HelenDas Familiengeschäft

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„Was zum Teufel?“ Gerhard Lehmann starrt auf das eingeworfene Schaufenster seines Bekleidungsgeschäfts. Mit der Spitze seines rahmengenähten Captoe Oxford Schuhs schiebt er das gesplitterte Sicherheitsglas zu einem Haufen zusammen. Direkt daneben fehlt ein kleiner Pflasterstein. Losgelöst durch die darunterliegenden Ameisenlöcher waren die Steine eine offene Einladung an jugendlichen Vandalen oder arme Schlucker die ebenfalls einen hochwertigen Anzug ihr Eigen nennen wollten.

Gerhard Lehmann fühlt wie sich sein Magen zusammenzieht. Irgendetwas war anders. Sein Blick wandert von der großen eingeworfenen Schaufensterscheibe über die Außenfassade zum Eingangsbereich. Quer über der Glastür war ein Graffiti geschmiert worden. Zwei sich überlagernde, schwarz umrandete gelbe Dreiecke. Gerhard erkannte den sechszackigen Stern sofort. Sein Herzschlag verdoppelte sich, die blutdrucksenkenden Medikamente hatten keine Chance den aufsteigenden Zorn einzudämmen. Er setzt seinen in die Jahre gekommenen Körper in Bewegung. In einem Zug schließt er die Eingangstür auf, greift sich einen der teuren Stoffe und hängt die Tür damit ab. Zurück im Geschäft fällt sein Blick auf die Ablagefläche des Verkaufstresens. Darauf liegt eines dieser neumodischen Mobilgeräte ohne Tasten. Verärgert über den unaufgeräumten Arbeitsplatz, nimmt er das Gerät zur Seite. Durch die Bewegung aktiviert sich die Beleuchtung und das Hintergrundbild wird sichtbar. Gerhards Blick bleibt an dem Foto kleben. Sein Ladengeschäft erkennt er sofort. Der Firmenname über der abgelichteten Markise lässt ihn stocken. Goldstein. Sein Erinnerungszentrum springt an und versucht die Einzelheiten des Bildes einzuordnen. Er erkennt sich als etwa dreijährigen Jungen. Die kurzen Caprihosen werden von Hosenträgern in Position gehalten. Auf der Schulter ruht die Hand einer dunkelhaarigen Frau. Neben ihr, den Arm um sie gelegt, steht ein ihm ebenso unbekannter Mann und lächelt stolz in die Kamera. Ein Familienfoto – dachte er für einen Moment. Seine Mutter allerdings war blond und hochgewachsen, genau wie sein Vater. Gerhard lässt sich auf einen der Besucherstühle fallen und verharrt in einen Moment in dieser Position. Dann greift er zum gegenüberliegenden Geschäftstelefon und wählt die Nummer seines Bruders.

„Lehmann.“, antwortet dieser.

„Wilhelm, ich bin es. Du musst dich sofort auf den Weg machen.“

„Gerhard, wenn es schon wieder um irgendwelche nicht deutschen Kunden in deinem Laden geht, schmeiß sie doch einfach raus. Du weißt, ich habe eigene Aufträge zu erledigen.“ antwortet Wilhelm.

„Jemand hat mir einen verdammten Judenstern an die Tür geschmiert und mir eine Nachricht hinterlassen, die es so aussehen lässt, als hätte ich etwas mit diesen Untermenschen zu tun.“ Gerhards Stimme wird fester und lässt keinen Widerspruch zu. „Du kommst auf der Stelle her, deine laufenden Aufträge sind hiermit abgesagt.“

Als Wilhelm vor dem Familiengeschäft eintrifft sieht er, durch die eingeworfene Schaufensterscheibe, seinen Bruder in gewohnter Manier. Er ist dabei Aufträge an seine Angestellten und Handlanger zu delegieren.

„Der Chef ist drin.“ erwähnt einer dieser Angestellten, der gerade dabei ist die letzten Reste der Schmiererei von der Tür zu waschen. Wilhelm bemerkt die Anspannung in seinem Gesicht. Das heißt, Gerhard hat wieder einen seiner Wutausbrüche. Er betritt das Geschäft, nickt seinem Bruder zu und begibt sich direkt ins Hinterzimmer. Wilhelm geht zur Minibar, gießt zwei Cognac ein und lässt sich am dunklen Eichentisch nieder. Kurz darauf gesellt sich Gerhard dazu.

