ThelmaSchleunungDer Lehrer

Markus Köchner wunderte sich, als er das fremde Smartphone in seinem Fach fand. Normalerweise lagen hier Unterrichtsmaterialien oder Informationsblätter aus, die er sich stets pünktlich vor seiner ersten Unterrichtsstunde abholte, doch noch nie wurde ihm ein Handy in sein Lehrerfach gelegt. Stirnrunzelnd betrachte er das kleine silberne Gerät und drehte es probehalber mehrmals in der Hand, ehr er auf den sehr klein wirkenden Display drückte. Sofort leuchtete dieses in einem kühlen blau auf und der Sperrbildschirm zeigte die kleine Regenpfütze, die bei jedem neugekauften Gerät dieser Marke, als Hintergrund gespeichert war.
Der Akkustand des Smartphones betrug volle 100%.
Verunsichert, was er nun mit dem kleinen Gerät anfangen sollte, verließ er das Lehrerzimmer und lief in das Sekretariat um sich dort über den Tresen zu lehnen. Eine, schon in die Jahre gekommene, sehr freundlich erscheinende blonde Frau mit einer schmalen Brille auf der länglichen Nase, saß hinter einem viel zu großem Schreibtisch und tippte mit viel Elan auf ihrer Computertastatur herum. “Guten Morgen Markus! Alles gut bei dir? Was brauchst du denn?“ fragte sie ohne vom Bildschirm aufzublicken. „Guten Morgen Annette. Ach, soweit alles wie immer. Emily hat heute Geburtstag, sie wird endlich acht. Sag mal, weisst du wer dieses Handy in mein Fach gelegt hat?“ Die Sekretärin löste für einen kurzem Moment den Blick vom Desktop und sah zu dem kleinen Mobilgerät in Markus ausgestreckter Hand.“Wie schnell doch die Zeit vergeht. Kaum hält man sie das erste Mal im Arm, schon sind sie plötzlich groß genug um alles allein zu machen und dann brauchen sie uns nicht mehr. Und das lag in deinem Fach, ja? Wie seltsam. Also ich wüsste jetzt nicht wer es dahin gelegt hat, aber vielleicht hat sich einfach jemand vertan und sein Handy aus Versehen in dein Fach gelegt.“
Während Annette auf der Tastatur tippte, plauderte sie in einem fröhlichen Ton weiter und erzählte Markus sämtliche Neuigkeiten aus ihrem Leben. Dieser musste über die Redseligkeit der Sekretärin schmunzeln und verabschiedete sich nach einiger Zeit höflich von ihr um pünktlich zu seiner ersten Unterrichtsstunde zu erscheinen.
Während er mit langen Schritten den Gang entlanglief, schob er sich das unbekannte Smartphone in die hintere Tasche seiner dunkelblauen Stoffhose und rief sich im Kopf den nun anstehenden Stoff für die zweite Klasse ab.
Als er mit einem freudigen Lächeln schwungvoll die Tür zu seinem Klassenraum öffnete, strahlten ihm bereits vierundzwanzig Kinder entgegen, die ihm mit fröhlicher Stimme melodisch ein „Guten Morgen, Herr Köchner“ entgegen riefen.
Nachdem Pausenläuten verliessen die Kinder wild durcheinander sprechend und lachend den Raum, während Markus sich in seinem Schreibtischstuhl zurücklehnte und seiner wilde Meute mit einem Grinsen hinterher sah. Mit als letztes verliess die schüchterne Penny Michaels den Raum. Ihre langen braunen Haare waren zu zwei ordentlichen Zöpfen gebunden und an ihrer viel zu großen Schulmappe baumelte ein Plüschpferdchen. Er kannte sie bereits seit sie ungefähr eine Stunde alt war, da er und seine Ehefrau Clarissa schon seit vielen Jahren mit Penny’s nun alleinerziehendem Vater Benjamin befreundet waren. Mit einem verunsicherten Blick betrachtete sie Markus, ehe sie schnell den anderen auf den Gang folgte.
Nun, von Neugier geweckt, zog Markus das Handy aus seiner Hosentasche und tippte auf das Display. All seine Kollegen nach dem Telefon zu befragen, schien ihm zu aufwändig, daher wollte er nach Anhaltspunkten suchen, die auf den Besitzer hinweisen könnten.
Als er mit dem Daumen auf dem Sperrbildschirm nach oben wischte, war Markus überrascht, dass es keinen Sperrcode gab und man sofort Zugriff auf den Homebildschirm hatte. Es war seltsam, dass man sein Handy einfach so ungeschützt liess. Jeder hatte schließlich Geheimnisse.
