele Menschen auf ihrem Weg zurück begleitet.

 

Pia drehte sich um und sah sich ihr neues Zuhause an. Sie stand am Fenster des kleinen Wohnraums, an den eine Kochzeile anschloss. Rechter Hand blickte sie auf eine Tür, die in ein winziges Badezimmer führte und daneben war eine weitere Tür, welche den Wohn- mit dem Schlafbereich verband. Auf der linken Seite des Wohnraums befand sich die Eingangstür zu ihrem kleinen Bungalow. Insgesamt war ihre neue Heimat im Prof.-Drosten-Park sicher kein Luxus, aber um einiges besser als ihr Zimmer auf Station 1a – die geschlossene Psychiatrie unter Leitung von Dr. Jawad.

 

Ein lauter Signalton wie von einem Handy schallte durch die Luft. Pia blickt ungläubig in Richtung Schlafzimmer, von wo das Geräusch kam. Ihr Puls beschleunigte sich. Ein Handy hatte sie noch nie besessen, und außer ihr war niemand hier. Noch einmal ertönte das Geräusch. Einem Impuls folgend ging Pia mit pochendem Herz Richtung Schlafzimmer, bereit einen Eindringling sofort zu attackieren, öffnete sie die Tür. Sie blickte sich um. Der Raum war leer, und bis auf ihren Herzschlag konnte Pia nichts hören. Ein drittes Mal ertönte der Signalton. Pias Blick fiel auf den Nachttisch. Die Schublade war halb geöffnet, im Inneren schien etwas zu leuchten. Vorsichtig ging Pia zum Nachttisch und zog an dem Knopf der Schublade. In der Schublade lag ein Handy. Wahrscheinlich war es das neuste iPhone, aber sicher war Pia nicht, da sie kein großes Interesse an Technik hatte. Auf dem Bildschirm war zu erkennen, dass soeben eine MMS – eine Bildnachricht, so viel wusste Pia dann doch – eingegangen war. Neugierig nahm Pia das Handy in die Hand. Vielleicht war das Handy und die MMS ein Willkommensgeschenk der Einrichtung, dessen neuste Bewohnerin sie ab heute war. Vorsichtig berührte Pia das Symbol mit dem Briefumschlag mit ihrem Daumen. Das Handy war nicht durch einen Code gesperrt. Die Nachricht öffnete sich. Als Pia das Bild sah, welches eine unbekannte Nummer per MMS auf dieses Handy gesendet hatte, wurde ihr augenblicklich schlecht. Der Schrei blieb ihr im Hals stecken, sie warf das Handy weg. Das konnte nicht sein! Doch das Bild hatte sich bereits tief in ihr Bewusstsein gebrannt. Es zeigte Pia selbst, in dem Moment, der ihr Leben für immer veränderte.

 

 

 

Kapitel 2

 

35 Jahre zuvor

 

«Komm rein, das Wasser ist so schön kühl!» rief Tom, während sein blonder Lockenkopf gerade aus der Wasseroberfläche hervorstieß. Pia zögerte. Zwar wollte sie Tom, das neue Nachbarskind, dessen offensichtlich reiche Eltern einen eigenen Pool im Garten hatten, nicht enttäuschen – dennoch mochte sie es nicht, sich zu entkleiden. Nur im Bikini fühlte sie sich verletzlich ohne ihre schützende Kleidung. Trotzdem wäre es wohl clever, auf Toms Wunsch einzugehen. Pia hatte sich so gefreut, dass er gerade sie gefragt hatte, ob sie den Nachmittag gemeinsam verbringen wollten. Sie sah es als Chance, endlich einen Freund zu finden. Klar, die anderen Kinder der 3b mochten Pia nicht. Dafür hatte sie schon zu viele Wutanfälle gehabt, zu viele Mitschülerinnen und vor allem Mitschüler angegriffen. Aber Tom kannte diese Geschichten noch nicht. Er wurde an seinem ersten Tag neben sie gesetzt, schaute sie mit seinen grünen Augen an und suchte ziemlich schnell das Gespräch zu ihr. Das war gestern und heute waren sie an einem der heißesten Tage des Jahres zusammen in Toms Garten.

