Mareike ElfenbüttelDoppelte Lüge

Eigentlich wollte ich ihr gar nicht in das Gesicht spucken, aber sie hätte es auch getan. Jetzt, wo ich ihren Platz eingenommen hatte, erwartete man es von mir.

  Das Mädchen lag keuchend bäuchlings auf der Matte. Man konnte ihr deutlich ansehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Ihre Lippen waren blau und ihre Haut blass. Die Haare verklebt vom Schweiß. Ein Ruck ging durch ihren Körper, gefolgt von einem bellenden Geräusch aus ihrer Kehle. Dann übergab sie sich.

  Das Quietschen der Sohlen auf dem Hallenboden war vollends verstummt, als alle Mädchen in die Umkleiden verschwunden waren. Ich hatte ihre Blicke bemerkt. Vivi und Mandy verurteilten mich für das, was ich getan hatte. Oder eher für das, was ich nicht getan hatte. Ich war nicht hart genug. Nicht so hart wie sie. Leider!

  Zitternd verdrückte ich mich auf die Toilette, bis sich das Geschnatter in den Duschen und der Umkleide gelegt hatte. Ich wollte ihnen heute nicht mehr unter die Augen treten. Ohne sie kam ich damit noch nicht klar. Im Halbdunkel zog ich mich um. Nur die Notbeleuchtung spendete gerade noch ausreichend Licht, damit ich mein Shirt nicht versehentlich auf links anzog. Ich schloss meinen Spint und hielt einen Moment inne. Nun käme der unangenehmste Teil des heutigen Tages. Zwei Spint-Reihen weiter, stand ein Karton auf der Mittelbank. Die Feuchtigkeit der Duschen war bereits bis hier vorgedrungen. Schweratmend ließ ich mich neben dem leeren Karton nieder und starrte vor mir auf die kleine Metalltür mit der Nummer 26. Um gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen, richtete ich meinen Blick auf eine Pfütze auf dem Boden und erschrak, als ich dort ein Gesicht erblickte.

  »Nur ich.« Coach Nick versuchte zu lächeln. Als er jedoch meine feuchten Augen sah, trat er vorsichtig an mich heran und legte mir seine Hand auf die Schulter. Dann schloss er den Spint auf und ließ mich mit den Worten »Lass dir Zeit. Wenn du soweit bist, dann komm doch bitte nochmal kurz in mein Büro« allein.

  »Kim, seit du Captain bist, vernachlässigst du deinen eigenen Leistungsanspruch.«  Coach Nick ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich neben mir auf die Kante. Er musterte mich von oben herab. Ich hatte mich in den Sessel gefläzt und den Karton mit ihren Sachen neben mir abgestellt. Seine Augen zuckten zwischen dem Karton und mir hin und her. Ich jedoch, hielt meinen Kopf stur geradeaus gerichtet. »Hör‘ mal, ich weiß, dass es für dich momentan schwer ist. Der Tod von Stefanie hat uns alle schwer getroffen.« Er schluckte hörbar und legte eine Hand auf mein Knie. »Du willst doch in das All-Star-Team, oder? Momentan kann ich für dich noch keine Empfehlung aussprechen. Dafür reichen mir deine Leistungen nicht.« Ich zog die Nase hoch und versuchte meine offensichtliche Abneigung zu ihm zu unterdrücken. Natürlich wusste ich das! Nur wiederwillig schaute ich ihn an. Nervös fing ich an mit meinem Bein zu wippen. Ich wollte hier raus. Weg von ihm. »Was hältst du davon, wenn wir ein paar Einzelstunden machen? Du und ich.« Stefanie hatte mir schon früh gesagt, dass er mich nicht leiden könne. Woher kam also sein plötzlicher Sinneswandel? Durch Trauer? Suchte er nun bei mir Trost? »Stefanie hat immer noch ein bis zwei Stunden nach dem regulären Training drangehängt.« Ich erhob mich ruckartig. Nick fuhr zusammen, weil er meine heftige Reaktion nicht erwartet hatte. Ich griff nach dem Karton und machte Anstalten sein Büro zu verlassen. Immer wurde ich mit ihr verglichen. Meine Finger krallten sich in die feste Pappe, als ich mich nochmal zu ihm umdrehte.

