ToewandahREUE

 

Er wachte schon vor dem ersten Klingeln seines Weckers auf. Henning drehte sich rum. Ein kleiner Lichtstrahl fiel durch den nicht ganz geschlossenen Rollladen, mitten auf ihre Nasenspitze. Miriam lag neben ihm und schlief noch tief und fest. Langsam bewegte sich die tiefblaue Decke auf und ab, wenn sie ein- und ausatmete.

„Mein Gott, wie schön sie ist!“ dachte er wieder einmal. Er schaute sie so gerne an. Manchmal saß er nur da und beobachtete sie. Wie dankbar er war, sie zu haben. Wie viel Glück er doch gehabt hatte, ihr begegnet zu sein. Sogar wenn sie schlief, sah sie wunderschön aus. Ihre blonden, schulterlangen Haare schmiegten sich anmutig um ihren Hals. Sie war etwas kleiner als er, schlank und sportlich. Tolle, lange Beine, einen knackigen Po und wohl geformte, perfekte Brüste. Nicht Zuviel, aber auch nicht Zuwenig. Einfach perfekt.

Ahhhh, er musste aufstehen! Langsam stieg er aus dem Bett. Er wollte sie nicht wecken. Gestern war es spät geworden. Sie hatten miteinander gekocht, eine gute Flasche Wein aufgemacht und danach einen Film gesehen. Als Krönung des schönen Abends hatten sie sich geliebt, bevor sie beide eng aneinander geschmiegt eingeschlafen waren.

Seine tägliche Joggingrunde wollte er dennoch nicht ausfallen lassen. Das war ihm wichtig. Ein guter Körperbau und ein gutes Körpergefühl. Henning Kuhn, Anfang 30, Ex-Fußballer, jetzt erfolgreicher Vertriebsmanager bei der Firma Kreform. Leider hatte er seine Fußballkarriere an den Nagel hängen müssen. Das Knie! Drei Operationen waren einfach Zuviel. Er konnte weiterhin Sport machen und natürlich auch joggen gehen, aber Profifußball? Die Zeiten waren leider vorbei.

Einmal mehr in seinem Leben war er seinen Eltern dankbar gewesen. Er hatte strenge, aber liebevolle Eltern. Sie hatten ihn bei seiner Karriere immer unterstützt, aber immer auch darauf geachtet, dass er ein gutes Abitur machte um somit später alle Türen offen zu haben.


Im Bad spritzte er sich erstmal mehrere Portionen Wasser ins Gesicht. Er hoffte, die Flasche Wein würde sich beim Laufen nicht wirklich bemerkbar machen. Mal sehen. Er schaute sich im Spiegel an. Immerhin war Miriam 10 Jahre jünger als er. Er musste sich also anstrengen! Sein Körper sah immer noch gut aus. Er war groß gewachsen und schlank. Den täglichen Sport sah man ihm an. Er lächelte, als er seine Brust anschaute und musste wieder an Miriam denken. Sie neckte ihn immer mit seiner leichten Brustbehaarung.
„Na, da ist doch in der Pubertät etwas schief gegangen, oder? Da haben ja manche 16Jährige ne stärkere Behaarung als Du!“ Lachend hatte sie an ein paar Brusthaaren gezupft.
„Na, aber mein Körper sieht halt einfach besser aus, oder?“ antwortete er, bevor er anfing, sie durchzukitzeln.“Außerdem hast du doch mit mir in manchen Situationen mehr Spaß, als mit einem 16 Jährigen, oder?“
„Sei bloß nicht so eingebildet“, hatte sie erwidert, bevor sie eine zweite Runde einlegten. Dieses Mal hatte sie die Führung übernommen. Im Bett passte auch einfach alles bei Ihnen. Mehr als einmal hatte er schon über das Thema Hochzeit nachgedacht. Aber Sie waren jetzt erst ein gutes Jahr zusammen und er wollte sie nicht überfordern. Vorallem wegen des Altersunterschieds.
„Zurück zur Gegenwart“, schalt er sich. Sonst würde er heute doch nicht laufen gehen. Schnell zog er seine Laufklamotten an, die er immer im Bad an den Haken hängte. Leise verließ er seine Wohnung, nachdem er noch schnell fünf Euro vom Küchentisch einsteckte. Sie liebte die frischen Brötchen von Bäcker Walter. Da würde er auf dem Rückweg noch vorbeilaufen.