 

«Na gut, aber nur weil es so heiß ist!» antwortete Pia, stand auf und begann, sich zögerlich ihr Sommerkleid auszuziehen. Tom tauchte währenddessen weiter im Pool, sodass Pia sich an das Gefühl, nur im Bikini in einem fremden Garten zu stehen, gewöhnen konnte. Nach einer Weile ging sie zum Beckenrand, atmete tief ein und stieg begleitet von Lou Reeds „Perfect Day“, welches aus dem Wohnzimmer nach draußen schallte, vorsichtig ins Wasser. Stechend schmerzte das kalte Wasser an ihren Füßen. Doch sie wollte nicht kneifen, und je tiefer sie ins Wasser schritt, desto besser ertrug sie die Kälte. Pia tauchte kurz unter. Als sie den Kopf wieder aus dem Wasser nahm, stand Tom direkt vor ihr. In der Hand hielt er einen Gummiring, wie Pia ihn von ihrer Seepferdchenprüfung kannte. «Wetten, ich bekomme den Ring, selbst wenn du 5 Sekunden Vorsprung hast?» «Niemals!» antwortete Pia, und Tom warf den Ring in einem hohen Bogen an das andere Ende des Pools.

 

 

 

Kapitel 3

 

Heute

 

Ein Blick auf die Wanduhr verriet Pia, dass sie bereits zwei Stunden auf dem Fußboden saß und weinte. Sie durchlebte die Szenen aus ihrer Vergangenheit erneut, konnte sich selbst vor ihrem inneren Auge sehen. Eine diffuse Mischung aus Ekel, Wut und Entsetzen kroch in ihr hoch. Es war wie in ihrem Traum, der sie die ersten Monate nach dem Ereignis jede Nacht heimsuchte und sie schreiend hat aufwachen lassen. Im Laufe der Zeit und mit der Hilfe von Dr. Jawad wurde der Traum seltener, und mittlerweile hatte sie ihn fast vergessen – bis sie das Bild auf dem Handy sah.

 

Pia wischte sich die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht und ging ins Badezimmer. In 15 Minuten sollte sie zur Vorstellung bei ihrem neuen Arzt sein. Sein Büro befand sich im Hauptgebäude des Prof.-Drosten-Parks, weshalb Pia ungefähr fünf Minuten Fußweg vor sich hatte. Sie reinigte ihr Gesicht mit Wasser und bürstete ihre langen kupferfarbenen Haare. Schminken würde sie sich nicht. Sie wollte keine falschen Signale senden.

 

Auf dem Weg zum Hauptgebäude dachte Pia an ihre bisherigen Ärzte. Als erstes wurde sie von Kinderpsychiater Dr. Säckle, der von allen Kindern aufgrund seines runden Körpers nur Dr. Sandsack genannt wurde und mit seiner einfühlsamen, verständlichen Art Pia nicht helfen konnte, betreut. Darauf folgte Frau Professor Engelkamp. Die damals bereits über 60-jährige Jugendpsychiaterin mit den kurzen grauen Haaren und den stahlblauen Augen war in ganz Köln bekannt für ihre knallharte konfrontative Art, mit der sie Problemfälle wie Pia behandelte. Zwar führte auch ihre Behandlung nicht zu Pias Resozialisierung, nein nicht mal zu einer positiven Sozialprognose, aber immerhin schlug Pia nicht mehr impulsiv auf ihre Mitmenschen ein. Dass Pia mit Erreichen der Volljährigkeit in die geschlossene Erwachsenpsychiatrie zu Dr. Jawad wechselte, erwies sich im Nachhinein als Glücksfall. Sie hatte direkt einen guten Draht zu Dr. Jawad und konnte durch seine Hilfe große Schritte in Richtung eines eigenständigen Lebens machen. Jetzt war Pia hier im Prof.-Drosten-Park, wo sie Selbstständigkeit unter Begleitung lernen sollte. Die Privatanlage verkörperte das Konzept des betreuten Wohnens in Einzelbungalows für psychisch auffällige Erwachsene unter Betreuung von Fachpersonal. Die Bewohner sollten hier lernen, ein normales Leben zu führen.

 

Am Hauptgebäude angekommen, nannte Pia der Empfangsdame ihren Namen und bekam mitgeteilt, dass sie im ersten Obergeschoss, den Flur rechts runter im dritten Zimmer auf der linken Seite erwartet werde. Während Pia das Büro ihres neuen Arztes suchte, stieg ihr der stechende Geruch eines Chlorreinigers in die Nase. Pia hasste diesen Geruch, denn auch er erinnerte sie an diesen verhängnisvollen Sommertag vor über 35 Jahren. Sie versuchte die Bilder mit dem Gedanken an eine Zukunft in Freiheit aus ihrem Kopf zu vertreiben.

 

Pias Hoffnung auf eine baldige Resozialisierung zersprang in tausend Einzelteile, als sie den Namen des Mannes, der sie behandeln sollte, auf dem Türschild las. Das konnte nicht sein! Es war unmöglich! Unsicher schaute Pia sich um. Sie zählte erneut – ja, sie stand vor dem dritten Zimmer auf der linken Seite im rechten Flur.