  »Ich bin nicht Stefanie« sagte ich und trat über die Türschwelle.

  Noch am Auto bebte mein ganzer Körper. Endlich erlaubte ich mir zu weinen. Der Herbstregen prasselte auf meinen Kopf und vermischte sich mit meinen Tränen. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, schnell ins Auto einzusteigen. Durchgeschwitzt war ich eh noch. Ich verstaute den Karton mit den Sachen aus dem Spint auf dem Beifahrersitz, bevor er mir gänzlich in den Händen durchweichte. Gerade als ich dabei war selbst in das Auto zu steigen, hörte ich Justin meinen Namen rufen. Er wollte mitfahren. Mit schwermütigem Blick erklärte ich, dass ich Stefanies Zeug zur Spende bringen müsse.

  »Okay. Dann nachher bei mir?« fragte er ohne weiter auf die Kiste einzugehen. »Ach Mist, ich habe meinen Schlüssel liegen lassen. Ich muss nochmal zurück. Melde dich einfach, wenn du zurück bist, ja? Ich würde dich gerne nochmal sehen, bevor wir morgen ins Trainings-Camp fahren« rief er mir aus der Ferne zu, bevor er wieder im Gebäude verschwand.

  Die Trauer um Stefanie machte mir noch sehr zu schaffen. Alleine zu sein, war schwer. In Gesellschaft zu sein, sogar schwieriger. Daher ging die frische Beziehung mit Justin, dem Quarterback der Footballmannschaft, eher schleppend voran. Als Captain des Cheerleader-Teams sollte man mit einem Footballer zusammen sein. Doch was ich sollte und was ich wollte, waren zwei unterschiedliche paar Schuhe. Ich wollte Stefanies Cheerleading-Equipment auch nicht zur Spende bringen. Es tat weh, diese persönlichen Dinge loszulassen. Sie sollten mir gehören.

  Ein Signalton ertönte vom Beifahrersitz. Ich wühlte in meiner Tasche, die neben dem aufgeweichten Karton stand, um mein Handy daraus zu angeln. Gerade als ich meinen Kopf drehte, um einen Blick in die Tasche zu werfen, sah ich im Augenwinkel, wie etwas in den Lichtkegel meines Wagens sprang. Blitzschnell trat ich auf die Bremse. Das ABS meiner Reifen setzte ein, da sich auf der Straße Aquaplaning gebildet hatte. Der Wagen ruckte mehrmals und hatte Schwierigkeiten zum Stehen zu kommen. Verzweifelt versuchte ich gegenzulenken, doch das Auto schlitterte auf das Reh zu, das unbeirrt auf der Straße stand. Ich stemmte meinen Fuß noch stärker auf das Pedal. Im letzten Moment huschte das Tier davon und das Fahrzeug kam genau dort zum Stillstand, wo es gestanden hatte. Der letzte Ruck beförderte den Inhalt des aufgeweichten Kartons nach vorne und in den Fußraum. Ich fluchte leise. Schnell sammelte ich die Pompons, und alles was ich im Dunkel greifen konnte, aus den Pappfetzen und warf die Sachen in eine Tüte, die ich immer griffbereit in der Beifahrertür stecken hatte.

  Schweren Herzens übergab ich die Tüte ein wenig später der Spendeneinrichtung.

  Die Fahrt zurück war mühseliger. Das Gewitter stand direkt über der Stadt und meine Scheibenwischer schafften es kaum den Platzregen von meiner Frontscheibe fernzuhalten. Das Handy machte erneut auf sich aufmerksam. Diesmal hielt ich an. Ich wollte nicht nochmal einen ‘beinahe-Unfall’ riskieren. Als ich mein Smartphone endlich gefunden hatte, musste ich feststellen, dass das Display weder eine Nachricht noch etwas anderes anzeigte. Auch der Akku war noch halb voll. Das Geräusch ertönte erneut. Erst jetzt nahm ich war, dass es von woanders herkam. Unter dem Sitz schimmerte ein lasch-blaues Licht. Ich tastete danach. Zwischen alten Dosen und PET-Flaschen fühlte ich einen rechteckigen Gegenstand. Das musste es sein! Wie ich vermutet hatte, hielt ich ein anderes Smartphone in der Hand. Es musste bei der Vollbremsung mit aus dem Karton gefallen sein. Andererseits sah das so gar nicht nach Stefanies Handy aus. Wessen war es dann? Gerade als ich die Taste zum Entsperren drücken wollte, ging es aus und der Bildschirm blieb dunkel.