„Wilhelm, irgendetwas geht hier vor. Was sollen diese Schmierereien mit dem Judenstern? Denkt irgendjemand wirklich, wir würden zu diesem Abschaum gehören?“ sagt Gerhard und greift sich den zweiten Schwenker.

„Beruhige dich! Vielleicht ist es nur ein Dummerjungenstreich. Unsere Familie hat einen Ariernachweis bis ins 12. Jahrhundert.“

„Dumme Jungen machen sich nicht die Mühe, zusätzlich zu einem Streich, eine Nachricht zu übermitteln.“ Im gleichen Atemzug hält er Wilhelm das Smartphone vor die Augen. „Sieh dir dieses Bild an! Was soll die Anspielung mit einem jüdischen Namen über der Markise?“  Es dauert einen Moment bis sich Wilhelms Augen scharf stellen. Obwohl er der jüngere der beiden Brüder ist, sind seine Augen im Alter nicht mehr die besten. Er greift in die Innentasche seines maßgeschneiderten Mohair Anzugs und zieht eine Lesebrille heraus um das Bild besser begutachten zu können.

„Wer bitte sind diese Leute auf dem Bild?“ fragt Gerhard.

„Das ist schwer zu sagen, so unscharf wie das ist. Vielleicht ist es eine Fotomontage und der Name einfach hinzugefügt.“ versucht Wilhelm seinen Bruder zu beschwichtigen. „Das Geschäft ist seit je her in unserem Familienbesitz. Ich werde mal die Ohren aufhalten, vielleicht finde ich etwas heraus. Mach dich nicht verrückt.“ Wilhelm trinkt den Cognac in einem Zug aus, knallt das Glas auf den Tisch und verabschiedet sich mit einem Nicken.

In der Nacht ist es kaum möglich das Geschäft unbemerkt zu erreichen. Gerhard Lehmann lässt zwei seiner Männer vor dem Geschäft patrouillieren. Als ehemalige Türsteher haben die beiden kahlköpfigen Schlägertypen eine zusätzlich abschreckende Wirkung. Einer der Männer umrundet gerade die Litfaßsäule am Ende der Straße, als ihn ein Schlag auf den Hinterkopf trifft. Seine Knie knicken ein und er knallt auf das Kopfsteinpflaster. Der Angreifer springt aus seinem Versteck und tritt sogleich die Flucht an. Das klirrendes Geräusch, des aufkommenden Stahlrohres, lässt den zweiten Kahlkopf aufhorchen und in Aktion treten. Er sieht den Angreifer die Straße hinunter rennen. Nach einem kurzen Blick auf den noch atmenden Verletzten nimmt er die Verfolgung auf. Der Vorsprung des Angreifers ist durch den Überraschungsangriff zu groß und Gerhards Laufbursche verliert ihn an der übernächsten Kreuzung ganz aus den Augen. Zurück deim blutenden Hünen, der sich mittlerweile wieder aufgerichtet hat, fällt sein Blick auf den Eingang des Anzuggeschäfts. An der erneuerten Schaufensterscheibe prangert ein großes Schild mit altdeutscher Aufschrift.
Deutsche! Wert euch. Kauft nicht bei Juden.
Womit der Verbrecher nicht gerechnet hatte, war der dritte Wachposten im gegenüberliegenden Hausaufgang. Der ihn in diesem Moment am Kragen in das Geschäft bugsierte.

Gerhard Lehmann steht in seinem Reich und blickt auf den gestellten Täter, dessen Bluttropfen hässliche Flecken auf seinem hellen Baumwollteppich hinterlassen. Sven war eigentlich ein Mitglied der Gefolgschaft um Gerhard Lehmann.  „Du mieser Verräter! Was fällt dir ein!“ Gerhard holt beim Sprechen mit einem Baseballschläger aus und trifft den Mann mit voller Wucht gegen das Schienbein. „Dachtest du wirklich wir kriegen dich nicht beim zweiten Mal? Wer hat dich beauftragt?“ Gerhard holt zu einem weiteren gezielten Schlag aus. Sven versucht den Schmerzschrei zu unterdrücken und beißt sich auf die Unterlippe. „Mach dein Maul auf!“, befahl Gerhard. Er holt erneut mit dem Schläger aus und trifft das andere Schienbein mit ganzer Kraft. „Was fällt dir ein mich zu verraten? Du magst ein hartes Bürschchen sein, aber deine Schlampe von Frau und dein kleiner Junge sind sicherlich nicht so robust wie du.“ Die Drohung zeigt ihre Wirkung. Sven hebt den Kopf und spuckt Gerhard direkt ins Gesicht. Im selben Moment spürt er den nächsten Schlag auf seinen Rücken niedergehen.