 

Als Pia hörte, dass ihr Schritte aus dem Inneren des Raumes entgegenkamen, wurde ihr schlecht.

 

 

 

Kapitel 4

 

35 Jahre zuvor

 

Kind tötet Kind

 

Köln. Ein achtjähriges Mädchen tötete ihren gleichaltrigen Schulkameraden während eines Spieletreffen am Nachmittag.

 

Die bereits vor der Tat als auffällig aggressiv geltende Pia P. drückte ihren Schulkameraden Tom W. im Pool seiner Eltern so lange unter Wasser, bis dieser ertrank.
«Es war schrecklich! Zuerst lag Pia nur auf der Sonnenliege, dann aber zog sie sich um und ging zu Tom in den Pool. Die Stimmung schien gut zu sein, die beiden lachten. Tom warf einen Gummiring und die beiden schwammen um die Wette. Tom war schneller und tauchte mit dem Ring wieder auf. Pia erschien unmittelbar hinter ihm. Ich konnte ihr Gesicht sehen – es war hasserfüllt! Sie nahm Tom von hinten in den Schwitzkasten und drückte ihn unter Wasser. Als ich merkte, dass Tom nicht mehr auftauchte, lief ich los, aber als ich am Pool ankam, war Tom bereits tot. Ich bin so traurig!» berichtete Toms elfjährige Schwester Marlene W., die die Szene durch ihr Zimmerfenster beobachtete, unserer Zeitung. Sowohl Marlene als auch Toms Eltern befinden sich jetzt in psychologischer Betreuung. Wie es mit Pia P. weitergeht, wird das Jugendamt unter Berücksichtigung eines psychologischen Gutachtens entscheiden, da Pia mit ihren 8 Jahren noch nicht strafmündig ist. «Bei für Kinder so ungewöhnlich brutalen Straftaten und mit dem bisher vom Umfeld geschilderten Sozialverhalten von Pia P. ist die sofortige und langfristige Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung denkbar, da sie offensichtlich eine Gefährdung für andere ist.» ist sich unser Experte für Kinder- und Jugendkriminalität sicher.

 

 

 

Kapitel 5

 

Heute

 

Die Tür des Arztbüros ging auf und Pia blickte in die grünen Augen, die sie glaubte, für immer geschlossen zu haben. Vor ihr stand Tom.

 

Dr. Tom Walther, Psychiater im Prof.-Drosten-Park, war schlank und hochgewachsen. Mit seinen mittlerweile grau melierten Locken und einem strahlenden Lächeln begrüßte er Pia «Guten Tag Pia, mein Name ist Tom. Ich hoffe es ist okay, wenn wir uns duzen. Komm doch bitte rein und setz dich!»

 

Pias Knie zitterten als sie Dr. Walther in dessen Büro folgte. Wie konnte das sein? Er war seit über 35 Jahren tot. Sie hatte ihn umgebracht, seine Leiche in der Hand gehalten und dann den Pool verlassen. Die Szene, die das Bild auf dem Handy heute zeigte, war genau diese: Pia aufgelöst am Beckenrand, kurz nachdem sie Tom tötete. Doch jetzt stand Tom Walther vor ihr und lächelte sie an, als wäre nie etwas gewesen.

 

Dr. Walther setzte sich auf seinen Bürostuhl und Pia nahm ihm gegenüber Platz.
«Schön, dass du hier bist, Pia! Ich habe bereits deine Akte erhalten und mit Dr. Jawad telefoniert. Deine Entwicklung in den letzten Jahren ist gut und ich bin optimistisch, dass wir hier ansetzen können, sodass du bald entlassen werden kannst! Wie klingt das für dich?»
Pia war leichenblass. Sie konnte nicht begreifen, was hier passierte.
«Ich kann verstehen, wenn dich dein neues Umfeld verunsichert, aber keine Sorge, hier ist noch niemand gestorben. Erstmal werde ich dir den Ablauf in unserer Einrichtung erklären. Im Prinzip kannst du auf dem Gelände machen, was du willst, außer es verlassen. Es gibt gemeinsames Frühstück, Mittag- und Abendessen, woran du teilnehmen kannst aber nicht musst. Wir haben verschiedene Gruppen- und Einzeltherapieangebote, die teils verpflichtend und teils freiwillig sind. Für die freiwilligen Angebote kannst du dich am Empfang anmelden. Wir beide sprechen uns alle zwei Tage, zusätzlich mache ich jeden Tag einen Rundgang und besuche alle Bewohner in ihren Bungalows. Hier habe ich deinen Therapieplan für die erste Woche.» sagte Dr. Walther und überreichte Pia einen gefalteten DIN-A4-Zettel. Pia nahm das Blatt wortlos entgegen. Es konnte nicht wahr sein.
«Wenn du keine weiteren Fragen hast, war es das auch schon für heute. Wenn du dich wohler fühlst, beginnen wir mit unserer Therapie.»

