PaulinaJansen99Die dunkle Seite

Er war Enno Leibnitz.
Er war erfolgreicher Anwalt.
Er war glücklich verheiratet und hatte eine Tochter.
Er hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen.
Oder etwa doch?
Seine Gedanken rasten im Kreis. Er wusste gar nichts mehr. Wo war er? Wie war er hierher
gekommen? Und die wichtigste aller Fragen: Wer war wirklich?
Nur eines wusste Enno mit absoluter Sicherheit. Irgendwas in seinem Leben musste verdammt schief
gelaufen sein.
Sonst wäre er nicht hier. Unfähig sich zu bewegen. Eingesperrt in seinem Körper. Allein mit seinen
Gedanken. Und seinen Gefühlen. Die Bandbreite seiner Gefühle war nicht mehr besonders groß. Es
gab keine Hoffnung und keine Freude mehr. Da war nur glühender Schmerz und Verwirrung…. Und
Reue, obwohl er nicht wusste woher dieses Gefühl kam und was genau er bereute. Aber die Reue
war intensiv und fraß ihn von Innen auf.
Plötzlich kam sein Gedankenkarussell jäh zu stehen, als er ein dumpfes Geräusch hörte. Es klang wie
schlurfende Schritte und sie kamen näher.
Ein Mann trat ein. Schlagartig wurde seine Gefühlspalette um ein weiteres alles einnehmendes
Gefühl erweitert. Angst. Der Mann vor ihm sah aus wie er!
Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Als er Dienstagmorgen in das Büro seiner Kanzlei kam,
drückte seine Sekretärin Ivonne ihm ein Smartphone in die Hand. „Das müssen Sie gestern vergessen
haben, ich habe es vorhin neben dem Kopierer gefunden. Das ist doch Ihres, oder?“
Obwohl Enno sich wunderte, dass ihm bis jetzt nicht aufgefallen war, dass sein Handy fehlte und er
sich sicher war gestern Abend im Bett noch eine wichtige Mail verschickt zu haben, nahm er das
Smartphone entgegen. Es sah genauso aus wie sein Handy. Dasselbe Modell und die selbe braune
lederne Hülle mit seinen Initialen, die ihm seine Frau zu Weihnachten geschenkt hatte. Das mit der
Mail musste dann wohl Sonntag gewesen sein. Manchmal arbeitete er so viel, dass die Tage
verschwammen. Er bedankte sie bei Ivonne und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
Wenn sein Handy die ganze Nacht im Büro gelegen hatte, hatte er mit Sicherheit ein paar
Nachrichten verpasst.
Enno versuchte das Smartphone wie gewohnt mit seinem Daumen zu entsperren. Doch das Handy
vibrierte nur, wie bei einem fremden Nutzer. Vielleicht war der Fingerabdruckscanner defekt? Auf
Technik war echt kein Verlass. Gut, dass man alternativ auch einen Zahlencode nutzen konnte. Das
Datum seiner Hochzeit brachte ihn schließlich zum Ziel. Er wollte gerade auf das Icon mit Nachrichten
klicken, als er plötzlich den vertrauten Klingelton seines Handys vernahm. Für Elise. Doch die Melodie
kam nicht aus dem Handy in seiner Hand, sondern aus der Innentasche seines Sakkos.
Verwirrt griff er in sein Sakko und zog ein zweites Smartphone hervor. Automatisch nahm er den
Anruf entgegen.
„Was soll der Scheiß, Enno? Hast du jetzt nicht mehr alle Tassen im Schrank?!“, kam es Enno
entgegengeschallt. Die Stimme seines besten Freundes Jens erkannte er sofort. Warum dieser
allerdings so aufgebracht war, erschloss sich ihm nicht. „Dir auch einen guten Morgen. Wovon redest
du eigentlich?“ „Na davon, dass du einfach unser Boot verkauft und dann rum erzählt hast, dass ich
wegen Drogenproblemen in einer Entzugsklinik bin.“ „Ich soll bitte was gemacht habe?!“ „Wenn das
ein verspäteter Aprilscherz sein soll, ist er nicht lustig.“ „Das ist kein Scherz, ich weiß wirklich nicht
wovon du redest. Warum sollte ich sowas tun?“ „Das solltest du selbst ja wohl am besten wissen! So
eine Aktion hätte ich von dir echt nicht erwartet. Weist du was? Du bist ein richtiger Idiot. Erst einen
auf best Buddy machen und dann hintenrum, das Geld unseren gemeinsamen Bootes einsacken und

Lügen über mich verbreiten. Du weißt genau wie viel Arbeit in diesem Boot steckt! Wenn du auch nur
einen Funken Anstand hast oder dir unsere Freundschaft wider erwarten nicht scheiß egal ist, solltest
du dir lieber schnell etwas einfallen lassen, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen!“ „Aber…“,
setzte Enno an, doch Jens hatte schon aufgelegt.
Sprachlos starrte Enno auf die beiden äußerlich identischen Handys und verstand die Welt nicht
mehr. Was zum Teufel ging hier vor sich?
Der Bildschirm des Smartphones, auf dem Jens gerade noch angerufen hatte, wurde bereits wieder
dunkel, so lange hatte er es fassungslos angestarrt. Sein Daumen fuhr gedankenlos über den
Entsperrungssensor. Sofort erschien das Bild seiner Frau mit seiner achtjährigen Tochter beim
Backen, das er als Homebildschirm eingestellt hatte. Also war dieses Handy sein Telefon. Logisch,
eben hatte ja auch noch Jens auf diesem Smartphone angerufen.
Aber was war dann mit dem anderen Handy? Gehörte es dann einem anderen Kollegen? Aber warum
hatte es sich mit seinem Code entsperren lassen und hatte eine Hülle mit seinen Initialen? Das
konnte doch kein Zufall sein!