Genau wie der Sperrbildschirm, bot auch das Hintergrundbild des Homescreens, ein Wasserfall, nichts aufschlussreiches. Stirnrunzelnd suchte Markus nach etwas Persönlichem, doch außer dem typischen Kontaktbuch, der SMS-Funktion und den anderen Standard-Apps, gab es keine sonstigen Programme. Als er die Kontakte öffnete gab es keine einzige Nummer, die eingespeichert oder je angerufen worden war. So langsam kam ein ungutes Gefühl in Markus hoch. Dieses unbekannte Smartphone erschien ihm immer suspekter und er konnte sich einfach nicht erklären, was es damit auf sich hatte. Er schloss das Kontaktbuch und hoffte in der Galerie Hinweise und Erklärungen zu finden. So tippte er mit dem Daumen auf die Funktion und es öffneten sich ihm duzende Bilder vor seinen Augen. Zuerst war Markus bei dem Anblick der Bilder verwirrt, doch als er realisierte, was genau er sah, machte sich pures Entsetzen in ihm breit. Ohne nachzudenken drückte er den kleinen Knopf an der Seite des Handys und der Bildschirm wurde automatisch schwarz. Er hob den Blick vom Handy und starrte einige Sekunden in die Luft. Sein Herz raste wie verrückt und seine Organe schienen sich alle auszudehnen um sich dann wieder ruckartig zusammen zu ziehen. Mit einem dumpfen Klappern schmiss er das Gerät achtlos auf den Schreibtisch vor sich und fuhr sich mit beiden Händen durch sein angespanntes Gesicht.
Das konnte nicht wahr sein. Ein Traum vielleicht, oder eine Einbildung. Seine plötzlich so schweißnassen Hände wischte sich Markus an seinen Hosenbeinen ab und atmete noch einmal tief durch um wieder Kontrolle über seine Atmung zu bekommen, ehe er wieder nach dem Handy griff. Wieder entsperrte er es und er blickte in die noch geöffnete Galerie. Sein Herz schien stehen geblieben zu sein.
Nichts anderes als seine eigenen privaten Bilder zeigten sich. Jene, die nie jemand, außer er selbst zu sehen bekommen sollte. Nicht einmal seine Frau. Auf gar keinen Fall seine Frau.
Markus gab einen undefinierten Laut von sich. Jemand musste sich einen üblen Scherz mit ihm erlauben. Jene Sorte von Scherzen, die geschmacklos und böse waren. Wieder fuhr er sich mit einer Hand über sein leicht kratziges Kinn und rieb sich seinen verspannten
Kiefer.
Er wusste, dass er jetzt die Ruhe bewahren musste. Sich selber versuchte Markus einzureden, dass nichts schlimmes passiert sei. Er hatte nichts schlimmes getan und die Fotos zeigten nichts weiter als einen Ausrutscher. Einen harmlosen, kleinen Ausrutscher. Sowas konnte jedem mal passieren. Und zur Hölle nochmal, er war ein im Leben stehender Mann, der Bedürfnisse hatte. Niemand war perfekt.
Doch so sehr er auch versuchte sich das selber einzureden, es beruhigte weder sein stark pochendes Herz, noch den Schweißfilm, der sich über seine Stirn zog. Er hatte sich zu viel in seinem Leben aufgebaut, als das es jetzt durch einen einzigen Fehler zerstört werden sollte. Er war ein glücklichen Vater, Ehemann und Lehrer. Ja, er gehörte sogar zu den Wenigen, denen es vergönnt war ihren Job zu lieben. Er hatte viele Freunde und seine Kollegen mochten ihn. Markus mochte sein Leben und nichts daran wollte er ändern. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte und Herr seiner Sinne war, atmete er noch einmal tief durch und packte seine Sachen zusammen. Das silberne kleine Handy, dass in Sekunden zu einer tickenden Zeitbombe wurde, packte er behutsam in seine braune Lederasche, die er sich über die Schulter hing. Er hatte jetzt eine Freistunde und musste unbedingt mit der Person sprechen, die sein Geheimnis hätte verraten können. Nervös lief er durch den Schulgang, an einigen ihn grüßenden Schülern und Kollegen vorbei und eilte die große Treppe hinunter, die in das Foyer führte.
Dort tummelten sich bereits viele Grundschüler, die darauf warteten endlich auf den Pausenhof raus gehen zu können. Nun auf jeden Schritt bedacht ging er an der Masse vorbei und hielt aus dem Augenwinkel Ausschau nach einem Paar brauner Zöpfe.