  Zuhause konnte ich das Gerät genauer begutachten. Es war ein dunkelblaues Smartphone von einem Hersteller, den ich nicht kannte. Vermutlich auch nicht besonders teuer gewesen, dachte ich. Dem Erscheinungsbild nach zu urteilen, wurde es vom Besitzer nicht sonderlich geliebt. Es hatte keine Hülle und wies bereits deutlich Gebrauchsspuren auf. Nein, dieses Handy war nicht von Stefanie. Ich überlegte, wer in den letzten Tagen bei mir im Auto mitgefahren war. Außer Justin niemand. Und hätte dieser sich nicht auch schon längst bei mir gemeldet und nach dem Gerät gefragt? Vielleicht konnte ich anhand des Logg Screens den Besitzer erkennen? Glücklicherweise hatte ich noch ein Ladekabel. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Handy genug Saft hatte, um es anzuschalten. Das Batterie-Symbol stellte meine Geduld auf eine harte Probe. Um mich davon abzulenken, verdrückte ich den Rest kalte Lasagne aus dem Kühlschrank. Und dann dachte ich an das morgige Training und die gehässigen Blicke von Vivi und Mandy. Ich hing gerade über der Kloschüssel, als ich den Piep-Ton des fremden Handys hörte. Es musste sich angeschaltet haben. Das leuchtende Display erkannte ich bereits von weitem. Erlosch aber, als ich mich näherte. Ich drückte den Knopf zum entriegeln und sah einen Countdown auf dem Bildschirm. Einen Countdown, der ziemlich genau 12 Stunden runterzählte. Was sollte das heißen? Das musste einer von diesen Live-Bildschirmschonern sein, dachte ich. Als ich ihn wegzuwischen versuchte, wurde ich aufgefordert einen Zahlen-Code einzugeben. Drei Versuche verbleibend. Ich ging nicht davon aus, dass ich zufällig die richtige Zahlenkombination tippte, versuchte es jedoch mit vier Mal der Null. Zwei Versuche verbleibend. Vielleicht vier Mal die Eins? Nein. Ein Versuch verbleibend. Okay, ich würde morgen einfach mal beim Training rumfragen. Nochmal würde ich es nicht versuchen und womöglich daran schuld sein, dass das Gerät oder die Sim gesperrt wurde. Ich ließ das Telefon am Ladekabel und überlegt, ob ich noch 50 Sit-Ups machen sollte. Ich war immer etwas molliger als Stefanie. Sie wurde für ihren durchtrainierten Körper gelobt. Neben ihr wirkte jeder fett. Ich entschied mich dagegen, gönnte meinem Körper lieber die Erholung und ging zu Bett.

  Gegen frühen Morgen wurde ich von einem summenden Geräusch geweckt. Es war noch dunkel, deshalb stach mir das bläuliche Leuchten des fremden Smartphones sofort ins Auge. Warum vibrierte es denn plötzlich? Gestern war es nicht auf ‘stumm‘ geschaltet. Ich pellte mich aus der warmen Decke und schleppte mich schlaftrunken zur Kommode, wo ich es zum Aufladen gestern Abend hinterlassen hatte. Der Akkustand zeigte jetzt 100 Prozent an. Ich zog es von der Strippe und hob es an, um das Display erneut zu begutachten. Doch statt des Countdown des Logg Screens zu sehen, entsperrt es sich auf einmal selbst ohne, dass ich eine der anderen Knöpfe berührt hatte. Da ich mich noch im Halbschlaf befand, konnte mein Kopf zunächst nicht verarbeiten, was da gerade passiert war. Bis es mir schlagartig bewusst wurde und ich das Gerät fallen ließ. Und wie es da am Boden lag, erkannte ich, was da als Hintergrundbild gesetzt worden war. Es zeigte mich. Schlafend mit dem verwaschenen Dornröschen-Shirt, das ich gerade trug. Panik stieg in mir auf und ich starrte einige Sekunden auf das Telefon am Boden. War etwa jemand in der Wohnung? Ich schnappte mir eine meiner 500g Hanteln und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Die Türschwelle knarrte, als ich in den Flur kam. Ich hielt inne ohne zu atmen. Doch es waren keine Geräusche zu vernehmen. Wie ein Langschwert hielt ich die Hantel vor mir ausgestreckt und prüfte die Eingangstür. Sie war immer noch verschlossen. Eine kleine Woge der Erleichterung überkam mich. Aber nur kurz. Nur bis zu dem Moment, als das Surren des Smartphones über die Dielen hallte.