Er genoss die kühle, frische Luft. Seine Strecke belief sich auf 15 Kilometer. Hauptsächlich Feldwege. Leichter Nebel lag auf den Feldern. Die Storchfamilie war noch da und schon auf dem Feld unterwegs. Keine Menschenseele zu sehen. Ein Luxus! Er freute sich auf das Wochenende. Sie waren mit seinem besten Freund Karsten zum Grillen verabredet. Anfänglich hatte Susanne, Karstens Frau, nicht positiv auf die Beziehung von ihm und Miriam reagiert. Sie gab den Altersunterschied als Grund an, aber Karsten und er waren sich einig, dass Susanne etwas eifersüchtig auf Miriam war. Susanne war viel kleiner und naja, „etwas gedrungen“ vom Körperbau her. Sie hatte braune, längere Haare und Sommersprossen. Sie war nicht sein Typ, aber Henning fand, dass sie eine typische „B-Schönheit“ war. Nicht unbedingt der Typ Frau, bei dem sich die Männer sofort umdrehten, aber wenn man sie kannte, mit ihrem Witz, ihrer großen Klappe, war sie einfach super! Es würde ein schöner Abend werden, da war er sich ganz sicher.

In der Bäckerei Walter war noch nichts los. Er kaufte 2 Fitnesskrustis und 2 Rosenbrötchen. Die Verkäuferin packte ihm noch eine Joghurtkruste „Zum Probieren“ ein und schenkte ihm zum Abschied ihr schönstes Lächeln. Sie war immer außerordentlich freundlich zu ihm. Manchmal fast etwas zu freundlich. Heute genoss er es. Vergnügt ging er nach Hause.

Eilig schritt er nach oben. Er hoffte, Miriam würde noch schlafen, so dass er das Frühstück vorbereiten und sie überraschen konnte. Noch zwei Stufen, dann war er da. Aber was lag da vor der Tür? Ein kleines Paket. „HENNING KUHN“ stand in großen Buchstaben darauf. Er sah sich um. Keiner da. Er wohnte in einem Mehrparteien-Haus, unter dem Dach. Die Eingangstür war abgeschlossen gewesen. Er nahm das Päckchen, schloss die Tür auf und trat in seine Wohnung. Es war noch alles still. Also schlief Miriam noch. Wäre sie schon wach, würde er entweder die Dusche hören oder Hans Zimmer. Sie liebte den Meister der Filmmusik und hörte seine Stücke gern nebenbei.

Er setzte sich an den Esstisch und riss das Päckchen auf. Im Innern lagen ein Handy und ein Zettel, der wiederum eine Botschaft aus Großbuchstaben und Zahlen enthielt:
„MACH MICH AN – 1-6-0-9 – FOTOS“ 

„Seltsam“, dachte Henning. Er machte das Handy an und tippte nach Aufforderung den Zahlencode 1609 in das Handy. Eine Melodie erklang. Henning erschrak, da die Lautstärke wohl auf der höchsten Stufe eingestellt war. Er horchte auf, aber im Schlafzimmer schien noch alles ruhig zu sein. Miriam schlief scheinbar noch seelenruhig. Auch eine Eigenschaft, die er an ihr so mochte. Sie konnte ausschlafen. Nicht so, wie einige andere Frauen in seinem Leben, die sich den Wecker auf 6 Uhr morgens stellten, um ihr tägliches Renovierungsprogramm mit Waschungen, Peelings und Masken durchzuführen. Im Anschluss daran wurden dann noch gefühlte 2 Kilo Make up aufgetragen. Die ganze Prozedur dauerte dann so um die eineinhalb Stunden. Mit dem Ergebnis, dass die Damen dann nichts mehr frühstücken konnten, weil sie ja sonst ihre aufgemalte Schönheit ruinierten. Aber auch diese Ära, als er noch diese Persönlichkeiten datete, war vorbei.

Aber zurück zum Handy. Auf dem Zettel stand das Wort FOTOS. „Also gut“, dachte er sich, „dann schauen wir doch mal, was du unter Fotos zu bieten hast“. Er klickte auf das entsprechende Symbol und was er dann sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Henning wurde es eiskalt und dann wieder heiß. Er schwitzte am ganzen Körper. Was sollte das? Er schaute sich um, konnte aber nichts entdecken. Sollte das ein schlechter Scherz werden? Warum? Die ersten Bilder zeigten ihn und Miriam schlafend in seinem Bett. Dann eine Nahaufnahme von seinem schlafenden Gesicht. Henning wurde es schlecht. Wer hatte die Fotos gemacht, wie war derjenige in seine Wohnung und in sein Schlafzimmer gekommen???