Am folgenden Morgen sitzt Gerhard Lehmann in gewohnter Weise beim Frühstück im Hinterzimmer seines Geschäfts. Es war nicht leicht die Wahrheit aus seinem ehemaligen Angestellten heraus zu prügeln. Gerhard wäre nicht der Kopf der vereinigten weißen Bruderschaft, wenn er den Auftraggeber nicht in Erfahrung gebracht und ihn anschließend direkt in seinen Laden bestellt hätte.
Als Wilhelm eintrifft, nimmt er den Platz gegenüber seines Bruders ein und schenkt sich, in Ruhe, eine Tasse Kaffee ein. Gerhard atmet tief in den Bauch und richtet den Blick nicht von seinem pochierten Ei, in dem er mittlerweile nur noch herumstochert. Er beginnt das Gespräch ohne Umschweife: „Es kam gestern Nacht erneut zu einem Zwischenfall. Jemand versucht mich zu diskreditieren und meine Position in der Bruderschaft zu schwächen.“
„Was genau, ist denn passiert?“ fragt Wilhelm.
Gerhard fährt sich mit der Serviette behutsam über die Lippen bevor er antwortet: „Dein Laufbursche hat geplaudert. Das Leben seines kleinen Hosenscheißers hängt ihm scheinbar sehr am Herzen. Du sollst eifrig dabei sein, einige unschöne Dinge über mich in die Welt zu setzen.“
Wilhelm rückt auf seinem Stuhl hin und her. Sofort packt ihn einer den Handlanger an der Schulter und drückt ihn fest in die Polsterung. Wilhelm war klar, dass er die Karten auf den Tisch legen muss um die Männer zu überzeugen. „Die Anschuldigungen sind wahr, Gerhard. Du bist ein gebürtiger Jude.“ Kaum das Wilhelm die Worte ausgesprochen hat, durchfährt ihn ein stechender Schmerz in der rechten Hand. Sein Bruder hat ihm die Gabel direkt in die Handfläche gestoßen. Gerhard beugt sich weiter über den Tisch um seinem Gegenüber tief in die schmerzerfüllten Augen zu blicken. „Wage es nicht mich einen Juden zu nennen!“
Wilhelm greift nach der Gabel und zieht sie mit einem Ruck aus der Hand. Mit einer Stoffserviette umwickelt er die Wunde und versucht damit die Blutung zu stillen. Es fällt ihm schwer den Blick seines Bruders wieder aufzunehmen. Er wendet sich an den Mann hinter sich. „Ihr wisst nicht wem ihr da folgt.“
Einer lauter Knall lässt Wilhelm erneut zusammenzucken. Gerhard hatte mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. Er atmet tief durch die Nase ein und kontrolliert durch den Mund wieder aus, um mit ruhiger Stimme weiter zu sprechen: „Glaubst du wirklich – meine Leute lassen sich durch ein paar lächerliche Schmierereien und diese billige digitale Fotomontage beeinflussen? Wie kannst du es wagen meine Abstammung nur im Geringsten anzuzweifeln.“
„Ich wusste schon immer, dass etwas mit dir nicht stimmte. Zeig deinen Männern doch mal deine Männlichkeit.“ fordert Wilhelm seinen Bruder auf. Gerhard erhebt sich ruckartig und stößt dabei den Stuhl zurück. „Ich hatte als Kleinkind eine Phimose, natürlich sieht das nach der Behandlung anders aus. Das geschah aus rein medizinischen Gründen.“
„Die Entfernung deiner Vorhaut geschah aus religiösen Gründen. Deine Eltern waren jüdische Händler. Ich habe einen Kaufvertrag in den alten Grundbüchern gefunden und bin dabei auf das hübsche Familienfoto gestoßen.“ entgegnet Wilhelm.
„Unsere Eltern würden sich im Grab umdrehen, wenn sie dich hören könnten. Du warst schon immer neidisch auf mein können. Jetzt versuchst du mich auf so einfallslose Weise zu diskreditieren.“ Gerhard kann nicht verhindern, dass seine Handflächen zunehmend feuchter werden. Sein Magen zieht sich zu einem Klotz zusammen, trotzdem sprach er besonnen weiter: „Ich hatte von je her den besseren Geschäftssinn und es war klar, dass Vater mir das Geschäft überlassen wird. Du hättest nicht nur das Geschäft zugrunde gerichtet, du könntest auch die Bruderschaft nicht anführen. Deine Anschuldigungen sind hanebüchen und armselig.“