 

 

 

Kapitel 6

 

Nach dem Termin mit Dr. Walther ging Pia eine Runde durch den Park, welcher zur Anlage gehörte. Die frische Luft tat ihr gut und sie versuchte sich zu beruhigen.

 

Zurück in ihrem Bungalow hob Pia das Handy vom Schlafzimmerboden auf und stecke es in ihre Hosentasche. Besser, sie trug es bei sich, als wenn die Putzkraft das Handy finden würde. Danach begann Pia damit, ihre Sachen auszuräumen. Sie öffnete ihren Koffer und nahm eine Hose heraus. Als Pia die Schranktür öffnete, entfuhr ihr der nächste erstickte Schrei. Das konnte doch nicht sein! Wieso wollte Dr. Walther sie so leiden sehen? In Pias Kleiderschrank saß Toms Kuscheltier. Ein blauer Stoffelefant, der damals Toms Liege bewachte, als Tom im Pool schwamm. Pia erkannte das Kuscheltier sofort und schlug die Schranktür ruckartig zu. Sie lief aus ihrem Bungalow in Richtung Hauptgebäude.

 

Völlig außer Atem kam Pia am Empfang an.
«Ich muss sofort den Chefarzt sprechen! Es ist ein Notfall!» schrie Pia die Dame am Empfang an. Andrea, so stand es auf ihrem Namensschild, lächelte sie freundlich an «Prof. Dr. Menke ist zwei Wochen in Urlaub. Aber ich kann gerne seine Stellvertretung holen, wenn Sie möchten.»
«Ja bitte.» antwortete Pia und nahm sich einen Kugelschreiber vom Empfangstresen.
Dann würde sie der stellvertretenden Klinikleitung die Situation erklären und eine Verlegung fordern. Egal wie – sie musste hier weg!

 

 

 

Kapitel 7

 

«Pia! Wie kann ich dir helfen?» fragte Dr. Tom Walther, der kurze Zeit später vor ihr stand.
«Sie sind die stellvertretende Klinikleitung?» fragte Pia. «Allerdings, die bin ich. Was ist los?»

 

Ein weiteres Mal an diesem Tag platzte Pias Hoffnung wie eine Seifenblase. Sie konnte Dr. Walther nicht sagen, woran sie dachte, konnte ihm weder das Kuscheltier noch das Handy zeigen. Ihre Augen wurden glasig, während sie versuchte, sich zu beruhigen, indem sie den Mechanismus des Kugelschreibers mehrfach betätigte.

 

«Ich vermute, wir sollten in Ruhe in meinem Büro sprechen. Bitte folge mir, Pia.» sagte Dr. Walther und schritt durch die große Halle in Richtung seines Büros.

 

Langsam ging Pia ihm hinterher. Sie hatte keine Wahl. Bis sie den Chefarzt um Verlegung bitten konnte, würden noch zwei Wochen vergehen. Die Verlegung aufgrund eines psychischen Aussetzers zu erwirken, kam für sie nicht in Frage. Das würde ihre Resozialisierung gefährden. Wie in Trance folgte Pia Dr. Walther in dessen Büro und ahnte nicht, dass ihr Aufenthalt im Prof.-Drosten-Park noch heute enden würde.

 

 

 

Kapitel 8

 

«Setz dich doch bitte, ich hole dir schnell ein Glas Wasser.» sagte Dr. Walther. Er deutete mit seiner Hand auf einen der Stühle an seinem Schreibtisch und verließ das Büro.

 

Pia setzte sich. Wie sollte sie Dr. Walther gleich erklären, warum sie so aufgelöst war und den Chefarzt sprechen wollte?

 

«Oh it’s such a perfect day, I am glad to spend it with you.», ein Satz, begleitet von Klaviermusik, der die Stille im Raum und Pias Gedanken unterbrach. Pias Augen weiteten sich vor Entsetzen, gedanklich war sie wieder im Garten der Walthers, mit den Füßen im Pool. Sie blickte auf ihre Beine. Lou Reed sang weiter während Pia versuchte, mit zitternden Fingern das klingelnde Handy aus ihrer Hosentasche zu ziehen.