Er steckte sein Handy wieder zurück in sein Sakko und nahm das andere Smartphone so misstrauisch
zur Hand als handle es sich um einen Gegenstand aus einer anderen Galaxie. Mit zittrigen Fingern
tippte er erneut den Code ein. 0606. Fast schon erwartete er, dass es sich diesmal nicht entsperren
lies. Doch der Homebildschirm poppte ohne zögern vor ihm auf. Als habe er sich verbrannt ließ er das
Handy auf seinen Schreibtisch fallen. Das Bild seiner Familie. Wie… wie konnte das sein? Vorhin war
ihm das Bild nicht aufgefallen, weil er dachte es handle sich um sein Telefon. Langsam begann die
Sache unheimlich zu werden.
Hatte das Handy auch mit dem seltsamen Anruf seines Freundes zu tun? War es vielleicht
umgekehrt? Wollte sein Freund sich mit ihm einen Spaß erlauben?
Vielleicht sollte er nach der Arbeit damit zur Polizei gehen. Doch während er versuchte sich in die
Fallakte seines aktuellen Mandats einzulesen, huschte sein Blick immer wieder zu dem Zwilling seines
Handys. Schließlich siegte die Neugierde und Enno entsperrte das Smartphone erneut und begann es
zu durchsuchen.
Keine Nachrichten. Keine Emails. Keine Apps (bis auf die bereits vorinstallierten). Erst als der das
Fotoalbum öffnete, wurde er fündig. Über 500 Fotos waren darin gespeichert. Wahllos klickte er eins
an und hätte das Handy vor Schreck beinahe wieder fallen gelassen. Das Foto zeigte ihn wie er
gerade sein Auto abschloss. Er wischte nach rechts. Und nochmal. Scheiße! Er wischte bestimmt 20
Fotos durch. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken herunter. Alle Fotos zeigten ihn. Bei der Arbeit, zu
Hause, in der Mittagspause. Das konnte nur das Werk eines Stalkers sein.
Mit der einen Hand zog er das abgegriffene Telefonbuch aus seiner Schreibtischschublade hervor und
schlug es bei P auf, während er mit der anderen Hand weitere Bilder auf dem Handy aufrief. Doch
bevor er die Nummer der örtlichen Polizeibehörde gefunden hatte, veränderten sich die Fotos
plötzlich.
Sie zeigten immer noch ihn – wie er mit einer angebrochenen Flasche Wodka in einer Lache von
Erbrochenem lag, wie er mit einer fremden Frau rumknutschte oder wie er ein Zu-verkaufen- Schild
an das Boot von Jens und ihm hängte – aber er konnte sich an keine der Situationen erinnern. Das
ergab doch überhaupt keinen Sinn! Er hasste Wodka, hatte absolut keinen Grund das Boot verkaufen
zu wollen, an dem sie seit Jahren rumbastelten und er liebte seine Frau viel zu sehr, um sie jemals zu
betrügen. Bevor er sich weiter Gedanken darüber machen konnte, tauchte das schlimmste aller
Bilder vor ihm auf. Es zeigte ihn wie er nackt neben einer großbusigen stark geschminkten Frau im
Bett lag, die ebenfalls nackt war. Sie erinnerte stark an eine Prostituierte. Doch als er genauer hinsah,
erkannte er unter der Schminke die viel zu jungen Gesichtszüge. Das Mädchen konnte höchstens 15
Jahre alt sein. Ein benutztes Kondom lag vor dem Bett auf dem Fußboden.
Ein eiskalter Schauer durchlief ihn und er begann am ganzen Körper zu zittern. Jeder der dieses Foto
sah würde denken er triebe es mit Minderjährigen. Das konnte nicht er sein! Das musste ein anderer

Mann sein, der ihm nur sehr ähnlich sah. Enno zoomte näher an das Bild heran. Doch der Mann sah
immer noch exakt so aus wie er. Sogar der sternenförmige Leberfleck auf der Schulter war zu
erkennen. Aber wie verdammt noch mal war das möglich? Schlafwandelte er vielleicht? Er hatte mal
von einem Fall gehört, wo jemand im Schlaf gemordet hatte…
Eins stand jedenfalls fest. Zur Polizei gehen konnte er mit dem Handy jetzt schon mal nicht mehr. Er
musste es so schnell wie möglich loswerden und …
Ein grelles Kreischen erfüllte den Raum. Der Feueralarm. Ausgerechnet jetzt! Heute wollten ihn aber
auch alle in den Wahnsinn treiben. Hastig verließ er das Büro.
Nach einer gefühlten Ewigkeit durfte er endlich zurück in sein Büro. Irgendein Vollidiot hatte in der
Lobby den Feueralarm ausgelöst und die Feuerwehr hatte erst sicherstellen müssen, dass es wirklich
nur ein Fehlalarm war. Enno war erleichtert sich nun endlich um das Handy kümmern zu können.
Doch dann stellte er zu seinem Entsetzten fest, dass es verschwunden war. Das aufgeschlagene
Telefonbuch lag immer noch da wo er es zurückgelassen hatte, aber von dem Handy war keine Spur
zu sehen. Hatte er sich das alles nur eingebildet?
Ein Glück gab es heute viel zu tun und schon bald gab es Wichtigeres als das blöde Handy. Erst als
seine Frau auf sein Bürotelefon anrief, wurde er wieder schmerzlich daran erinnert.
„Hi, Schatz was gibt es?“ „Das wollte ich dich fragen, du hast bestimmt 10 Mal bei mir angerufen, als
ich beim Yoga war.“ Man hörte Schlüssel klappern. Seine Frau betrat wohl gerade das Haus. „Ich
habe nicht bei dir angerufen. Ich war die letzten Stunden in einem wichtigen Meeting.“ „Willst du
mich für blöd verkaufen? Ich habe zehn verpasste Anrufe auf meinem Handy, die von deinem
Bürotelefon stammen.“ „Aber…“ „Warum warst du eigentlich grade zu Hause als ich beim Yoga war?“
Das Telefonat wurde immer verwirrender. „Ich war nicht Zuhause. Ich habe doch grade erklärt, dass
ich in einem wichtigen Meeting war.“ „Ach, dein Handy kann also von ganz allein von der Kanzlei auf
den Küchentisch fliegen, oder was?“ „Ich…“ „Erzähl mir keinen vom Pferd. Wir reden heute Abend.