  Noch 5 Stunden!

  Ich weiß nicht wie oft ich die Nachricht gelesen hatte, die auf dem Bildschirm erschienen war. Das Gerät war völlig frei von Apps oder anderen Programmen. Geschweige, dass irgendwelche Kontakte darauf gespeichert waren. Die Nummer des SMS-Absenders war anonym. Jedes Mal, wenn ich den Sperrbildschirm betrachtete, strahlten mir die Zahlen entgegen, die bedrohlich runterzählten. Zuerst hielt ich die ganze Sache für einen makabren Witz. Justin hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Ich nahm an, dass er vielleicht böse auf mich gewesen sei, da ich mich gestern nicht mehr gemeldet hatte, und versuchte die Nachricht zu ignorieren.

  Doch dann erhielt ich nach dem Training eine weitere Nachricht. Eine MMS um genau zu sein. Sie zeigte Stefanie und mich. Darunter stand: 3 Stunden!

  Ich erinnerte mich noch gut an diesen Tag. Wir hatten gerade unsere neuen Cheer-Uniformen bekommen und posierten Arm in Arm in der Umkleide. Aber wir posierten nicht für den Fotografen, sondern hatten vor dem Spiegel gestanden. In meinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. Die Umkleide war voll damals und es herrschte helle Aufregung, weil alle ihre Uniformen anprobierten. Wer hatte an diesem Tag dieses Foto geschossen? Und was zur Hölle würde in 3 Stunden passieren? Mir wurde schwindelig.

  »Kim.« Der Coach riss mich aus meinen Gedanken. Schnell ließ ich das Gerät in der Vordertasche meines Hoodies verschwinden. »Kommst du bitte nochmal.« Vivi und Mandy kicherten als ich an ihnen vorbei ging.

  »Ob sie jetzt auch die Beine für ihn breit macht?« hörte ich Mandy noch übertrieben laut sagen und etwas, das sich nach einem Abklatschen anhörte. Es war nie ein Geheimnis, dass Stefanie mit Coach Nick eine flüchtige Affäre gehabt hatte. Hinsichtlich der Bemerkung von Mandy betrat ich mit einem Kloß im Hals die Halle. Nick hatte die Matten noch nicht weggeräumt.

  »Ich möchte, dass du heute zwei Stunden dranhängst« sagte er ohne mich anzugucken. Als ich nichts erwiderte, blickte er auf. Ich konnte seine Laune nicht deuten. Er kam näher und berührte mich an der Hüfte. »Ich möchte dein Tumbling nochmal sehen.«

  »Dafür bin ich nicht mehr warm genug« entgegnete ich und wand mich aus seinem Griff.

  »Genau das ist es!« sagte er schroff. »Du bist zu steif. Deine Überschläge sind nicht weich genug. Man gewinnt den Eindruck, du hättest A…«

  »Ich habe keine Angst« fiel ich ihm in das Word und riss mir den Hoodie über den Kopf. Das Handy fiel zu Boden. Schnell hob ich es auf, steckte es zwischen den Stoff und legte beides auf einer Bank ab. Seine Mundwinkel zuckten. »Du musst dich besser dehnen. Ich hatte für Stefanie zusätzliches Equipment besorgt. Ich denke sie wird nichts mehr dagegen haben, wenn ich es an dich weitergebe.« sagte er und verschwand im Geräteraum. Ein gedämpftes Vibrieren ertönte. Eine weitere MMS war eingegangen. Das Bild zeigte eine kleine Flasche Laxativa. Ein stark abführendes Mittel. Zu stark! Darunter der Text: Zwei gegen eins! Schnell ließ ich das Smartphone wieder verschwinden. In mir stieg Übelkeit auf. »Das kann nicht sein« formte ich beinahe tonlos mit den Lippen.

