AlenaDie Täuschung

Mit der freien Hand strich sie sich ihr feuchtes Haar aus der Stirn. Eine klebrige, warme Substanz benetzte ihre Finger. Der Schlag auf ihren Kopf war so hart gewesen, dass sie noch immer leicht verschwommen sah.

Sie schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Es hatte schon viele Situationen in ihrem Leben gegeben, die sie gelehrt hatten, dass es immer besser war, sich nicht von seiner Panik beherrschen zu lassen. Doch ihr Mund war inzwischen so trocken, dass sie kaum noch schlucken konnte, und es fiel ihr zunehmend schwerer, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Wie von selbst drifteten ihre Gedanken in die Vergangenheit.

All die unbeschwerten Sommertage. Das frühmorgendliche Schwimmen im See. Das Versteckspiel im Garten. Damals, als ihre Welt noch heil und sie beide noch eins gewesen waren.

Sie schüttelte den Kopf, wie um ihre Erinnerungen zu vertreiben, und unternahm einen letzten Versuch.

Ein Stöhnen drang aus ihrer Kehle, als die Handschelle sich in ihr Fleisch bohrte. Mit einem Ruck riss sie ihren Oberkörper nach vorne. Der Schrei, den sie ausstieß, als ihr Oberarmkopf aus ihrer Gelenkpfanne sprang, wurde durch den Knebel in ihrem Mund erstickt. Sie zwang sich, ruhig durch die Nase einzuatmen, und streckte ihren Fuß aus. Nur noch ein paar Zentimeter. Sie rutschte noch ein Stück nach vorne. Die sich erneut aufbäumende Woge des Schmerzes wurde von Übelkeit begleitet. Trotzdem schob sie ihr Bein noch ein bisschen weiter von sich weg, spannte jeden Muskel an, krümmte ihren Fuß und spürte endlich einen Widerstand an ihrem großen Zeh. Aber so sehr sie sich auch bemühte, es reichte einfach nicht, um das Glas zu zerschmettern.

Erschöpft sackte sie auf dem Boden zusammen. Sie wusste, dass es sich nur noch um Minuten handeln konnte, ehe ihr Kreislauf kollabierte. Doch die letzte Frage, die ihr durch den Kopf ging, war nicht, wie lange sie noch durchhalten konnte.

Die letzte Frage, die sie sich stellte, war, wie sie sich nur so sehr hatte täuschen können.

Zwei Stunden vorher

Frieda?“ Ein ungeduldiges Klopfen gab ihr zu verstehen, dass sie sich beeilen sollte.

Seufzend stieg sie aus der Dusche, rubbelte sich weitestgehend trocken und ließ das Handtuch dann achtlos auf den Boden fallen. Paul hasste diese Angewohnheit; generell war er, im Gegensatz zu ihr, was den Haushalt anging, äußerst pingelig.

Nachdem sie ihre Haare zu einem lockeren Dutt zusammengebunden hatte, schnappte sie sich ihren Morgenmantel und öffnete die Tür.

Das Gesicht ihres Mannes war vor Kälte und Anstrengung gerötet, seine Stirn glänzte noch vom Schweiß. Und trotzdem, dachte sie sich, sieht er immer noch so gut aus wie vor fünf Jahren, als ich ihn im Yachtclub kennengelernt habe. Früher waren sie an Sonntagen wie diesem immer gemeinsam mit dem Boot rausgefahren und hatten den ganzen Tag für sich alleine gehabt. Heute taten sie das nicht mehr. Und seit ihr Mann an seinem neuen Fall arbeitete, hatte er sowieso kaum noch Zeit für sie.

Doch als seine Augen in diesem Moment über ihren Körper wanderten, vergaß sie all das. Langsam ließ sie ihren Morgenmantel zu Boden gleiten, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog ihn ganz dicht an sich heran.

Nach einer zweiten, dieses Mal sehr ausgiebigen Dusche gab sie Paul einen flüchtigen Kuss auf die Wange und machte sich dann auf den Weg in die Küche. Den neusten Song von Milky Chance vor sich hinsummend, zog sie ihren Morgenmantel zu, machte sich einen Latte Macchiato und steuerte schließlich, eine halbe Stunde später als geplant, ihren Schreibtisch an. Während alle Welt davon überzeugt war, dass Lehrer unter der Woche um dreizehn Uhr Feierabend hatten und am Wochenende sowieso nie arbeiten mussten, war sie der lebende Gegenbeweis. Sogar sonntagvormittags saß Frieda häufig am Schreibtisch, korrigierte Arbeiten, erstellte ein dreifach differenziertes Arbeitsblatt oder plante einfach nur die neue Schulwoche.

Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Kaffee und startete ihren Laptop.

Schon wieder am Arbeiten?“

Die Stimme ihres Mannes ließ sie zusammenfahren. „Warum schleichst du dich so an?“

Paul lachte und streckte sich im Türrahmen. „Tu ich doch gar nicht. Du warst vermutlich nur wieder in deinen Gedanken versunken.

Sie verdrehte die Augen und wandte sich dann wieder ihrem Laptop zu, um ihr Passwort einzugeben. Die Buchstabenfolge wurde mit einem schrillen Piepton quittiert. Sie seufzte und versuchte es noch einmal von vorn. Und wieder wollte der Laptop ihr Passwort nicht akzeptieren. „Mist“, murmelte sie.

Stimmt was nicht?“ Paul trat hinter sie und spähte auf den Bildschirm. „Sag bloß, du hast dein Passwort vergessen?! Wie oft benutzt du dieses Ding?“

Jeden Tag. Ihre Schläfen begannen unangenehm zu pochen. „Ich war heute Morgen vermutlich ein bisschen zu lange in der Sauna“, gab sie mit einem Lachen zurück, das selbst in ihren eigenen Ohren gezwungen klang.

Paul stieß ein leises Schnauben aus. „Du bist in letzter Zeit völlig neben der Spur. Vielleicht solltest du weniger arbeiten.

Es ärgerte sie, das ausgerechnet aus seinem Mund zu hören. Aber sie musste sich selbst eingestehen, dass ihr so etwas in letzter Zeit immer öfter passierte. „Wie wär‘s, wenn ich mich erst einmal anziehe und wir dann mal wieder gemeinsam richtig schön frühstücken?“, lenkte sie ein, während sie sich die pochenden Schläfen massierte.

Paul knuffte sie spielerisch in die Seite. „Lass mich raten, während du dich fertig machst, darf ich schon mal den Tisch decken?“

Kurz nachdem er den Raum verlassen hatte und nach zwei weiteren erfolglosen Versuchen, machte sie sich auf den Weg nach nebenan ins Schlafzimmer. Mit dem Fuß öffnete sie die Schublade ihrer Kommode, während sie das Fenster kippte, um die kühle Herbstluft reinzulassen. Ein satter, würziger Duft strömte in ihre Nase und brachte ihr in Erinnerung, wie sehr sie diese Jahreszeit liebte. Sowohl die leuchtenden Farben als auch die Dunkelheit, die in ihr immer ein Gefühl der Behaglichkeit hervorrief.

Friedas Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ihre Finger in der Wäscheschublade auf etwas Hartes trafen. Sie runzelte die Stirn, griff nach dem Fremdkörper und zog im selben Augenblick scharf die Luft ein. Ein Smartphone? Was, verdammt noch mal, hat ein fremdes Smartphone zwischen meiner Unterwäsche verloren? Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie zwang sich – wie sie es in solchen Situationen immer tat – für einen Moment die Augen zu schließen und ruhig durchzuatmen.

Heute war einfach nur ein seltsamer Tag, sowohl für die Sache mit ihrem Laptop als auch hierfür gab es vermutlich eine ganz simple Erklärung. Sie drückte auf den Home-Button und der Bildschirm des Smartphones aktivierte sich. Na bitte, immerhin war das Gerät nicht passwortgeschützt und sie konnte ganz einfach nachsehen, wer der Besitzer war. Sie öffnete die Galerie und wählte das neueste Bild aus.

Ihr Atem stockte.

Sollte das ein schlechter Scherz sein?

Ihre Gedanken rasten, sprangen zwischen dem Moment, der erst wenige Tage zurücklag, und der Gegenwart hin und her.

Auf der Nahaufnahme blickte ihr leicht verwackelt, aber dennoch deutlich erkennbar ihr eigenes Gesicht entgegen. Sie hielt ein Pausenbrot in der Hand und sprach gerade mit zwei Viertklässlern, die sich um einen Ball gestritten hatten. Frieda schluckte und wischte mit zitterndem Finger zum nächsten Bild weiter. Es zeigte sie beim Einkaufen. Sie wischte weiter. Ihre beste Freundin und sie im Café um die Ecke. Weiter. Sie, wie sie den Garten winterfest machte. Eine Kollegin und sie bei ihrem Lieblingsitaliener. Sie am Schreibtisch beim Arbeiten. Ihre Brust wurde so eng, dass sie kaum noch atmen konnte. Die Momentaufnahmen aus ihrem Alltag schienen kein Ende zu nehmen und als sie dann doch endlich beim letzten Bild ankam, drang ein ungläubiges Keuchen aus ihrer Kehle. Das letzte oder besser gesagt das erste Bild war im Frühling aufgenommen geworden – was über ein halbes Jahr zurücklag.

Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Aber nein, das war nicht möglich. Auf keinen Fall. So schnell der Gedanke gekommen war, so schnell schaffte sie es, ihn erfolgreich aus ihrem Bewusstsein zu verbannen. Diese Kunst hatte sie in den letzten Jahren perfektioniert.

Sie wandte ihren Blick wieder dem Bildschirm zu, schloss die Fotogalerie und begab sich auf die Suche nach sozialen Netzwerken. Instagram, Facebook; irgendwas, das ihr einen Anhaltspunkt gab, um wessen Handy es sich hierbei handelte. Doch wie sie bereits geahnt hatte, war weder die eine noch die andere App installiert. Stattdessen entdeckte sie aber eine kleine Eins über dem Briefsymbol, die sie zuvor übersehen hatte. Mit wild pochendem Herzen öffnete sie die Nachricht und machte sich auf alles gefasst.

Doch damit hatte sie nicht gerechnet.

Es waren nur vier Worte. Vier Worte, die ihre Welt augenblicklich aus den Angeln hoben.

Sie presste ihre Faust auf ihren Mund, konnte das Wimmern, das aus ihrer Kehle drang, aber trotzdem nicht unterdrücken. Die Nachricht enthielt weder Absender noch Adressat und doch wusste sie eines mit absoluter Sicherheit: Diese Botschaft war für sie bestimmt.

DU SOLLST NICHT TÖTEN.

Die Worte verschwammen vor ihren Augen, als ihr dunkelstes Geheimnis wie ein Kartenhaus über ihr zusammenbrach.

Es war nun schon bald zwei Jahre her. Sie und Paul waren so glücklich gewesen. Und genau das hatte sie nachlässig werden lassen. Und auch wenn ihr das keiner zum Vorwurf machen würde – immerhin war es der Tag ihrer Hochzeit gewesen – wusste Frieda doch, dass sie es besser hätte wissen müssen.

Paul und sie hatten sich entschieden, ihre Hochzeitsnacht auf einer Segelyacht zu verbringen, schließlich hatten sie sich durch dieses gemeinsame Hobby kennengelernt. Damals hatte sie das unheimlich romantisch gefunden, heute jagte ihr der bloße Gedanke daran einen Schauer über den Rücken.

Nicht aufgrund dessen, was dort zwischen Paul und ihr passiert war, nein, daran würde sie sich gerne zurückerinnern. Aber auch diese Erinnerung verbot sie sich, zog sie den Gedanken an das, was darauf folgte, doch unweigerlich mit sich.

Paul hatte schon geschlafen, als sie ein Poltern auf dem Deck vernommen hatte. Im Nachhinein wusste sie, wie dumm es gewesen war, leise in ihr Nachthemd zu schlüpfen und sich alleine nach oben zu schleichen. Aber damals war sie so berauscht vor Glück gewesen, dass es ihr gar nicht in den Sinn kam, eine Gefahr zu vermuten.

Und selbst als sie auf dem Deck stand und ihrem eigenen Spiegelbild in die Augen blickte, konnte sie im ersten Moment nicht begreifen, wen sie dort sah.

Na, hast du mich vermisst?“

In diesem Moment hatten sie ähnliche Gefühle wie jetzt übermannt. Ungläubigkeit. Verwirrung. Und auch ein bisschen Furcht. Aber vor allem eines: Wut. Unbändige, rasende Wut, wie sie sie noch nie zuvor verspürt hatte.

Was machst du hier?“, zischte Frieda, während sie einen Schritt nach vorne trat und die Frau, die zwar immer noch das gleiche Gesicht wie sie hatte, ihr ansonsten aber völlig fremd geworden war, an den Schultern packte.

Hey, kein Grund, gleich so grob zu werden. Ich wollte dir nur zu deiner Hochzeit gratulieren, das wird deiner Schwester ja wohl noch gestattet sein. Wo du mich ja noch nicht einmal zur Feier eingeladen hast.“

Frieda bohrte ihre Fingernägel noch tiefer in die Schultern ihrer Schwester. „Warum musst du immer alles kaputt machen?“ Sie hasste sich in diesem Moment für den weinerlichen Unterton in ihrer Stimme.