Du warst bei unserem Telefonat heute Mittag schon so seltsam. Bis später!“
Langsam begann Enno an seinem Verstand zu zweifeln. Er hatte heute Mittag nicht mit seiner Frau
telefoniert.
Doch der Horrortag wollte einfach nicht enden. Als er spät am Abend sein Haus betrat, erwartete
Isabell ihn bereits in der Küche. Doch etwas stimmte ganz und gar nicht mit ihr. Eine halbleere
Flasche Rotwein stand auf dem Tisch und ihre Schminke war verlaufen, als habe sie geweint.
„Nenn mir einen vernünftigen Grund, warum ich nicht die Polizei rufen sollte.“ „Was ist denn los,
Schatz? Ich bin doch nur ein bisschen zu spät.“ „Nur ein bisschen zu spät, nennst du das? Ich habe dir
heute Mittag gesagt, du sollst um sechs Marie vom Ballett abholen. Wir haben jetzt halb acht!“, spie
seine Frau ihm entgegen. Er legte ihr beruhigend einen Arm auf die Schulter. „Vielleicht beruhigst du
dich erstmal. Du bist betrunken. Komm, ich hole dir Wasser.“
Er füllte ein Glas mit Leitungswasser und wollte es ihr geben, doch sie schlug es weg. „Ich soll mich
beruhigen?! Als ich herausfinden wollte, warum du so komisch am Telefon warst, habe ich diese
Bilder auf deinem Handy gefunden! Kannst du mir das irgendwie erklären?“ Isabell hielt Enno die
Fotos unter die Nase, die Enno davon abgehalten hatten die Polizei zu rufen.
„Das… das bin ich nicht. Du kennst mich doch ich, würde doch niemals…“ „Ach, erzähl deine scheiß
Lügen wem anders. Ich hätte das auch nie von dir gedacht. Aber nach deiner Aktion heute, weiß ich
echt nicht mehr was mit dir los ist. Besser du schläfst erst mal woanders, wenn du nicht willst, dass
ich die Polizei rufe und dich wegen Sex mit einer Minderjährigen anzeige!“ Und ehe er sich versah
hatte sie ihn zur Haustür hinausgeschoben und abgeschlossen. Seine Schlüssel hangen im
Schlüsselboard im Flur. Selbst wenn er gewollt hatte, hätte er nicht zurückgekonnt. Doch wohin sollte
er jetzt gehen? Zu Jens? Er wolle sich gerade auf den Weg machen, als ihm siedend heiß das
Telefonat von heute Morgen einfiel. Die Option fiel schon mal flach. Vielleicht konnte er zur Kanzlei

fahren und da auf der Couch schlafen? Für eine Nacht würde es schon gehen und morgen würde sich
das ganze Chaos des heutigen Tages bestimmt klären. Hoffentlich.
Ein lauter Rums riss ihn aus dem Schlaf. Jemand hatte die Tür zu seinem Büro mit so viel Schwung
aufgerissen, dass sie gegen die Wand geknallt war. Enno richtete sich auf und rieb sich noch
schlaftrunken den steifen Nacken. Als er jedoch erkannte, wer ihn da in seinem Schlaf gestört hatte,
war schlagartig hellwach. Sein Chef stand vor ihm und er sah alles andere als erfreut aus. Im
Gegenteil, seine Augen funkelten zornig und eine Ader an seiner Stirn pochte. Plötzlich hatte Enno
einen Kloß im Hals und eine Eiseskälte breitete sich in seinen Adern aus. Das konnte nichts Gutes
verheißen. Dann brüllte sein Chef auch schon los.
„Was fällt Ihnen eigentlich ein? Sie waren einer meiner besten Männer. Auf dem besten Weg
befördert zu werden und dann bringen sie heute so eine Aktion vor Gericht? Ein Mandat mitten in
der Verhandlung abzugeben und einfach den Gerichtssaal zu verlassen? Ist Ihnen eigentlich klar, dass
Sie damit nicht nur Ihren Ruf, sondern den Ruf der ganzen Kanzlei ruinieren?“
Heute vor Gericht? Das konnte doch gar nicht sein. Er hatte doch bis eben geschlafen und so früh
waren doch gar keine Gerichtstermine angesetzt. Dann glitt sein Blick auf die antike Standuhr neben
der Tür 10:47. Verdammt! Wie konnte es schon so spät sein? Er musste unbedingt … der Seibert-Fall,
fiel ihm glühend heiß ein. Heue um neun wäre die entscheidende Verhandlung gewesen… und er
hatte verschlafen? Das war ihm noch nie passiert. Was war mit dem Wecker, den er sich gestern auf
dem Weg zur Kanzlei noch neben ein paar Hygieneartikeln extra für die Nacht im Büro gekauft hatte?
Kein Wunder, dass sein Chef so sauer war.
„Es … es tut mir so unendlich leid. Mein Wecker muss den Geist aufgegeben haben und …“ „Ihr
Wecker? Haben Sie etwa hier geschlafen? “ Sein Chef sah ihn ungläubig an. Erst jetzt schien er die
Decke und Ennos zerknittertes Auftreten richtig zu bemerken. Schlagartig verdunkelten sich seine
Augen und seine Stimme wurde ganz ruhig, was Enno noch viel mehr Angst einjagte als sein Gebrüll
zuvor.
„Mitkommen. In mein Büro. Jetzt.“
Ein tiefes Loch. So fühlte er sich gerade – als habe ihn jemand in ein tiefes Loch geschupst. Er hatte
innerhalb von vierundzwanzig Stunden alles verloren, was ihm wichtig war. Seinen besten Freund.