  »Alles okay, Kim? Du siehst blass aus!« Der Coach stand vor mir. Ich durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Die Flasche mit dem falschen Abführmittel würde damals von der Polizei konfisziert. Niemand, nicht mal die Medien, konnte wissen, welcher Hersteller verwendet wurde.

  »Ich glaube, ich habe mich vorhin gezerrt. Ist ganz schön schmerzhaft.« log ich und rieb die Stelle, an der ich tatsächlich vor ein paar Tagen ein Ziehen bemerkt hatte.

  »Lass mal sehen.« Er taste die Innenseite meines Oberschenkels ab und kam mit seinen Fingern meinem Schritt gefährlich nahe. Ich zog scharf die Luft ein. »Ausnahmsweise« sagte er »heute mal keine Überstunden. Nimm die hier.« Er kramte in seiner Tasche und gab mir zwei Tabletten in die Hand. »Die sind entzündungshemmend und lockern die Muskeln. Sag es aber keinem! Die sind nicht ganz legal.« Er zwinkerte mir zu. »Am besten heute Abend eine und dann morgen Mittag.« Ich presste die Lippen aufeinander und nickte stillschweigend. Dann entließ er mich und ich atmete auf.

  Auf dem Weg nach draußen entsorgte ich die Tabletten in der Mädchentoilette. Coach Nick war Apotheker, durfte aber -aus welchen Gründen auch immer – nicht als solcher tätig sein. Seine selbst gepantschten Pillen würde ich in keinem Fall nehmen. Stefanie hatte gewusst, zu was er in der Lage sei und hatte mich stets davor gewarnt.

  Meine Hände zitterten, als ich das Telefon hervorholte. Kurz überlegte ich, was passieren könnte, wenn ich es einfach ignorieren und im nächsten Container entsorgen würde. Jemand könnte es finden und die Fotos sehen. Aber nicht, wenn ich sie löschte! Die Galerie zeigte die 3 Bilder, die ich bereits gesehen hatte. Das Abführmittel, das Bild von Stefanie und mir in der Umkleide und das von mir schlafend im Bett. Bei diesem Bild bekam ich wieder eine Gänsehaut. »Er oder sie beobachtet mich!« schlussfolgerte ich. Ich versuchte mich nicht umzusehen. Das hier war ein Psychospielchen. Als hätte es meine Gedanken gelesen, erschien eine weitere Nachricht auf dem Display.

  In einer Stunde werden es alle wissen. Nur mit Mühe konnte ich eine Panikattacke unterdrücken. Der Countdown galt mir! Da die Galerie das letzte Bild zuerst anzeigte, konnte ich mir nun auch einen Reim daraus machen. Jemand wollte mich sterben sehen. Und zwar auf die gleiche Weise, wie Stefanie. Der Akku meldete sich. Mir lief die Zeit davon. Ich beschloss mit einer SMS zu antworten und tippte schnell Was willst du? in das Telefon. Wieder ertönte der Signalton, dass der Akku sich bald verabschieden würde. Ich hatte kein Ladekabel bei mir, geschweige eine andere Möglichkeit ihn zu laden. Nur zuhause.

  Zu allem Überfluss hatte ich mich heute Morgen auch noch ausgesperrt. Das bemerkte ich, als der Schlüssel nicht an der Stelle im Rucksack steckt, wo ich ihn sonst verstaute. Und Justin, der einen Zweitschlüssel hatte, war im Football-Camp über das Wochenende. Ich fragte mich, ob Stefanie je so verzweifelt gewirkt hatte, wie ich mich gerade fühlte. Bei ihr sah immer alles so einfach aus. Ich nahm das fremde Smartphone aus der Tasche und öffnete die MMS, die uns zusammen zeigte. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Kraftlos ließ ich mich die Flurwand runtergleiten. Das war einer der letzten glücklichen Momente, die ich noch mit ihr hatte. Bevor sich das Blatt wendete und ich alle unsere Bilder von meinem eigenen Handy gelöscht hatte. Es gab nun kein uns oder wir mehr… Und vermutlich auch bald kein ich mehr.