Ich mache alles kaputt? Du hast mich doch einfach verlassen! Was meinst du, wie das für mich war?“

Frieda schüttelte den Kopf. Einfach? Mathilda hatte ihr das Leben zur Hölle gemacht. Schon in der Grundschule hatte es begonnen. Immer wieder hatte sie Frieda dazu überredet, ihre Plätze zu tauschen. Anfangs fand sie es noch lustig, wenn sie die anderen Kinder aus dem Heim veräppelten oder gemeinsam die Erzieherinnen austricksten, aber irgendwann reichte es ihr. Vor allem, als Mathilda begann diese Spielchen auch mit ihr zu spielen. Nicht nur einmal schlüpfte sie heimlich in Friedas Rolle und behauptete, wenn Frieda sie darauf ansprach, sogar standhaft, dass es umgekehrt wäre. Dass ihre Schwester ihren Platz eingenommen hätte und sie doch in Wahrheit Frieda wäre. Am gruseligsten aber war, dass Frieda manchmal das Gefühl hatte, dass Mathilda das wirklich glaubte. Und wenn nicht, dann war sie zumindest die überzeugendste Lügnerin, die ihr je begegnet war.

Je älter sie wurden, umso schlimmer wurde es. Während Frieda sich längst im Heim eingelebt hatte, wurde das Verhalten ihrer Schwester immer extremer. Mathilda wurde zu Friedas Schatten. Akzeptierte es nicht, wenn sie eigene Freundschaften schloss. Bestrafte sie sogar dafür, indem sie ihr tote Ratten ins Bett oder in ihren Kleiderschrank legte. Sabotierte ihre Beziehungen. Und folgte ihr selbst auf die Universität, obwohl sie doch viel zu ungeduldig und impulsiv für den Lehrberuf war.

Es klang vielleicht brutal, aber nachdem sie Paul getroffen hatte, hatte Frieda keinen anderen Ausweg gesehen, als ihre Zwillingsschwester ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Sie hatte ihm alles erzählt und anstatt Reißaus zu nehmen, war er, obwohl sie sich damals erst ein halbes Jahr gekannt hatten, dazu bereit gewesen, gemeinsam mit ihr ein neues Leben zu beginnen.

Doch jetzt hatte Mathilda sie gefunden. Sie war hier. In ihrer Hochzeitsnacht. Und wenn Frieda in diesem Moment eines mit Sicherheit wusste, dann dass Mathilda auch dieses Mal ihr Leben zerstören würde.

Na komm schon, hast du mich denn gar nicht vermisst?“

Friedas Wut steigerte sich noch weiter. „Ich habe dich keine Sekunde vermisst.“ Und dann geschah es. Sie konnte es noch heute wie in Zeitlupe vor sich sehen. Ihre Hände, die ihre Schwester von sich wegstießen. Der überraschte Ausdruck in Mathildas Augen. Das Straucheln, als sie rückwärts fiel und mit dem Hinterkopf gegen den Mast der Positionslaterne knallte. Ihr Körper, der nach hinten kippte und mit dem Kopf voran über Bord ging.

Mathilda war in dieser Nacht durch Friedas Hand gestorben. Anfangs hatte sie sich eingeredet, dass es ein Unfall war und sie nichts dafür konnte, schließlich war es Mathilda gewesen, die mitten in der Nacht auf ihr Boot gekommen war. Doch insgeheim hatte sie schon immer gewusst, dass sie sehr wohl schuldig war. Immerhin hatte sie keinen Versuch unternommen, Mathilda aus dem Wasser zu retten. Stattdessen war sie nur reglos am Bug stehen geblieben und hatte mit klingelnden Ohren auf die schwarzen Wellen gestarrt.

Was ist denn los mit dir?“

Die Stimme ihres Mannes riss sie abrupt in die Realität zurück. Nur mit Mühe gelang es ihr, einen Aufschrei zu unterdrücken. „Paul, verdammt!“

Er hob die Hände. „Hey, entspann dich mal. Ich wollte dich nur fragen, ob du ein Frühstückei möchtest.“ Er senkte den Blick auf ihren Schoß. „Wessen Handy ist das?“

Das Handy. Sie hatte es fast vergessen. Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da hielt sie inne. Sie konnte ihm nichts von dem Handy erzählen, denn dann musste sie ihm unweigerlich auch von dem ganzen Rest erzählen. Davon, was sie getan hatte. Wozu seine Frau fähig war. Sie hatte sich damals eingeredet, dass sie es ihm nur deshalb nicht sagte, weil es ihn als Polizisten in eine moralische Zwickmühle bringen würde. Dabei hatte sie viel größere Angst davor, dass ihr Mann sie dann nie wieder so ansehen würde, wie er es auch nach fünf Jahren noch jeden Morgen nach dem Aufwachen tat.