Das Handy in seiner Hand fing wieder an zu vibrieren. Es waren neue Bilder geschickt worden. Bilder von ihm als Jugendlichen, ein Mannschaftsfoto seines Fußballteams, ein Selfie und ein Foto von ihm auf seiner 18. Geburtstagsparty.

„Henning? Bist du da?“ rief Miriam etwas verschlafen.

Er zuckte zusammen. Schnell packte er alles zusammen und verstaute es im Flurschrank. „Äh, ja, bin zurück. Wollte gerade duschen gehen und dann Frühstück machen!“ rief er hastig. Ihm war ganz schlecht. Was sollte das alles?

„Komm doch zu mir“, säuselte sie.

Schnell antwortete Henning: „Nee, ich bin doch ganz verschwitzt. Gönn‘ mir eine Dusche, dann bin ich bei dir!“. Er rannte fast ins Bad, stellte sich eilig unter den riesigen Duschkopf und drehte den Wasserhahn auf eiskalt.

Kurz darauf ging die Badezimmertür auf und Miriam stand in ihrer ganzen Schönheit vor ihm. „Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten kommen“, sagte sie lachend und wollte gerade zu ihm unter die Dusche steigen. Aber er hielt sie davon ab.

„Miriam, ich bin noch total verschwitzt. Mein Körper braucht noch etwas Ruhe!“

Sie schaute ihn etwas beleidigt an, drehte sich um und ging zum Waschbecken. Sie putzte sich hastig die Zähne und verschwand.

Er konnte jetzt nicht. Er konnte jetzt keinen Sex mit Miriam haben. Das würde nur schief gehen. Die Bilder von diesem ominösen Handy gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Ein großes Fragezeichen war entstanden und schwebte förmlich im Raum.

Henning stieg aus der Dusche, trocknete sich rasch ab und zog sich an. Als er in die Küche kam, hatte sie bereits den Tisch gedeckt und eine dampfende Tasse Schwarztee in der Hand. Miriam liebte Tee, sie trank auch Kaffee, aber erst am Nachmittag. Henning brauchte morgens seinen Kaffee. Sie drückte auf den Knopf der neuen Kaffeemaschine. Sogleich erfüllt der Duft der braunen Flüssigkeit den Raum.

Das Frühstück war etwas wortkarg ausgefallen. Er hatte sich so gefreut, aber mit dem Handy und den unerklärlichen Bildern, war die Freude von heute Morgen wie weggeblasen.

Miriam wollte noch in die Stadt einkaufen fahren, noch kurz in ihrer Wohnung vorbeigehen und sich etwas schicker für das Grillen. Gegen Drei Uhr wollte sie zurücksein, so dass sie gemütlich am späten Nachmittag zu Karsten und Susanne gehen konnten.

 

Kaum hatte sie die Tür geschlossen, rannte er in den Flur und holte das Handy hervor. Zwei neue Nachrichten. Das erste Bild zeigte den Eingang seiner früheren Lieblingsbar in Heidelberg. Das Wespennest. Das nächste Bild war wieder von ihm mit seinen Kumpels. Es war von der Aufstiegsfeier. Er war 18 Jahre alt gewesen und ein paar Tage zuvor hatte er bei BayerLeverkusen unterschrieben. Er sollte nach den Sommerferien dort sein letztes Schuljahr und Abitur machen. Und natürlich trainieren, trainieren, trainieren. Für die U19 hatte er schon gespielt. Er hatte eine große Karriere vor sich. An dem Abend hatte er Jule kennengelernt. Jule. Scheiße. Er schaute auf den Kalender und ihm gefror noch einmal das Blut in den Adern. Heute war der 16. September. Ihr Todestag.

Im selben Augenblick vibrierte das Handy wieder. Es waren neue Fotos eingetroffen. Er klickte darauf und ihm wurde schlecht.
„WIE KANNST DU NUR RUHIG SCHLAFEN?“
Er klickte auf Antworten. „Wer bist Du und was willst du?“

 

„REUE“ kam sofort zurück. Und ein neues Video war angekommen. Henning, wieder schlafend in seinem Bett. Aber was war das? Eine Klinge? Derjenige, der filmte, strich mit einer ziemlich spitz aussehenden Klinge langsam am Bett, der Bettdecke entlang, bevor sich die Klinge gefährlich seinem Gesicht näherte…

Henning stockte der Atem. Wann war das gewesen? Wieso hatte er es nicht bemerkt und verdammt noch mal, wie war derjenige in seine Wohnung gekommen? Henning musste dringend die Schlösser austauschen lassen.