„Das Foto ist aus dem Jahr 1940 und zeigt dich mit deinen leiblichen Eltern. Sie haben deine Geburtsurkunde zwar vernichtet aber in den jüdischen Gemeinden wird alles akribisch protokolliert. So auch die Durchführung deiner Brit Mila, Gerhard Goldstein.“ Wilhelm spürt, wie sich der Griff seines Aufsehers lockert, als er verwundert fragt: „Brit, was? Was soll das heißen?“
„Brit Mila nennen die Juden die Beschneidung der Jungen. Diese wird am 8. Lebenstag, durch den Mohel der Gemeinde, vollzogen und protokolliert.“ antwortet Wilhelm ohne Umschweife. Gerhard schießt das Blut so schnell in den Kopf, dass er für einen Moment stehen bleiben muss. Der Druck steigt, er kann sich nicht mehr im Zaum halten und prügelt mit letzter Kraft auf Wilhelm ein.
Der Handlanger schreitet ein und zieht den schweren Körper seines Chefs von dessen Bruder runter. Gerhard schlägt die Hand beiseite und bleibt schwer atmend auf dem Teppichboden sitzen. Wilhelm versucht sich aufzurichten und spuckt dabei zwei Zähne auf den Boden. „Es ist wahr! Du bist nicht mein Bruder.“
Gerhard hört die Stimme nur noch gedämpft. Das Rauschen seines Blutes nimmt seine ganze Aufmerksamkeit ein. „Das kann nicht wahr sein.“ murmelt er vor sich hin. Der Handlanger hilft dem Verletzten wieder auf den Stuhl. Wilhelm nickt ihm dankend zu und weist auf seine Ledertasche. „In meiner Aktentasche befindet sich der Auszug aus dem Mohelbuch. Dieses Dokument belegt, dass Gerhard Goldstein“, er deutet auf Gerhard, „beschnitten wurde. Außerdem sind auch die Namen seiner Eltern aufgeführt. Die Menschen die mit Gerhard 1940 vor diesem Geschäft abgelichtet wurden, als es noch ihr Eigen war.“
Der Schläger greift nach der Tasche, um die Unterlagen daraus näher zu betrachten und sagt dabei: „Wenn das alles wahr ist, erklärt es immer noch nicht, warum der alte Lehmann einen Juden in sein Haus aufgenommen hat?“
„Ganz einfach, weil das Leben des Jungen der Kaufpreis für dieses Geschäft war. In alten Grundbuchauszügen habe ich den Umschreibungsvertrag von Goldmann auf Lehmann gefunden.“ Wilhelm hält sich seine verletzte Hand und wendet sich mit Nachdruck an den Handlanger. „Die Beweise sind eindeutig. Ihr wurdet jahrelang in die Irre geführt und musstet die Befehle von einem Mann entgegennehmen, der den Krieg nie hätte überleben dürfen.“
Das Rauschen in Gerhards Kopf, war mittlerweile so laut, dass er sich außerstande fühlt den Anschuldigungen noch weiteres entgegnen zu setzen. Er erinnert sich an seine frühen Jahre und das unbeschreibliche Gefühl, nicht am richtigen Platz zu sein. Bevor er weiter nachdenken konnte, half ihm sein Untergebener auf die Beine. „Chef, ich denke es ist besser, wenn sie jetzt abhauen. Ich muss es den Anderen sagen und dann sollten sie besser nicht mehr hier sein.“ Er blickt seinem ehemaligen Oberhaupt nicht in die Augen, zu groß ist die Abscheu, die er für ihn empfindet.
Gerhard starrt auf Wilhelm der ihn triumphierend ansieht. Zu gerne würde er ihm seine blutige Visage noch einmal einschlagen. Es hatte keinen Zweck, der Samen des Zweifels war gesät, die Männer würden ihm nun nicht mehr ohne Weiteres folgen. Sollte er wirklich zu den Menschen gehören, die er sein Leben lang verachtet und verfolgt hatte? Ohne langes Zögern greift er nach den Dokumenten und verlässt das Geschäft.

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