  Eine Mitteilung erreichte mich, kurz bevor das Warnsignal für den schwachen Akku erneut ertönte. Die Antwort!

  Soll es niemand sehen, dann musst du gehen! Jetzt fing der Erpresser auch noch an zu reimen. Ich atmete mehrmals tief ein. Versuchte mich irgendwie zu beruhigen. Versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Doch ein Schwall der Erinnerungen erfasste mich. Und auf dem Weg zum Auto, weinte ich lautlos, um bloß nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn zu erregen. Ich darf jetzt kein Risiko mehr eingehen, dachte ich. Das hier ist keine harmlose Neckerei. Ich muss nachsehen, ob der letzte Beweis noch an der Stelle war, wo ich ihn gelassen hatte.

  »Sie hat mich darum gebeten« rief ich mir während der Autofahrt immer wieder in Erinnerung. »Es war ihre Entscheidung.«

  Sie war schwanger. Das hatte die Polizei ziemlich schnell an die Medien kommuniziert, denn die ganze Stadt hatte sich damals gefragt, wie ein so junges Mädchen den Tod finden konnte. Ein Unfall hieß es später. Eine Überdosis.

  Ich erreichte die Hütte, als es bereits dämmerte. Vor der Tür war immer noch das Sigel der Polizei, welches das kleine Wochenendhaus als Tatort kennzeichnete. Es lag so idyllisch, dass man nicht im Ansatz hätte vermuten können, dass hier etwas so Schreckliches passiert war. Ich kletterte durch die kleine Luke auf der Rückseite des Hauses, durch die man in den Keller kam. Hier hatte jemand schlampig gearbeitet, denn hier war kein Sigel. Ich betätigte die Taschenlampen-Funktion meines eigenen Smartphones, um mir nicht an der niedrigen Decke den Kopf zu stoßen. Doch statt Licht in den schummrigen Kellerraum zu bringen, spürte ich einen Schlag auf meinen Hinterkopf und die Umgebung wurde finster.

  Die plötzlichen Kopfschmerzen und das Dröhnen meiner Schädeldecke ließen mich wieder zu Bewusstsein kommen. Zunächst orientierungslos, erkannte ich nach einigen Sekunden, dass ich immer noch im Keller der Hütte war. Jemand hatte mich auf einen Stuhl verfrachtet und daran festgebunden. Allerdings zu fest. Meine Hände, die hinter der Stuhllehne zusammengebunden waren, kribbelten bereits aufgrund der mangelnden Durchblutung. Ich stöhnte, als ich meinen Kopf und Nacken bewegte. Gerade als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, knipste jemand ein Licht an. Eine Schreibtischlampe auf einem Tisch beleuchtete ein kleines braunes Fläschchen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich mich im Raum um.

  »Wieso…?« begann ich krächzend, als ich eine Silhouette hinter dem Lichtkegel der Lampe erkannte. Doch meine Stimme brach ab, als mein Kopf ihr Echo zurückwarf. Ich vernahm ein dumpfes Lachen. »Coach? Sind Sie das?« fragte ich, als ich die Stimme zu erkennen glaubte. Dann trat Nick ins Licht, setzte sich wie gewohnt auf die Tischkannte und legte etwas neben das Fläschchen. Eine Spritze. »Was wollen Sie von mir?« versuchte ich die Höflichkeitsform beizubehalten.

  »Kannst du dir das nicht denken?« Mit leichter Verzögerung setzte er noch »Die Wahrheit!« nach.

  Natürlich. Er war es, der mir das das Telefon untergejubelt hatte. Dazu hatte er mehrere Gelegenheiten gehabt. Er besaß schließlich einen Generalschlüssel für die Halle. Er konnte sich jederzeit an unserem Spint bedienen. Oder etwas reinlegen. So musste er auch an meinen Schlüsselgekommen sein. Vielleicht hatte er auch den von Justin genommen?