Nach kurzem Suchen fand er sie endlich, in einer Gruppe von Mädchen stehend. Sie alle standen im Kreis und mit gesenkten Köpfen schauten sie alle auf ein glitzerndes Buch hinunter, dass mit kindlicher Schrift beschrieben worden war. Als die Mädchen mit der Schülermasse auf den Hof hinaus wollten, hielt Markus Penny zurück, die hinter dem Rücken von einem größeren Mädchen verschwinden wollte. Mit dem Vorwand, sie etwas bezüglich ihrer letzten Klassenarbeit fragen zu wollen, gingen sie gemeinsam in einen der Gemeinschaftsräume, die sich im Erdgeschoss, neben dem Foyer, befanden. Penny schlürfte langsam hinter Markus in den Raum. Dieser schloss hinter ihr die Tür und atmete tief durch, ehe er sich zu Penny umdrehte, welche mit zusammengefalteten Händen und hängenden Schultern vor einem großen Holztisch stand. Sie wagte es kaum ,in Markus Richtung zu sehen. Dieser wusste, dass er sehr behutsam mit dem kleinen Mädchen umgehen und die Ruhe bewahren musste. „Penny, weißt du noch, als du mir was versprochen hast?“ Das kleine Mädchen sah ihn nicht an, doch sie nickte vorsichtig. „Sehr schön. Weißt du auch noch, was genau du versprochen hast?“ Wieder ein zartes Nicken.
„Sag mir doch bitte, was du versprochen hast.“ Nach kurzer Stille antwortete das Mädchen mit leiser Stimme:
“Das ich nicht das Geheimnis sagen darf. Sie bekommen sonst ganz dolle Ärger und ihre Frau wird böse. Ich soll nicht sagen, was ich nicht verstehe.“
„Und du hast dich an dein Versprechen gehalten?“
Stille.
„Penny, du hast es doch niemanden gesagt oder?“ Markus Puls begann sich zu verdoppeln und seine Atmung wurde schwer. Er war kurz davor die Fassung zu verlieren. “Du musst jetzt die Wahrheit sagen? Hörst du!“
Penny nickte zaghaft und schielte in die Richtung der geschlossenen Tür. Wieder versuchte er es. „Hast du jemandem davon erzählt? Bitte, sag es mir. Ich bin auch nicht böse auf dich.“ Erwartungsvoll sah Markus das Mädchen an. Diese hob bloss die Schultern und zog ihren kleinen Kopf ein. “Nein hab ich nicht. Ehrlich.“
Verunsichert ob er ihr glauben sollte, erlaubte er Penny zu gehen und strich ihr im Vorbeigehen noch über dem Rücken, um sie zu wissen zu lassen, das alles in Ordnung war. Jedoch zuckte sie unter der Berührung zusammen und huschte schnell aus dem Raum. Markus seufzte verzweifelt auf. Es gab keinen anderen plausiblen Weg, wie diese Fotos auf das Smartphone und das Smartphone in sein Fach gekommen sein konnten.
Er war der Einzige, der Zugang zu diesen Bildern hatte und diese sollten eigentlich tief verborgen auf seinem privaten Rechner sein.
Ein seltsamer schriller Rington unterbrach Markus’ Gedanken. Verwirrt sah er sich um und suchte nach dem Ursprung des Geräuschs. Es musste ein Handy gewesen sein, doch seins hatte ganz andere Töne eingestellt. Es wird doch wohl nicht…
Rasch griff er nach seiner Ledertasche und kramte in der Seite nach dem silbernen Telefon. Tatsächliche blinkte auf dem Display die Benachrichtigung auf, dass eine SMS eingegangen war.
„Fuck“ flüsterte Markus, als er den Chat öffnete.
Anonym –
ERWISCHT! 😉
Die Zeit schien still zu stehen. Er drohte jede Sekunde in Ohnmacht zu fallen und sein Sichtfeld war, wie durch einen dichten Nebel, getrübt.
Das konnte einfach nicht wahr sein. Es war ungerecht, dass ausgerechnet ihm so etwas passierte!
Rasch tippte er eine Antwort, während ihm das Herz aus der Brust zu springen drohte.
015269997299 –
Wer sind Sie ?
Abwartend starrte er auf das Display und dachte über all die Folgen nach, die ihn möglicherweise erwarten konnten. Etwas Geld hatte er noch auf dem Bank zurücklegen lassen, falls Geld von ihm verlangt werden sollte. Doch unmöglich konnte er zur Polizei gehen. Ohnehin konnte man doch eh keine anonyme Nummer zurückverfolgen.
Wieder ertönte das Klingen und riss Markus aus seinen Gedanken.
ANONYM –
STANDORT zum Öffnen kurz antippen
Sekundenlang konnte er nur sprachlos auf das Mobilgerät gucken.
Das wird ein Treffpunkt sein, dachte sich Markus nur und bis nervös auf seiner Oberlippe herum. Fuck. Scheiße!
Er konnte nicht einschätzen mit was für Leuten er es zu tun hatte und was die mit ihm vorhatten. Er raufte sich die Haare, während er hektisch ein und aus atmete und über einen Ausweg nachdachte.