Die nächsten Bilder gingen ein. Paparazzi ähnliche Fotos. Henning vor seinem Auto, Henning beim Einkaufen, Henning beim Joggen, Henning vor der Firma.

„Was willst Du?“ schrieb Henning noch einmal.

„REUE“

„Was habe ich denn getan?“ fragte Henning zurück.

„DOPPELMÖRDER“ kam sofort zurück.

Henning verstand kein Wort. Was sollte das? Die nächsten zwei Bilder ließen ihn erschaudern. Zuerst kam ein Ultraschalbild. Das Baby war deutlich zu erkennen. Und das zweite Bild war ein Foto von Jule.

Jule. Ihm krampfte sich der Magen zusammen. Sie war so unglaublich hübsch gewesen. Und überhaupt nicht eingebildet. Tolle Figur, blonde, lange Haare. Sie war ihm damals im „Wespennest“ an der Aufstiegsfeier gleich aufgefallen. Sie hatten sich lange unterhalten und irgendwann auch geküsst. Von da an waren sie unzertrennlich.

 

Im August sollte er dann nach Leverkusen umziehen. Ein paar Tage vor der Abschiedsparty war Jule komisch drauf gewesen und hatte ihn um ein Gespräch gebeten. Sie hatten sich bei ihm getroffen. Seine Eltern waren arbeiten. Sie war ziemlich distanziert gewesen, hatte ihn nicht geküsst. Als sie oben in seinem Zimmer waren fing Jule an zu weinen und gestand, dass sie schwanger war. In der 10. Woche! Henning war geschockt gewesen. Wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Aber Jule hatte sich bereits entschieden. Sie wollte seiner Karriere nicht im Wege stehen, wollte aber jetzt auch noch kein Kind. Sie hatte schon einen Termin in der Klinik ausgemacht. Henning wollte mit ihr reden, sie überreden, nochmal alles gemeinsam zu überdenken, aber sie ließ es nicht zu. Er sollte nach Leverkusen gehen, die Zeit würde entscheiden, wie es mit ihnen weiterging. Auch seine Eltern waren gegen das Baby gewesen und wollten, dass er Abitur und Karriere machte.

Er wollte sie gern in die Klinik begleiten, aber auch das ließ sie nicht zu. Sie hatte ihm ein falsches Datum genannt und den Schritt allein gemacht. Er wollte sich mit ihr treffen, immer wieder versuchte er sie anzurufen, aber er erreichte sie nie. Henning merkte, dass es Jule nicht gut ging, aber sie ließ ihn nicht an sich ran.

Er war dann nach Leverkusen gezogen und hatte auch von dort immer wieder versucht mit ihr zu telefonieren. Er vermisste sie schrecklich. Wenn er sie dann doch mal erreichte, fielen die Telefonate immer kurz und knapp aus. Meistens war sie auf dem Sprung, oder sie hatte ihrer kleinen Schwester versprochen, mit ihr Inliner zu fahren oder ins Schwimmbad zu gehen. Henning war ziemlich gefrustet. Er liebte sie, aber er konnte nichts tun.

Auf der ersten Party in Leverkusen lernte er dann auch noch Line kennen. Sie war lustig und locker und sie hatten viel Spaß miteinander. Er merkte, dass er sich langsam in sie verliebte, wollte aber die Sache mit Jule auch nicht aufgeben. Anfang September fuhr er nach Hause. Er wollte sich auch mit Jule treffen, aber sie hatte wieder nur Ausreden gehabt. Henning war ziemlich sauer gewesen und hatte irgendwann gefragt, ob sie überhaupt noch zusammen waren oder nicht. Er hätte jemand Neues kennen gelernt und wollte einfach wissen, wo dran er war. Daraufhin hatte sie ihm gesagt, dass er dahin gehen solle, wo der Pfeffer wachse und aufgelegt. Das war das letzte Mal gewesen, dass er mit ihr gesprochen hatte. Seine Mutter hatte ihn drei Tage später angerufen und erzählt, dass Jule sich umgebracht hatte. Zur Beerdigung hatte er nicht kommen können, da sie ein wichtiges Spiel an dem Tag hatten. Sein Trainer hatte nicht auf ihn verzichten können. Er hatte an ihre Eltern einen langen Brief geschrieben, aber natürlich nie eine Antwort bekommen. Das harte Training und seine steile Karriere hatten ihn die dunkle Geschichte einfach vergessen lassen.