Das Handy … Ach, das gehört Simone. Muss ich in der Schule versehentlich eingesteckt haben.“ Es kostete sie alle Kraft, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.Ein Ei wäre toll“, fügte sie dann noch hinzu.

Paul kniff die Augen kurz zusammen und verschwand dann wortlos aus der Tür.

Verdammt. Verdammt. Verdammt.

Was war hier los? Wer hatte ihr diese Nachricht geschrieben und seit einem halben Jahr unbemerkt all die Bilder von ihr aufgenommen? Und vor allem: Woher wusste diese Person, was sie getan hatte?

Seit dieser Nacht waren schon fast zwei Jahre vergangen. Es war eine mondlose, nur vom schwachen Schein der Sterne erleuchtete Nacht gewesen; nahezu unmöglich, dass sie jemand vom Ufer aus gesehen hatte.

Okay, sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Sie war in ihrem Haus, Paul war bei ihr, sie war hier sicher. Aber das Handy kam nicht von alleine hier rein. Irgendjemand hatte sich Zutritt zu ihrem Zuhause verschafft, hatte das Handy in ihrer Kommode deponiert und … Was, wenn das nicht alles gewesen war?

Wie ferngesteuert zog sie sich endlich an und machte sich dann auf die Suche nach weiteren Botschaften. Zog eine Schublade nach der nächsten auf, öffnete Schranktüren, sah unter ihrem Bett nach, in dem Buch, das auf ihrem Nachttisch lag, sogar den Teppich hob sie hoch. Als sie im Schlafzimmer nichts fand, setzte sie ihre fiebrige Suche im Wohnzimmer fort.

Schatz?“

Pauls Stimme klang weit entfernt.

Suchst du die?“

Frieda riss den Kopf zur Seite und blickte in das lächelnde Gesicht ihres Mannes.

Deine Brille?“, fragte er, wobei sein Lächeln ein wenig verrutschte.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich suche nur mein Smartphone, damit ich Simone zu Hause anrufen kann.“

Ich glaube, das habe ich vorhin auf deinem Schreibtisch gesehen“, erwiderte Paul.

Okay, dann werde ich da mal nachsehen.“ Obwohl sie mit ihrer Suche im Wohnzimmer noch nicht fertig war, machte sie sich auf den Weg ins Arbeitszimmer. Ihr Mann musste sie für völlig durchgeknallt halten.

Sie atmete tief durch und nahm sich zuerst ihren Laptop vor, doch auch darunter war nichts zu finden. Dann nahm sie ihren Bücherturm auseinander, der sich mittlerweile so hoch stapelte, dass er schon schwankte, wenn sie nur leicht gegen den Schreibtisch stieß. In diesem Moment wünschte sie sich zum ersten Mal, dass sie auf Paul gehört und etwas mehr Ordnung gehalten hätte. Dann wäre diese Suche vielleicht nicht ganz so mühsam gewesen.

Als sie gerade ihr Deutschbuch durchblätterte, hielt sie verwundert inne. Da. Sie hörte es wieder. Es klang wie ein leises Schaben und kam eindeutig aus ihrem Schreibtischschränkchen. Ohne groß zu überlegen, öffnete sie die Tür und konnte den Anblick, der sich ihr bot, gar nicht so schnell verarbeiten, als sie auch schon etwas über ihren Fuß huschen spürte. Dieses Mal konnte sie ihren Schrei nicht zurückhalten. Bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte, was jetzt zu tun war, stand sie bereits auf ihrem Schreibtischstuhl.

Die Zimmertür flog krachend gegen die Wand. Paul starrte sie mit großen Augen an. „Was ist passiert?“

Eine Ratte“, stieß sie atemlos aus. „Die war in meinem Schreibtisch.“

Wo ist sie denn?“

Sie sah sich panisch um. „Keine Ahnung, ich konnte nicht sehen, wo sie hingerannt ist.“

Okay, bleib ruhig. Ich gehe in den Keller und hole den Kescher. Du bleibst einfach hier oben stehen, dann kann dir das Tier nichts tun.“

Sie nickte stumm, war aber nicht wirklich überzeugt davon. Paul warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu und verschwand dann in den Flur. Es dauerte vielleicht zwanzig Sekunden, bis ihr von Panik vernebeltes Gehirn wieder einsetzte.