Er wollte nicht Katz und Maus spielen und sich von dem Anonymen unter Druck setzen lassen.
Noch während er die Vor- und Nachteile abwog, ob er der stummen Aufforderung Folge leisten sollte, traf eine neue Nachricht ein und Markus erschrak sich kurz über das plötzliche Summen des Smartphones.
ANONYM-
Geh dort hin oder die Bilder werden an Clarissa weitergeleitet. 🙂
Auf seine eigene Nachricht kam keine Antwort.

Ihm war nach weinen zu mute. Doch jetzt wo ihm eh keine Wahl blieb, wusste Markus was er als Nächstes tun musste.
Schnellen Schrittes eilte er Richtung Sekretariat. Annette sagte er, dass er sich nicht wohl fühle und nach Hause gehen würde. Die Sekretärin sah ihn nur mitleidig an und wünschte ihm eine gut Besserung, ehe er den Raum verließ um aus dem Lehrerzimmer seine Sachen zu holen. Niemand achtete sonderlich auf sein so sonderbares Verhalten und so konnte Markus ohne großes Aufsehen die Schule verlassen. Er wollte das Problem so schnell wie möglich aus der Welt schaffen. Auf keinen Fall wollte er riskieren, dass Clarissa oder Emily etwas mitbekamen und schon gar nicht heute, wo doch Emily’s achter Geburtstag gefeiert werden sollte.