Aber was sollte das? Es war jetzt 15 Jahre her? Und vorallem wer war der Absender?

Er verstand einfach nicht, was das alles sollte. Er wohnte mittlerweile 15 Jahre hier in Leverkusen, hatte eine Eigentumswohnung, einen guten Job. Er war glücklich. Seine Eltern kamen ihm ab und zu besuchen. Zu den Feiertagen fuhr er natürlich nach Heidelberg. Miriam hatte er ihnen noch nicht vorgestellt. Es hatte sich einfach noch nicht ergeben. Sie arbeitete ja in einer Klinik als Therapeutin und hatte bisher immer Dienst gehabt, wenn seine Eltern zu Besuch waren.

„DEIN KIND WÄRE FAST 15 Jahre ALT, DU EGOSCHWEIN!“

Henning musste auf die Toilette. Er rannte ins Bad und musste sich erstmal übergeben. Als er wieder in das Esszimmer kam, saß Miriam am Tisch. Sie sah irgendwie anders aus, gehetzt und motzig.

„Äh, hi, du bist schon zurück. Schön, dass Du wieder da bist.“ Henning war wegen des Handys nervös.

„Achja, freust du dich wirklich, mich zu sehen? „ antwortete Miriam spitz. „Ich habe dir was zu trinken gemacht, mein Liebling.“ Sie deutete auf das Wasserglas mitten auf dem Tisch. Das Glas stand genau nehmen dem Handy.

„Klar freue mich mich!“ erwiderte er und wollte sie umarmen, doch Miriam wehrte ab.

„SETZEN! Und trink das!“ befahl sie ihm in einem aggressiven Ton.

So hatte er sie noch nie erlebt. Henning verstand nicht, was mit ihr los war. Zu verwirrt war er noch wegen des Handys. Also tat er, was sie von ihm verlangte und trank das Wasser mit einem Mal aus.
„Miriam, was ist denn los mit dir? Warum bist du so aggressiv?“

„Du hast wohl zu viele Kopfbälle in deiner Karriere geschossen und kannst nicht mehr denken, oder? Weißt du nicht, was heute ist? Wie kannst Du normal joggen gehen, frühstücken, duschen, an diesem Tag?“

 

Ihm wurde es schummrig. Merkwürdig. Er hatte doch gut gefrühstückt. „Was ist los, Miriam, was habe ich getan?“

 

„Was du getan hast? Frag lieber, was du nicht getan hast, du Arschloch!“ Miriam war außer sich. Sie stand auf, und lief hin und her.
In Hennings Kopf summte es, aber auf einmal, verstand er.

 

„Miriam, hast Du mir etwa das Handy gegeben?“

„OH, wow, doch nicht zu viele Kopfbälle geschossen, du Superhirn!“

Irgendwie fühlte er sich seltsam. Seine Muskeln wurden schwerer. Er verstand aber nicht, was mit ihm los war.

Er wollte gerade fragen, was sie mit Jule zu tun hatte, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Miriam war blond, mehr als hübsch, hatte eine tolle Figur. Er schaute sie an und auf einmal fiel ihm die Ähnlichkeit auf.

 

„Miriam, bist Du Jules Schwester?“

„Gott, wie schlau du bist! Voll ins Schwarze getroffen, Liebling“. Ihr Gesicht war vor Wut gerötet. Das Wort Liebling hatte sie ganz merkwürdig betont.