Und dann wurde Frieda ihr Fehler schlagartig bewusst. Die Falle, vor der sie schon den ganzen Morgen herumgeschlichen war, hatte zugeschnappt.

Ohne noch weiter auf die Ratte zu achten, sprang sie vom Tisch und hechtete Paul hinterher. „Paul“, sie brüllte seinen Namen wie von Sinnen.

Bleib oben, ich bin gleich wieder da“, kam es von der Kellertreppe.

Nein, warte! Bleib stehen!“ Sie rannte, als ginge es um ihr Leben – was vermutlich auch der Fall war. Auf der letzten Stufe der Kellertreppe holte sie ihn ein. Sie umklammerte seinen Oberarm und zog ihn mit aller Kraft zurück.

Paul sah sie entgeistert an. „Sag mal, spinnst du jetzt total?“

Doch noch bevor sie etwas darauf erwidern konnte, sah sie es. Und dann sah Paul es auch. Das merkte sie daran, wie sein Körper sich schlagartig versteifte. Er stieß sie grob zur Seite und hechtete in Richtung der Sauna los.

Nur wenige Sekunden später hatte er die von außen verbarrikadierte Tür geöffnet und sank vor der gefesselten Frau auf die Knie. Frieda! Schatz, hörst du mich?“

Zwei Wochen später

Mathilda starrte aus dem kleinen Fenster auf die kahle Eiche, deren sturmgepeitschte Äste einen wilden Tanz vollführten.

Der Ausblick aus dem Zimmer der psychiatrischen Anstalt würde von Besuchern vermutlich als beruhigend und friedlich empfunden werden. Mit dem Wissen für die nächsten Jahre oder sogar Jahrzehnte diesen Baum sehen zu müssen, war der Ausblick aber einfach nur deprimierend.

Wie?“, fragte ihre Schwester mit tonloser Stimme hinter ihr.

Es war im Grunde so einfach gewesen, aber gerade in der Einfachheit lag doch meistens die Genialität. Wobei ihr Weg bis dahin zugegebenermaßen alles andere als einfach gewesen war. Immerhin hatte Mathilda unzählige Klinikaufenthalte über sich ergehen lassen müssen, bis sie sich überhaupt wieder an ihren Namen, geschweige denn an ihre gesamte Vergangenheit hatte erinnern können.

Der Rest war dagegen fast ein Kinderspiel gewesen. Sie hatte sich Zeit gelassen, Frieda und Paul erst einmal gründlich studiert, bevor sie vor ein paar Wochen probeweise immer mal wieder in ihre neue Rolle geschlüpft war und für ein bisschen Chaos im Leben ihrer Schwester gesorgt hatte. Und auch, wenn sie kurz ernsthaft an sich gezweifelt hatte, so hatte sie sich am Ende doch nicht in Frieda getäuscht. Ihr Verhalten war – bis auf die kleine Verzögerung – genauso vorhersehbar gewesen, wie sie es angenommen hatte. Vom sonntäglichen Gang in die Sauna bis zu der noch immer existenten Panik vor Ratten. Aber das konnte Frieda sich inzwischen vermutlich auch so denken. Es war eine andere Antwort, nach der sie verlangte.

Ein Schraubenzieher war alles, was ich brauchte. Schon einen Tag vorher hatte ich unter der Sitzbank die Schrauben einiger Holzlatten gelockert. Nachdem du an diesem Morgen die Sauna verlassen hattest, musste ich die Schrauben nur noch lösen, einige der Bretter herausnehmen, von außen die Tür verbarrikadieren, durch das Loch in die Sauna hineinschlüpfen und die Bretter von innen wieder festschrauben. Einfach aber genial – bis auf den Schraubenzieher, den ich im Lampenschirm versteckt hatte. Das einzige Indiz, das mich verraten konnte.“

Mathilda biss sich auf die Unterlippe und blickte für einige Sekunden in das blasse Gesicht ihrer Zwillingsschwester. „Hat es aber nicht“, fügte sie dann hinzu, bevor sie die Psychiatrie verließ und gemeinsam mit Paul in ihr neues Zuhause fuhr.

ENDE

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