Seine Frau. Seine Tochter. Seinen Job. Und er konnte sich immer noch nicht erklären, wie das alles
geschehen konnte.
Besser Sie hätten den Gerichtstermin heute Morgen wirklich verschlafen! Dann hätte Ihr Mandant mit
Sicherheit in der Kanzlei angerufen und wir hätten jemand anderen geschickt. Aber ich weiß wirklich
nicht was in Sie gefahren sind, dass Sie einfach mitten in der Verhandlung aufgestanden und
gegangen sind. So stand Ihr Mandant plötzlich ohne Anwalt dar und war total verunsichert. Eine
Katastrophe!
Die Worte seines Chefs hallten immer noch in seinem Kopf wider. Aber der war doch verdammt noch
mal gar nicht im Gericht gewesen! Oder doch? Litt er an Amnesie oder Schizophrenie? Hatte er den
Verstand verloren?
Egal, was es war, er musste schleunigst herausfinden, was mit ihm nicht stimmte. Im fiel nur noch
eine Person ein, die ihm eventuell dabei helfen konnte, auch wenn diese Person wahrscheinlich alles
andere als erfreut sein würde. Sein Bruder.
Es überraschte ihn selbst wie viel Überwindung es ihn kostete die Klingel am Fuße des
heruntergekommenen Mietshauses zu drücken. Auch wenn er seit Jahren kein gutes Verhältnis zu
seinem Bruder hatte, so sollte man sich doch in Notfällen immer auf die Familie verlassen können
oder etwa nicht? Und hatten Zwillinge nicht ein besonders enges Band? Auch wenn sie nur zweieiig
waren?

Er gab sich einen Ruck und klingelte. Wenig später wurde der Türsummer betätigt und Enno trat in
das schäbige Gebäude. Sein Bruder hatte als Jugendlicher die Schule abgebrochen und unbedingt so
früh wie möglich ausziehen wollen. Seitdem hangelte er sich von einem Gelegenheitsjob zu nächsten.
Enno hatte die Entscheidung seines Bruders nie verstanden, ihn aber nicht dafür verurteilt so wie ihr
Vater. Dieser war sogar so weit gegangen, dass er in seinem Testament verfügt hatte, das Thomas
nur einen Pflichtanteil bekommen sollte, während Enno den ganzen Rest bekam. Allerdings fragte
sich Enno insgeheim ob es nicht vielleicht noch einen weiteren Grund für diesen drastischen Schritt
gegeben hatte. Doch er hatte sich nie getraut danach zu fragen.
Vielleicht sollte er das mal nachholen dachte er bei sich, während er den dritten Stock erklomm.
An der Haustür erwartete ihn bereits ein Mann, der ihm vage bekannt vor kam und sah ihn
überrascht an. Vermutlich der Mitbewohner seines Bruders.
„Hi! Ich bin Enno Thomas Bruder. Ist er da?“ „Oh. Du weißt es noch nicht.“ Der Gesichtsausdruck des
Mannes wurde bedrückt. Verwirrt runzelte Enno die Stirn. „Was weiß ich noch nicht? Ist Thomas
umgezogen?“ „So könnte man es auch sagen, auch wenn es vielleicht ein bisschen zu verharmlosend
wäre.“
Irgendwas stimmte hier doch ganz und gar nicht. Hatte sein Bruder sich in die Scheiße geritten? War
er pleite und aus der Wohnung geflogen? Jetzt bereute er es, dass es so lange her war als er das
letzte Mal mit seinem Bruder gesprochen hatte.
„Wieso verharmlosend? Was ist denn passiert?“
Jetzt lag Unsicherheit in dem Ausdruck des Mitbewohners und noch etwas. Mitleid. In Ennos
Magengrube bildete sich ein ungutes Gefühl, welches durch die nächsten Worte noch verstärkt
wurde. „Vielleicht sollten wir das nicht hier zwischen Tür und Angel klären und uns ins Wohnzimmer
setzten? Ich bin übrigens Gregor.“
Beunruhigt folgte Enno Gregor in das kleine Wohnzimmer, in dem er erst wenige Male gewesen war.
Gregor bot ihm einen Tee an, den Enno aus Höflichkeit annahm, obwohl dieser nur lauwarm war und
sehr bitter schmeckte.
„Es tut mir sehr leid dir das jetzt mitteilen zu müssen, aber Thomas… wie sage ich das jetzt ab
besten? Er …weilt nicht mehr unter uns.“ Ungläubig starrte er sein Gegenüber an. „Mein Bruder ist
tot?“ „Bedauerlicherweise ja. Er hat sich entschieden aus dem Leben zu treten und ..“ „Du meinst er
hat Suizid begangen?“ „Ja. Ich habe seine Leiche vor zwei Tagen entdeckt. Zusammen mit dem hier.“
Gregor nahm einen zerknitterten Brief vom Fernsehschrank und reichte ihn Enno. Sein Name stand in
großen Buchstaben auf der Rückseite des Briefes.
Enno war geschockt. Die Nachricht drang tief in sein Mark und ließ ihn alles um ihm herum wie durch
eine Seifenblase wahrnehmen. Er verstand die Welt nicht mehr. Sein Bruder hatte Selbstmord
begangen. Vor zwei Tagen. Warum hatte er davon nichts mitbekommen? Was hatte seinen Bruder
dazu bewogen?
„Am besten ich lasse ich dich mal für einen Moment allein.“ Gregor schien die billige Ausrede nur
recht zu sein, um möglichst schnell den Raum verlassen zu können. Enno war froh ihn los zu sein. Der
Mitbewohner seines Bruders war sowieso ein komischer Kauz. Allein wie seltsam er gerade den
Selbstmord seines Bruders beschrieben hatte und dann die Tatsache, dass er nicht von selbst auf die
Idee gekommen war, die Angehörigen von Ennos Bruder zu benachrichtigen.