Sicherheitshalber verließ er das Schulgrundstück und bewegte sich ein Stück weg, ehe er das Handy rausholte um zu sehen, zu welchem Ort man ihn befahl.
Mit zittrigen Fingern tippte er auf dem Handy herum und öffnete die Map. Mit stark wummernden Herzen und schwerem Atem beobachtete er die kleine digitale Stecknadel, die sich mehrmal hin und her bewegte und erst nach einigen Sekunden, als würde sie ihn bewusst hinhalten wollen, sicher stehen blieb. Stirnrunzelnd stellte Markus fest, dass das Ziel keine 2 Minuten von ihm entfernt lag und er nur um die Schule herum gehen musste um anzukommen. Er atmete schon fast erleichtert auf, da er befürchtet hatte auf irgendwelche abgelegenen Parkplätze oder in leerstehende Gebäude gehen zu müssen.
Hier konnte ihm zumindest nichts passieren, versuchte er sich selber einzureden.

Als Markus jedoch der Wegbeschreibung des Telefons folgte, sank ihm das Herz tief in die Hose, als er vor der Turnhalle der Grundschule stand. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie tief er in der Klemme steckte.
Nervös sah er sich um und hielt nach jemanden Ausschau, der ihn sehen oder gar beobachten könnte, doch die Strasse war leer und außer dem Lachen der Kinder vom Schulhof, war nichts weiter zu sehen oder zu hören.
Das beklemmende Gefühl, dass Markus die ganze Zeit quälte, wurde immer größer und schwerer und jeder Schritt den er in Richtung Turnhalle machte, fühlte sich an als würde er Betonklötze an den Füßen tragen.
Er wusste bereits wo genau er hin sollte.
Die schwere Glastür, war wie gewohnt abgeschlossen und Geräusche von quietschenden Schuhen auf Hallenboden und Kindergelächter hallten ihm entgegen. Erleichtert, dass er nicht allein zu sein schien, wischte Markus sich seine schweißnassen Hände an der Hose ab und lief durch den grauen Gang, an den Umkleidekabinen vorbei und bog hinter der riesigen Sporthalle in einen Nebenflur ab, der zu den Lagerräumen führte. Auf dem Gang traf er auf seinen Kollegen Ben Müller, der ihn fragend betrachtete.“Ich habe meine Schuhe letztens im Lagerraum liegen lassen.“ Erklärte Markus ihm so unbeschwert wie möglich.
Als er weiterging und die Halle hinter sich ließ, hörte er nichts weiter als das laute Echo seiner Schritte und seinen rasenden Puls. Endlich stand er vor dem Raum, der ihm diesen ganzen Ärger eingebrockt hatte und er machte sich darauf gefasst, dass auf der anderen Seite die anonyme Person bereits auf ihn warten würde.
Vorsichtig stemmte er sich gegen die Eisentür und öffnete diese langsam.
Bei dem Lauten Quietschen, das die Tür von sich gab, zuckte Markus zusammen und die Tür wäre beinah wieder zugefallen.
Zunächst steckte er nur seine Hand in den Raum um blind nach dem Lichtschalter zu tasten, von dem er genau wusste, wo ungefähr er an der Wand befestigt war. Als er endlich die Taste zu drücken bekam, sprang die grell leuchtende Neonröhre an und tauchte den Raum in ein dumpfes orangenes Licht, das ab und an flackerte.

Schnell registrierte Markus, dass niemand anderes in der kleinen Kammer zu sein schien, atmete erleichtert auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Um sicherzugehen, dass er keine weitere SMS verpasst hatte, zog er das Smartphone aus seiner Tasche. Doch zu Markus’ Verwunderung gab es keine neue SMS. Er hob wieder den Blick vom Handy und bemerkte erst dann die kleine graue Kiste, auf der mit einem Leuchtstift sein Name geschrieben worden war.
Misstrauisch näherte er sich dem Karton und stieß mit einem Arm gegen einen Wischmopp, der mitsamt Eimer klappernd umfiel. Fluchend schob Markus das Chaos beiseite und schnappte die Kiste, mit der er sich auf die Bank setzte. Gespannt öffnete er sie.
Als erstes griff er nach einem Foto, dass ganz oben lag. Jenes zeigte, zu Markus’ Entsetzen, ihn selbst, wie er auf einem Spielplatz mit Emily auf den Schaukeln saß und fröhlich lachte. Als er das Foto wendete, stand mit der selben Schrift wie auf dem Karton: So ein toller Papa!
Irgendjemand beobachtete ihn anscheinend schon etwas länger.