 

In dem Moment als Pia auf den Bildschirm sehen konnte, verstummte das Lied, das Display zeigte einen Anruf in Abwesenheit an. Die Nummer des Anrufers, der soeben aufgelegt und damit den Song beendet hatte, war unterdrückt.

 

Ihr Klicken mit dem Kugelschreiber wurde immer schneller, hektischer.

 

 

 

Kapitel 9

 

Klick, klick, klick, klick, klick…, unbewusst verlieh Pia ihrer extremen Nervosität Ausdruck, als Dr. Walther plötzlich neben ihr stand.

 

Er grinste sie an. «Ein schönes Lied hast du da gehört.» sagte Dr. Walther und versuchte ein Wasserglas vor Pia auf den Schreibtisch zu stellen.

 

Pia zuckte zusammen. Wasser schwappte aus dem Glas direkt auf ihren Schoß. «Oh, warte.», sagte Dr. Walther und beugte sich in Richtung Pia, während sich sein Blick veränderte.

 

 

 

Kapitel 10

 

Andrea kehrte mit einer frisch gebrühten Tasse Kaffee zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Sie musste mal wieder neues Büromaterial für ihre Chefin bestellen. Wie konnte es sein, dass eine promovierte Wissenschaftlerin nicht mit dem hausinternen Onlineshop zurechtkam? Seufzend ließ sie sich auf ihrem Stuhl nieder und ließ den Blick über die Überwachungsmonitore, die ihr jeden Raum des Hauptgebäudes zeigten, schweifen.

 

Ihr Blick blieb auf dem Monitor, in dem Dr. Walthers Büro zu sehen war, hängen. Sie schrie auf. Dr. Walther lag in einer Blutlache auf dem Teppich vor seinem Schreibtisch. Die Hände hatte er um seinen Hals geklammert. Doch immer mehr Blut rann zwischen seinen Fingern hindurch. Er konnte die Blutung nicht stoppen.

 

Vom Schrei alarmiert stürmte Andreas Chefin aus dem Hinterzimmer zu ihr. Sie blickte ebenfalls auf den Bildschirm, sah ihren sterbenden Ehemann und rannte los.

 

 

 

Kapitel 11

 

Pia saß regungslos auf ihrem Stuhl. In ihrer Hand hielt sie noch immer den mit Blut überzogenen Kugelschreiber. Ihre Panik war weg, verschwunden in dem Moment, als sie den Kugelschreiber das erste Mal in Dr. Walthers Hals rammte.

 

«Piaaaaaaaa!»
Dieser Schrei zerstörte die Ruhe in Pia. Es war der gleiche Schrei, wie sie ihn vor 35 Jahren im Garten der Familie Walther hörte. Sie drehte sich zur Bürotür um und erkannte sofort, wer da auf sie zustürmte.

 

Marlene Walther. Toms ältere Schwester, die damals beobachtete, wie Pia den kleinen Tom im Pool ertränkte. Marlene Walther hatte das alles eingefädelt, ein über 35 Jahre detailliert ausgearbeiteter Racheplan. Sie hatte als Verwaltungschefin des Prof.-Drosten-Parks dafür gesorgt, dass Pia hier einen Platz bekam und auch das Handy mit dem Foto sowie das Kuscheltier in Pias Bungalow platziert. Sie hatte „Perfect Day“ als Klingelton auf dem Handy eingestellt und konnte mit Hilfe der Überwachungskameras in den Büros Pia genau in dem Moment anrufen, als Pia allein war. Marlene Walther ging sogar so weit, einen Mann zu heiraten, der ihrem Bruder nicht nur ähnlichsah, sondern auch denselben Vornamen trug. Diesen ahnungslosen Mann hatte Pia gerade erstochen.   

 

 

 

Epilog

 

Pia schwamm los, als der Gummiring die Wasseroberfläche berührte. Sie war schnell dort und tauchte unter Wasser. Tom war inzwischen direkt hinter ihr, doch Pia konnte den Gummiring in die Hand nehmen. In diesem Moment spürte Pia, wie Tom versuchte, ihren Arm mit einer Hand festzuhalten. Mit der anderen Hand zog er ihre Bikinihose herunter.

 

Das Gefühl, entblößt zu sein, kam wieder hoch. Es war gerade mal drei Jahre her, dass sie sich ebenso hilflos und eklig fühlte, während sie Mr. Rudy fest umklammert hielt. Doch dieses Mal würde sie keinen Schmerz spüren, dieses Mal würde sie sich wehren…

 

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