So konnte er wenigstens in Ruhe den Brief lesen. Mit zittrigen Fingern öffnete den Briefumschlag.
Liebstes Bruderherz,
oder sollte ich eher sagen verhasstes Gegenstück? Du hast mein Leben zerstört und bist dir nicht mal
einer Schuld bewusst. Jetzt habe ich es nicht mehr ausgehalten.
Aber du sollst wissen wie es mir ergangen ist und ich hoffe, dass du nach dem du diesen Brief gelesen
hast nicht mehr so unbeschwert durchs Leben gehst und so der Gerechtigkeit ein wenig genüge getan
wird.

Meine Kindheit war die Hölle. Du als mein Zwilling hättest mein engster Vertrauter und Beschützer
sein müssen. Stattdessen hast du mich ins Verderben laufen lassen. Deinetwegen habe ich Epilepsie.
Weißt du eigentlich wie es ist mit der ständigen Angst leben zu müssen jeden Moment einen Anfall zu
bekommen? Wie schwer es ist jemanden kennenzulernen, der keine Angst vor mir hat oder mich
abstoßend findet sobald er einen Anfall mit erlebt hat? Ich war dazu verdammt ohne Freunde mich
durchzuschlagen und die Liebe einer Familie blieb mir auch verwehrt.
Selbst unser „Vater“ hat nur dich geliebt. „Vater“ hat dir immer alles durchgehen lassen und dich
vergöttert. Ich hingegen war für ihn nur der uneheliche Bastard. Abschaum. Ungeliebt. Nutzlos.
Verachtet.
Du weißt nicht wie es für mich war ohne die Liebe eines Vater aus auszuwachsen und stets nur die
Nummer zwei zu sein. Bei Vater konnte ich sogar in gewisser Weise verstehen, warum er so gehandelt
hat. Ich war ja nicht sein richtiger Sohn so wie du. Aber du als mein Bruder hattest nicht den
geringsten Grund mich zu behandeln als sei ich nur ein Mitbewohner. Nicht einmal hast du dich auf
meine Seite geschlagen oder dich gefragt wie es mir geht. Seit dem „Unfall“ wo ich dich am meisten
gebraucht hätte, hast du mich gemieden, wo es nur ging. Als wäre meine Epilepsie ansteckend. Dabei
hätte doch höchstens ich Grund gehabt dich zu meiden.
Das ist der Grund warum ich so schnell wie möglich von zu Hause weg wollte und mich allein durch
das Leben schlagen musste, während du alles gekommen hast. Ich habe es einfach nicht mehr
ausgehalten. Du wusstest nie wie es ist ein niemand zu sein, so wie ich. Denk mal darüber nach,
Bruder.
Lebe wohl
Thomas
PS: Ich hoffe sehr, dass dir meine Fotos gefallen haben
Enno las den Brief ein zweites Mal und ein drittes Mal. Solange bis die Worte vor seinen Augen
verschwammen. Schuld lastete mit einem Mal schwer auf seinen Schultern. Sofort hatte der den
Abend des tragischen Unfalls wieder vor Augen, den er bisher meist erfolgreich verdrängt hatte. An
jedem Abend hatte er seinem Bruder mit einer Wette herausgefordert einmal zum anderen Ufer des
Rheins zu schwimmen.
Thomas war in eine Strömung geraten und mitgerissen worden. Dabei war er Minutenlang ohne
Sauerstoff gewesen, bevor er vom DLRG gerettet werden konnte. Enno hatte lediglich den Notruf
abgesetzt und dann hilflos zu gesehen. Die Rettung war knapp gewesen, Thomas hatte tagelang im
Koma gelegen und der Sauerstoffmangel hatte eine Epilepsie verursacht. Wie es zu dem Unfall
gekommen war, hatte Thomas nie verraten. Alle hatten es für Thomas Idee gehalten und waren Enno
dankbar gewesen, dass er seinen Bruder rechtzeitig gefunden und den Notruf abgesetzt hatte. Sein
Bruder hatte ja zunächst nichts zu dem Vorfall sagen können und als er aufgewacht war, waren alle
so erleichtert gewesen, dass keiner mehr nachfragte hatte. Danach hatte Enno Thomas gemieden,
weil er ihn an seine dumme Tat erinnerte und Enno einfach nur vergessen wollte. Seit dem war es
sein Geheimnis gewesen, was er mit dem Unfall zu tun hatte.
Aber ihm war nie bewusst gewesen, dass sein Bruder so darunter gelitten hatte. Er hatte immer
angenommen, dass sein Bruder seit diesem Vorfall wütend auf ihn war und sich so das schlechte
Verhältnis zu ihm erklärt. Wenn er das alles nur viel früher gewusst hätte…
Gleichzeitig ergab alles auf einmal irgendwie einen Sinn. Enno erinnerte sich vage an den Fall einer
Kollegin aus dem Familiengericht in dem es um Zwillinge von zwei verschiedenen Vätern gegangen
war. So etwas kam zwar selten vor, würde aber alles erklären.
Darum war sein Bruder immer so anders gewesen als er. Darum hatte sein Vater seine Mutter
verlassen und deshalb hatte sein Bruder auch nur einen Pflichtanteil geerbt. Seine Mutter musste
seinen Vater betrogen haben.
Nur den letzten Satz verstand Enno nicht. Von welchen Fotos war die Rede? Mit Fotos hatte er doch
gestern schon genug Erfahrungen gemacht. Halt! Konnte es etwa sein, dass sein Bruder…? Hastig

stand er auf, doch auf einmal fing sich vor seinen Augen alles an zu drehen. Verdammt was war das
schon wieder? Schwarze Punkte begannen in seinem Blickfeld zu tanzen und er hatte Probleme das
Gleichgewicht zu halten. Verzweifelt versuchte er sich noch an der Lehne des Sofas abzustützen,
doch er griff ins Leere und fiel zu Boden. Dann stürzten auf einmal so viele Erinnerungen, Gefühle
und Gedanken auf ihn ein und begruben seinen Verstand wie eine Lawine unter sich.