Ein kalter Schau lief ihm über den Rücken, als er daran dachte, dass man ihm und seiner Tochter gefolgt sein musste und sogar so nah gekommen war, dass man Fotos von ihnen machen konnte.
Markus wurde kotzübel und gleichzeitig kochte solch eine Wut in ihm hoch, darüber dass jemand sich tatsächlich dazu erdreistete und seine kleine Tochter mit hineinzog.
Mit fest zusammengepressten Zähnen zog er den nächsten Gegenstand aus dem Behältnis und hielt ein kleines, geflochtenes Armband mit Perlen in der Hand. Es gehörte Penny. Ihr Vater Benjamin, Markus guter Freund, hatte es ihr zur Einschulung geschenkt und angeblich sollte es Glück bringen und vor bösen Geistern schützen.
Bei dem Anblick stiegen Markus Tränen in die Augen und seine Finger verkrampften sich um das kleine Bändchen. Man spielte Spielchen mit ihm. Wollte ihn in die Enge treiben und Angst machen.
Doch, dass das Spiel bereits gespielt war, verstand Marcus erst, als er den letzten Gegenstand aus der Kiste zog.
In seiner Hand hielt Markus nun eine Unterhose. Jene aus Baumwolle, in zartem Blau, die ihn noch in seinen Träumen verfolgte.
Ruckartig sprang er auf und übergab sich in den Eimer, den er zuvor umgeworfen hatte.
Mit dem Ärmel seiner Strickjacke wischte er sich über den Mund und verzog das Gesicht, durch den bitteren Nachgeschmack seiner Galle.
Sobald er wieder sicher auf den Beinen stand, verließ er fluchtartig diesen gottverdammten Lagerraum und nahm die Kiste samt Inhalt mit.

Auf dem Weg nach draußen begegnete ihm niemand und so konnte er, wieder an der Halle voll mit den Kindern vorbei, ungehindert die Sporthalle verlassen und trat raus ins Freie, wo er als erstes die frische Luft einatmete.
Noch immer war keine neue SMS eingegangen und Markus war verunsichert, was er nun tun sollte. Einerseits wartete seine Frau auf ihn zuhause, die bestimmt schon allerhand mit den Partyvorbereitungen zu tun hatte und seine Tochter, die Nachmittags von der Schule kommen würde und eine riesige Überraschung erwartete.
Andererseits wusste er noch immer nicht wer an seine Fotos gekommen war und hinter dem ganzen steckte. Nur ungern wollte er dieses Problem mit nach Hause nehmen.
Nachdenklich starrte er auf das silberne Telefon und wartete auf eine Eingebung. So bemerkte er zunächst nicht das gelbe Taxi, dass langsam neben ihm herfuhr und die Scheibe zum Beifahrersitz herunterließ.
„Entschuldigen Sie! Sind sie Herr Köchner?“ Ein dicklicher Mann mit Glatze und einem grauen Schnauzer starrte durch das Fenster zu Markus fragend hinaus. Dieser war nicht allzu überrascht über die neue Seltsamkeit und nickte resignierte mit dem Kopf. Er war so müde und das Ganze so leid.
„Was wollen Sie von mir?“ Der alte Mann begann grunzend zu kichern und hob spöttisch eine Augenbraue. Noch immer fuhr er mit Auto im Schritttempo neben Markus her. „Jungchen, wenn ein Taxi neben Ihnen hält, sollten Sie wissen was zu tun ist. Sie haben mich doch bestellt.“
Genervt und gleichzeitig ängstlich stieg Markus in das nun stehende Auto, entschied sich aber für die Rückbank, statt für den vorderen Platz. Anscheinend war seine Tour noch nicht beendet.
Vorsichtshalber sah er die ganze Zeit aus dem Fenster und versuchte sich genau einzuprägen, wo sie entlang fuhren.
Er versuchte erst gar nicht den alten Mann auszufragen, da Markus bereits ahnte, dass der dicke Kerl, der gerade Britney Spears sang, keine Ahnung von dem hatte was hier vor sich ging.
Angespannt saß Markus da und betrachtete genau, was außerhalb des Autos so vor sich ging. Nie hätte er geahnt, dass er sich mal in so einer Situation befinden würde. Er dachte an Clarissa und Emily und was die beiden wohl geraten taten. Und an seinen Kater Sammy, der viel zu fett für seine Größe war. Auch an Penny musste er denken. An das, wo er hineingeraten war und an das, was nun alles passieren würde. Markus hatte bereits aufgegeben, auf eine SMS von der anonymen Nummer zu warten. Entweder war man fertig mit ihm oder jetzt sollte es erst beginnen.
Es hätten Stunden vergehen können oder nur wenige Sekunden, Markus war so in seine Gedanken verschwunden, dass er die Zeit aus dem Auge verloren hatte und erst wieder aus seiner Gedankenwelt aufwachte, als das Taxi in eine ihm sehr bekannte Straße fuhr.
„Aber hier wohne ich doch.“ Er war erstaunt über das Ziel seiner Fahrt, denn wieder hätte er nicht mit diesem Ausgang gerechnet.
Der dicke Mann drehte sich ächzend in seinem Sitz um und sah Markus an. „Du musst doch wissen, wohin du dich hast fahren lassen.“