 

Henning verstand immer noch nicht. Er konnte auch nicht mehr klar denken. Ihm war so wirr im Kopf. „Miriam, wie soll es jetzt weitergehen. Weißt du erst seit Kurzem, wer ich bin?“

„Nein, Du Schlaumeier. Ich habe das alles geplant. Ich wollte wissen, was der Mann jetzt macht, der meine, von mir über alles geliebte Schwester und auch meinen ungeborenen Neffen oder Nichte getötet hat. Weißt Du, ich habe mir immer vorgestellt, dass Du todtraurig bist, weil sie tot ist. Und dann komme ich hierher. War übrigens gar nicht schwer dich zu finden, du Promi. Hast Du Dich mal gegoogelt? Du Liebling der Fußballwelt. Aalglatt. Immer nett zu den Fans, nie ausfällig geworden. Tolle Karriere und dann einen guten Job. Ich könnte so kotzen. Du Arschloch. Dir geht’s so gut und meine Schwester? Meine Schwester ist tot!“ Sie schrie jetzt. Hatte sich fast nicht mehr im Griff.
Henning saß immer noch auf dem Stuhl, er konnte sich kaum bewegen. Hatte Sie ihm was ins Wasser getan?

 

„Miriam, was war im Wasser?“ Henning flüsterte fast.

„So etwas wie Liquid Exctasy, mein Freund. Macht Dich etwas wirr in der Birne. Habe ich aus der Klinik mitgenommen.“ Weißt Du, Henning, das Schlimme ist, dass ich mich dann auch noch fast in Dich verliebt habe. Du warst so nett als wir uns kennenlernten. Überhaupt nicht eingebildet. Du bist wirklich so toll, wie es im Internet dargestellt wird. Ich habe mit mir gekämpft. Je mehr Zeit ich mit Dir verbrachte, desto netter fand ich dich. Aber Du hast mir alles genommen. Ich war 8 Jahre alt. Ich habe Jule geliebt. Sie war mein Vorbild. Du hast sie kaputt gemacht. Du hast sie getötet.

 

„Aber Miriam, ich habe sie immer wieder angerufen. Sie ist nie wirklich ans Telefon gegangen. Hatte immer Ausreden. Ich habe sie wirklich geliebt. Ich wollte, dass alles gut wird. Ich wäre sogar in Heidelberg geblieben und hätte das Kind mit ihr groß gezogen.“

„Hätte, hätte, Fahrradkette. Hast Du aber nicht!“ Sie schrie jetzt wieder. „Sie hat sich umgebracht! Weil Du nicht da warst, weil Du eine Neue hattest!“ Sie hat nur noch geweint, nach der Abtreibung. Du warst nicht da und dann machst Du auch noch mit ihr Schluss!“
„Miriam!“ er lallte jetzt etwas. „Ich habe nicht mit ihr Schluss gemacht. Ich war es nur leid, von ihr weggestoßen zu werden. Ich habe immer wieder angerufen und sie hat gleich aufgelegt, hatte Ausreden. Mit Line wollte ich sie aus der Reserve locken. Ich habe sie über alles geliebt!“

„Tja, das war dann wohl ein sogenanntes Eigentor! Hat nicht funktioniert.
„Miriam, bitte!“
„Komm steh auf!“ Sie zerrte ihn vom Stuhl hoch. „Ich will dir was zeigen!“

Gemeinsam gingen Sie zur bereits geöffneten Balkontür. Sie stieß ihn hinaus. Von dort aus hatten Sie einen guten Blick über die Felder und Wiesen. „Weißt Du, Jule hat den Herbst geliebt. Wenn die Bäume langsam anfingen bunt zu werden. Die Erntezeit. Äpfel. Es war ihre Lieblingsjahreszeit.“

Henning konnte sich schwer auf den Beinen halten. Sie schrie ihn wieder an. „Hee, Haltung bewahren, Du Superprofi“. Was ist mit Deiner Körperspannung! Zurück zu Jule! Heute ist ihr Todestag, sie kann das alles nicht mehr sehen, keine Kinder haben und Du gehst joggen, holst Brötchen. So, als wäre nichts! Du Arschloch. Gestern wollte ich noch alles abblasen. Dachte, Mist, er könnte doch der Mann meines Lebens sein! Aber nach heute morgen musst du einfach sterben. So wie Jule.“

Henning schluckte. Sie war ziemlich entschlossen. Jule war damals aus dem 13. Stock eines Hochhauses gesprungen und war sofort tot gewesen. Sein Körper war irgendwie Pudding. Sie schob ihn Richtung Brüstung. Als Henning realisierte, was gleich passieren würde, bemerkte er eine Bewegung auf dem Balkon unter ihnen. Er konnte die Nachbarin Frau Mayer erkennen. Sie versuchte ihm etwas mitzuteilen. In diesem Augenblick meinte er, Sirenen zu hören. Würden die Sirenen zu ihm kommen oder war es das Ende?

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