Er konnte sich nicht mehr bewegen. Er nahm nichts mehr um sich herum wahr. Da war nur noch
Leere und ihm wurde schwarz vor Augen.
Langsam kam er wieder zu sich und fand sich gefesselt auf einer zerschlissenen Matratze wieder. Sein
Kopf war vollkommen leer. Nur vereinzelt drangen Erinnerungen wie durch Nebel zu ihm hindurch. Er
versuchte das Puzzle aus Erinnerungsfetzten zu seinem logischen Bild zusammenzusetzen.
Er war Enno Leibnitz.
Er war erfolgreicher Anwalt.
Er war glücklich verheiratet und hatte eine Tochter.

Und nun war er also hier und seine Angst stieg mit jedem Meter der sich der Mann näherte. Sie
nahm jede Faser seines Körpers ein und lies seine Gedanken rasen.
Wie war das möglich? Hatte er endgültig den Verstand verloren? Spielten seine Sinne ihm einen
Streich?
Aber kein Zweifel. Der Mann hatte die gleichen blauen Augen, dasselbe markante Kinn und den
unverkennbaren sternförmigen Leberfleck auf der Schulter, der unter dem weißen T-shirt
hervorstach.
Die Situation war seltsam unwirklich als würde er in einen Spiegel schauen und das Spiegelbild habe
ein Eigenleben entwickelt. Oder als hätte er einen bösen Doppelgänger.
Langsam begann sich die Puzzleteile in seinem Kopf zu einem sinnvollen Gesamtbild zusammen zu
setzen. Dieser Mann musste in seinem Namen das Boot verkauft, Lügen über seinen Freund
verbreitet, seine Frau angerufen und vor Gericht erschienen sein. Er war der Mann auf den
belastenden Fotos.
All die unerklärlichen Ereignisse der letzten Tage ergaben plötzlich einen Sinn. Doch das machte
Ennos Lage bedauerlicherweise kein bisschen besser. Er wusste immer noch nicht wer dieser Mann,
der seine Identität benutzt hatte, war, geschweige denn was er vorhatte. Aber egal was es war, es
konnte nichts Gutes sein.
Zumindest nicht nach den Utensilien nach zu Urteilen, die er nach und nach aus einem Rucksack zog
und fein säuberlich auf einem alten Schreibtisch drapierte. Ein weißer Schutzanzug wie ihn Maler
benutzen, um ihre Kleidung nicht zu ruinieren, Handschuhe, ein Stück Stoff, ein Bunsenbrenner, eine
braune Flasche mit einem Piktogramm, das vor ätzendem Inhalt warnte und ein Messer mit langer
glänzender Klinge.
Allein bei dem Gedanken was man damit alles anstellen konnte, während er gefesselt und wehrlos
auf der Matratze lag, drehte sich ihm der Magen um. Er begann zu schwitzen und seine Augen
suchten hektisch den Raum nach einer Fluchtmöglichkeit ab. Seinem Doppelgänger, der gerade dabei
war in den weißen Anzug zu schlüpfen, entging seine Angst nicht. Er begann zu lachen. Das Lachen
fuhr Enno bis ins Mark. Er kannte dieses Lachen, sehr gut sogar, aber es klang definitiv nicht wie sein
eigenes.
„Wie ich sehe, ahnst du schon was dir blüht. Aber keine Sorge alles wird nicht nötig sein. Ich lasse dir
eine Wahl… Bruder.“
Es war als habe man einen Eimer mit eiskaltem Wasser über ihm entleert. Der Schock der Erkenntnis
lähmte ihn. Sein Verstand weigerte sich das zu akzeptieren, was ihm schon bei dem Lachen hätte klar
sein müssen. Vor ihm stand sein Bruder Thomas.
Thomas hatte nie Selbstmord begangen.

Stattdessen hatte er Ennos Identität geraubt.
Wie zur Bestätigung schob Thomas die Haare, die seine rechte Schläfe bedeckten leicht zur Seite und
entblößte eine gezackte Narbe. Enno erinnerte sich noch genau wie sie entstanden war. Als Thomas
mit der Strömung zum Grund des Flusses gezogen worden war, war er dort mit dem Kopf gegen
einen spitzen Stein gewirbelt worden. Erneut stieg Schuld in Enno auf. Sie schmeckte bitter.
„Aber… wie… seit wann…“ Mehr als ein Stammeln brachte Enno nicht hervor. Das ganze war einfach
zu absurd. Sein Bruder lachte nur höhnisch.
„Schon erstaunlich was mit der modernen Technik zur Stimmveränderung und der modernen
Chirurgie alles möglich ist, nicht war?“ Enno musste seinem Bruder recht geben. Auch wenn Enno
und Thomas sich schon immer sehr ähnlich gesehen hatten, waren sie doch immer leicht als
zweieiige Zwillinge zu erkennen gewesen. Was, wie Enno jetzt wusste, sicher auch mit daran gelegen
hatte, dass sie nicht denselben Vater gehabt hatte. Doch jetzt sah Thomas Enno so ähnlich, dass er
selbst auf diese Täuschung hereingefallen war.
„Und ich muss schon sagen, es bereitet mir ausgesprochen viel Freude du zu sein. Du wirst allerdings
mit deiner neuen Identität als niemand vermutlich nicht so viel Spaß haben. Dafür wirst du endlich
am eigenem Leib erfahren, wie ich mich mein Leben lang gefühlt habe. Aber wir sollten nicht noch
mehr Zeit verschwenden, meine Beweggründe, habe ich dir ja bereits in dem Brief mitgeteilt. Hast du
dich schon entschieden, was dir zu deiner neuen Identität verhelfen soll?“
Das konnte unmöglich sein Ernst sein. Wie konnte Thomas nur so grausam sein? Die Geschichte
damals war doch keine Absicht gewesen. Enno war einfach ein Kind mit dummen Ideen gewesen!