Natürlich musste Markus die Fahrt selber bezahlen und verabschiedete sich beiläufig von dem Taxifahrer, während er in Gedanken schon längst wieder woanders war.
Ein ihm bekanntes und gleich so verhasstes Geräusch ertönte aus seiner Tasche und Markus griff eilig nach dem Handy.
ANONYM-
Eine Party ist doch nichts ohne Gäste.

Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals und er wagte es kaum richtig zu atmen, da er sonst vermutlich in Tränen ausbrechen würde.
Er wusste nichtmal, ob Clarissa die Bilder vielleicht schon längst gesehen hatte oder ob jemand bei ihr war, während man mit ihm Spielchen gespielt hatte.
Er betrat den Vorgarten mit dem blauen Zaun, der sich so von den anderen Zäunen in der perfekten Familienwohngegend abhob. Im Haus brannte von außen sichtbar nur ein Licht in der Küche, während sonst alles dunkel zu sein schien. Zögernd lief Markus auf die weisse Haustür zu und schloss diese auf. Der Kloß in seinem Hals wurde noch größer und fast wünschte sich Markus, daran zu ersticken. Nur ein paar Schuhe stand im Flur und eine einzige Jacke hing am Kleiderhaken, neben der Galerie aus lauter Familienfotos bestehend.
Gleich die erste Tür im Flur war jene zu dem Zimmer, indem Licht brannte und in der makellosen Küche saß eine dunkelhaarige Frau mit kleinen Fältchen um den Augen herum an einem breiten Esstisch. Anders als erwartet war Clarissa scheinbar nicht mit Partyvorbereitungen beschäftigt und auch sonst konnte Markus nichts ausmachen, was auf einen Kindergeburtstag hinwies.