Außerdem war er doch sein Bruder, er hatte ihm nie schaden wollen.
Wut flammte in ihm auf. Gleichzeitig hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum hatte er nie
erkannt was für ein Psychopath sein Bruder war?
Dass Thomas Frage nur rhetorisch gemeint war, erkannte er in dem Moment als Thomas nach dem
Messer griff und auf ihn zutrat. „Ich habe es mir anders überlegt. Es ist doch viel amüsanter, wenn ich
doch alles nutze was ich mitgebracht habe, nicht wahr?“
Thomas griff mit der einen Hand nach seinem Kopf und hielt ihn fest in die Matratze gedrückt, mit
der anderen führte er das Messer zu seinem Gesicht hin. Enno sah die Spitze der Klinge im
schwachen Licht der Decke aufblitzen und war vor Angst wie gelähmt.
Das passierte nicht wirklich. Das konnte nur ein Traum sein. Das durfte nur ein Traum sein. War es
leider nicht. Der glühende Schmerz, der wenig später folgte und seine ganze Wahrnehmung
einnehmen zu schien, lies ihm keinen Zweifel daran. Warme Flüssigkeit rann seine Wange hinunter
und ein metallischer Geschmack erfüllte seinen Mund.
Doch der Schmerz hatte auch etwas Gutes. Er erlöste ihn aus seiner Panikstarre und lies endlich
seinen Überlebensinstinkt einsetzten. Während sein Bruder das Messer mit einem Stück Stoff
abwischte, überprüfte er den Bewegungsspielraum, den ihm seine Fesseln ließen. Zu seinem
Erstaunen bemerkte er, dass zwar Hände und Füße sehr stramm mit Schnürschenkeln
zusammengebunden waren, er aber den Rest seines Körpers frei bewegen konnte. Als er dann auch
noch das Messer entdeckte, dass sein Bruder vermutlich für einen späteren erneuten Gebrauch jetzt
neben die Matratze legte, kristallisierte sich in seinem Kopf langsam ein Plan aus.
„Du hast recht, Bruder. Ich habe mich falsch verhalten. Es tut mir Leid“, begann Enno zögernd. Er
hatte keine Ahnung ob er es so schaffen würde seinen Bruder abzulenken oder er seine Lüge sofort
durchschauen würde. Zu seinem Erstaunen sah Thomas ihn traurig an, dann wandte er Enno den
Rücken zu und ging wieder zu dem Schreibtisch. Enno nutzte die Gelegenheit und robbte mit dem
gesamten Körper zu der Kante der Matratze.
„Für eine Entschuldigung ist es jetzt zu spät. Das macht die Vergangenheit nicht mehr ungeschehen “
„Aber wenn du meine Identität annimmst, macht es die Vergangenheit auch nicht mehr
ungeschehen. Jetzt wo ich die Wahrheit kenne, könnte ich dir zu einer besseren Zukunft verhelfen“,
entgegnete Enno in der aberwitzigen Hoffnung, Thomas würde seinen grausamen Plan noch mal

überdenken. Doch dann stieg ihm der beißend faulige Geruch von Ammoniak in die Nase und ihm
wurde bewusst, dass es dafür bereits zu spät war.
Schnell versuchte er mit dem Mund den Griff des Messers zu angeln. Doch das Messer rutschte
immer wieder weg. Aber aufgeben würde er noch nicht.
Auch wenn die Stimme seines Bruders einen wütenden Unterton annahm und er verächtlich
schnaubte, war seine Aufmerksamkeit immer noch auf die Flasche vor ihm gerichtet. „Du und mir
helfen? Weil du mir ja früher auch immer so toll geholfen hast. Du hättest damals ja versuchen
können mich aus der Strömung zu befreien, statt nur da zu stehen und zu warten bis jemand anderes
mich rettet. Du bist einfach nur feige! Und jetzt versuchst du schon wieder dich raus zu reden wie du
es vor Gericht immer für deine Mandanten tust. Nur wird das bei mir nicht funktionieren. Ich
brauche deine Hilfe nicht! Ich werde allein für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen, indem ich dein
perfektes Leben übernehme und du sehen kannst wo du bleibst.“
„Mein perfektes Leben? Glaubst du das wirklich? Mein Leben ist alles andere als perfekt. Dafür hast
du selbst gesorgt. Ich habe alles verloren.“ Sein Bruder lachte nur höhnisch. „Glaubst du echt ich bin
so blöd und habe mir vorher nicht genau überlegt, wie ich alles wieder zurückbekomme?“
Endlich hatte Enno das Messer zu packen gekriegt, wenn auch nicht am Griff, sondern an der Klinge.
Doch eine aufgeschnittene Lippe war gerade sein geringstes Problem. Schnelle drehte er Kopf und
Oberkörper zur anderen Seite und lies das Messer hinter sich fallen. Jetzt musste er Thomas
unbedingt so lange am reden halten, bis er das Messer mit den Händen greifen konnte.
„Ach ja und wie willst du das anstellen?“ „Ganz einfach: deinem Kumpel werde ich erzählen, dass ich
das Boot nur verkauft habe, weil ich ein Angebot für ein viel Besseres entdeckt habe und ihn
überraschen wollte. Das mit der üblen Nachrede, werde ich ihm als Missverständnis verklickern. Für
den Gerichtsfall werde ich ein ärztliches Attest vorlegen, das mir bescheinigt, dass ich an diesem Tag
nicht arbeitsfähig war und deshalb die Verhandlung abbrechen musste. Wenn das nicht reicht, ist es
mir auch egal. Ich bin sowieso nicht so ein Fan von Paragraphen. Und was deine Frau angeht. Von der
bin ich großer Fan. Aber das wird ein Kinderspiel. Ich werde ihr einfach erzählen, dass das ein
Fakefoto für einen Fall ist, um einen Zuhälter hochzunehmenden, der Minderjährige für sich arbeiten
lässt. Als Beweis lasse ich einen guten Bekannten von mir anrufen, der sich als Polizist ausgibt und
meine Story bestätigt. Siehst du? Alles ganz leicht.“
Während Thomas redete, war Enno stückweise mit dem ganzen Körper nach oben gerutscht, da das
Messer dummerweise auf Halshöhe gelandet war. Jetzt fehlte nur noch ein kleines Stückchen. „Na
und? Selbst wenn mein Leben wieder wie vorher wäre, dich würde es nicht glücklich machen. Wie du
gerade selbst schon gesagt hast, du hasst Paragraphen. Aber das ist ja auch kein Wunder, denn du
bist eine ganz andere Persönlichkeiten als ich. Du bist kreativ, chaotisch und pragmatisch. Isabell
würde dir mit ihrem Sauberkeit- und Ordnungsspleen spätestens nach zwei Wochen auf die Nerven
gehen und mit Kinder konntest du noch nie viel anfangen.“
Endlich hatte er es geschafft, er hielt das Messer in den Händen. Jetzt musste er nur noch auf die
richtige Gelegenheit warten. Es erklang ein beunruhigendes Knacken und ein warmes Licht hüllte den
Raum ein. Thomas hatte die Ammoniakflasche beiseite gestellt und den Gasbrenner entzündet.
Leider konnte Enno nicht sagen, ob das seine Situation verbesserte oder verschlimmerte.
„Na und? Selbst wenn, bleibt mir immer noch dein Geld.“ Mit diesen Worten drehte sich Thomas
wieder zu Enno um. In der rechten Hand hielt der den brennenden Campingkocher wie eine Fackel.
Langsam näherte er sich der Matratze und Enno bete, dass sein Bruder seine veränderte Position und
das fehlende Messer nicht bemerken würde. „Und mir bleibt die Befriedigung, dass es dir beschissen
geht.“ Mit diesen Worten senkte Thomas die Flamme ab, doch Enno war schneller. Mit seinen
gefesselten Füßen trat er gegen Thomas Oberschenkel, den Schwung nutzte er um sich aufzurichten.
Bevor sein Bruder wirklich begriff was vor sich ging, drehte Enno sich um und stach blind mit dem
Messer zu.

Thomas sah schockiert auf das Messer in seinem Bauch. Doch dann fiel sein Blick auf den
Gasbrenner, den er immer noch in der Hand hielt und mit einem Grinsen erkannte er, dass er dem
gefesselten Enno überlegen und immer noch bewaffnet war.
So hatte Enno sich das nicht gedacht. Aber ihm blieb immer noch der Überraschungseffekt. Anstatt
vor dem Feuer zurückzuweichen, wie es sein Bruder erwartet hatte, warf Enno sich mit seinem
ganzen Körpergewicht gegen Thomas. Dieser verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Dabei
knallte sein Kopf mit voller Wucht gegen die Schreibtischkante. Enno landete bäuchlings auf seinem
Bruder.
Er selbst war von der Wucht seines Sturzes so geschockt, dass er den Ammoniak, der umgekippt war
und nun auf sie heruntertropfte, erst bemerkte, als sie bereits ein Loch durch sein Hemd geätzt hatte
und er ein stechenden Schmerz vernahm. Schnell rollte er sich zur Seite und realisierte erfreut, dass
das nicht nur sein Hemd sondern auch seine Fesseln an den Händen zum Teil von der Base zersetzt
worden waren. So war es ein Leichtes sie abzustreifen. Als nächstes widmete er sich seinen
Fußfesseln. Dann fiel sein Blick auf seinen Bruder neben ihm, der sich nicht mehr rührte. Eine
Blutlache hatte sich um seinen Kopf gebildet.
Verdammt!
Hastig packte er seinen Bruder unter den Achseln und zog ihn aus der heruntertropfenden Flüssigkeit
hervor. Dann tastete er am Hals nach einem Puls. Nichts.
Verdammt! Verdammt!
Plötzlich stieg Rauch in seine Nase. Der Gasbrenner, der zu Boden gefallen war, hatte einen der
Tischbeine in Brand gesteckt und leckte jetzt bereits an den mottenzerfressenen Gardinen.
Verdammt! Verdammt! Verdammt!
Er rannte aus dem Zimmer in den Flur und blieb wie angewurzelt stehen. Es war der Hausflur seines
Bruders. Die ganze Zeit über war er im Schlafzimmer seines Bruders gewesen. Gregor musste Thomas
Komplize gewesen sein, schoss es ihm durch den Kopf, obwohl er gerade ganz andere Sorgen hatte.
Er musste die Feuerwehr rufen und einen Krankenwagen.
Glücklicherweise stand ein Festnetztelefon auf einem kleinen Schrank neben der Tür zum
Wohnzimmer. Nach dem er den Notruf abgesetzt hatte, eilte er weiter ins Treppenhaus auf der
Suche nach einem Feuerlöscher. Als er keinen fand lies er sich einfach auf der untersten Stufe nieder
und ein irres Lachen stieg in ihm auf.
Er hatte überlebt. All die seltsamen Ereignisse hatten sich aufgeklärt. Er wusste sogar genau was er
tun musste, um sein altes Leben zurück zu bekommen.
Und doch würde nichts mehr so wie früher sein. Die Vergangenheit sah er plötzlich in einem ganz
andrem Licht. Er hatte seinen Bruder im Stich gelassen und jetzt hatte er ihn auch noch getötet.
Schuld lastete schwer auf seinen Schultern und erschwerten ihm das Atmen. In seinem weiteren
Leben würde sie sein ständiger Begleiter sein. Da war er sich sicher.

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