So konnte er nur an eins denken- Sie wusste es.
Das spürte er, doch dennoch hatte er nicht den Mut es offen anzusprechen. „Hallo Liebes. Wo sind denn der Kuchen und die Dekoration?“ Es war viel zu still in diesem großen Raum und die Luft schien auf einmal sehr stickig und heiß.
Markus zupfte an seinem Kragen und versuchte sich so etwas Luft zu verschaffen. „Ich dachte die Gäste kommen schon um…““Benjamin hat mich vor ein paar Wochen angerufen. Penny soll es wohl seit längerem nicht mehr gut gehen. Sie benimmt sich seltsam.“ unterbrach Clarissa ihren Mann ohne diesen anzusehen. Ihr Rücken war durchgestreckt, ihre Hände gefaltet auf dem Tisch und ihr Blick starr auf die Tischplatte geheftet. Markus war kurz davor sich wieder zu übergeben und auf einmal überkamen ihn die Gefühle.
Er brach in bitterliche Tränen aus schluchzte leise vor sich hin, während seine Frau ihn noch immer nicht ansah. Sie wirkte wie ausgelaugt und leer. Markus hörte durch sein Schluchzen nur schwer ihre leise Stimme weitersprechen:“ Er hat wohl mit ihr gesprochen und sie hat sich erst nach Wochen getraut es ihm zu erzählen…“ Ihre Stimme brach und sie musste sichtbar ihre Tränen zurückhalten. „Ich wollte ihm nicht glauben. Habe ihm nicht geglaubt…“Markus schluchzte laut auf und wollte sie unterbrechen:“Clarissa bitte hör mir zu, es war ein Fehler und ich…“ Plötzlich schlug sie mit der geballten Faust auf den Tisch und sah ihn endlich an. “Ein Fehler, Markus? Du hast Fotos auf deinem Rechner wie du einem kleinen Mädchen, einem Mädchen, das deine Tochter sein könnte! Wie du diesem kleinen Mädchen die Hände auf den entblößtem Körper und zwischen ihre Beine legst!
Du hast dich an ihr vergangen!“ brüllte Clarissa während sie ihren Mann mit Ekel in den Augen ansah. Wie aus dem nichts hielt sie sich ruckartig die Hand vor dem Mund und rannte zu dem Waschbecken wo sie sich übergab. Markus wollte auf sie zu gehen, sie in den Arm nehmen und ihr erklären, dass es nicht so schlimm sei. Doch diese macht mit ruckartigen Handbewegungen, während sie noch immer würgte, deutlich, dass er nicht zu nah kommen sollte.
Als sie mit dem Würgen fertig war, wischte sie sich grob über dem Mund und wirkte wieder gefasster. Zu gefasst, für diese Situation
„Ich wollte dir mit dem Handy die Chance geben, dich zu stellen. Deine Fehler und Krankheit einzugestehen und zu handeln. Zum Wohl jedes einzelnen Kindes, in deinem Umfeld!
Markus konnte nicht glauben was er hört und begann noch hysterischer zu schluchzen. Er hatte seine Fassung endgültig verloren und sank auf dem Boden zusammen. Er hatte es doch nicht so gewollt. Durch den Tränenschleier sah er wie Clarissa die Schiebetür aufzog, die zum Wohnzimmer führte. Sie hatte keinen Blick mehr für ihn übrig.
Aus dem nichts tauchten hinter ihr mehrere Männer auf, einer von ihnen Markus’ Freund Benjamin. Pennys Vater.Die anderen schienen ebenfalls Väter einiger Schüler zu sein. Alle sahen ihn mit purem Hass an und kamen ihm immer näher, während Clarissa bloß die Schiebetür hinter sich zuzog und ihren Ehemann so mit den anderen allein ließ. Er brachte kein Wort heraus.
Sein einstiger Freund Benjamin zog hörbar die Spucke in seinem Rachen hoch und rotzte Markus mitten ins Gesicht.“Du ekliger Sohn einer Hure. Sie ist erst sieben!“
Markus lief etwas warmes und nassen die Hose hinunter während sich die anderen Männer ihm mit gefährlicher Ruhe näherten.

2 thoughts on “Der Lehrer

  1. Hallo,
    mutig von dir, dass du dich an dieses Thema gewagt hast. Bitte schreibe weiter, du hast bestimmt noch viele Ideen 😊.
    Vielleicht hast du auch mal Zeit und Lust meine Kurzgeschichte “Die Staatsanwältin” zu lesen.
    Viele liebe Grüße, Sandra

  2. Hey, gute Geschichte! 👏 Ein schweres Thema, dass Du gut gemeistert hast. Ich habe zwar sehr sehr früh vermutet, dass der Lehrer in Deiner Geschichte pädophil ist, ich fand sie allerdings trotzdem spannend, weil man es sehr lange nicht sicher wusste und es ja doch etwas anderes hätte sein können.
    Auf jeden Fall gut geschrieben und ein überraschendes Ende. 👏👋 hab ein ♥️ da gelassen.

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

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