  »Sie war schwanger« presste ich heraus »Sie hat selbst entschieden, dass sie das Zeug nehmen wollte.«

  »Schwachsinn!« fuhr er mich so laut an, dass es in meinem Kopf schmerzte und ich unwillkürlich zusammenzuckte. »Ich meine nicht diesen Unfug vom Unfall, der in den Medien stand.«

  »Ich weiß nicht, was sie meinen.«

Er griff langsam in die Brusttasche seines Sport-Sakkos und präsentierte mir triumphierend ein ausgedrucktes Foto einer offensichtlichen versteckten Kamera. Er hatte es gefunden!

  »Ich habe hier den Beweis, dass du Stefanie die Überdosis verabreicht hast. Und nicht sie selbst.« Nick nahm die Spritze und zog sie mit der Flüssigkeit aus dem Fläschchen auf.

  »Nein« protestierte ich. Doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.

  »Wenn ich gewusst hätte, dass…«

  »Bitte nicht« schrie ich, als ich begriff. Er raufte sich die Haare und fing an nervös auf und ab zu gehen.

  »Sie kam zu mir und sagte, sie wolle es für dich.« Er lachte nervös. »Das war meine Chance dich unauffällig aus dem Weg zu räumen.« Ich antwortete nicht. »Das Motiv für einen Selbstmord wäre doch klar gewesen, oder? Du, die ständig im Schatten ihrer begabten Zwillingsschwester gestanden hatte. Stefanie hatte so viel Talent. Die einzige, die ihr im Weg stand, warst du.« Seine Stimme kippte. Weinte er etwa? War es mehr als nur eine Affäre für ihn? »Wenn ich nur im Geringsten geahnt hätte, dass sie schwanger war.« Er zog die Nase hoch. »Jetzt ist Stefanie tot…« er machte eine Pause »…und mein Kind auch!«

  »Es war nicht deins« sagte ich leise. Er hielt in seiner Bewegung inne. Ungläubig schüttelte Nick den Kopf.

  »Das ist nicht wahr!«

  »Es ist von Justin« sagte ich etwas lauter.

  »Nein, sie hätte mich niemals betrogen.« Er machte weiter, wo er vor ein paar Sekunden aufgehört hatte und klopfte die Luftbläschen aus der Spritze. Dann machte er sich daran, meinen Arm frei zu legen. »Ihre beiden Leben, gegen deins.«

  »Stefanie hat dich nicht betrogen« hauchte ich, als sein Gesicht nah neben meinem war. Seine Augen weiteten sich.

  »Ich bin Stefanie.«

  »Aber…«

  »Kim hat mich gebeten nichts zu sagen. Irgendwo im Internet hatte sie diesen Unsinn her, dass man mit starkem Abführmittel ein Kind abtreiben könne. Und weil sie wusste, dass du Apotheker bist, hat sie mich gebeten es von dir zu besorgen.« Ich schluchzte. »Sie wusste, dass es ein Risiko war. Sie wusste, dass eine Überdosierung tödlich sein könnte.«

  »Du lügst!« In seiner Stimme war Zweifel zu hören.

  »Kim wollte Justin schützen. Ein Kind hätte all seine Karierepläne vernichtet. Als wir merkten, dass es schief ging, sagte sie, dass ich an ihrer Stelle weiterleben solle. Also sagte ich, dass sie ich sei. Sie wollte als Stefanie sterben.« Ich witterte meine Chance. »Binde mich los!« bettelte ich »und ich beweise dir, dass ich sie bin. Dass ich Stefanie bin.«

  Nick zögerte. Dann schnitt er mit langsamen Bewegungen den Kabelbinder durch, mit dem er mich an der Stuhllehne festgebunden hatte. Ich rieb erst meine Handgelenke und zog dann mein Oberteil hoch und den Bund meiner Jeans ein Stück runter. Als Nick die tätowierte Schleife sah, entspannte er sich sichtlich. Er ließ den Arm mit der Spritze sinken.

  »Oh Gott, beinahe hätte ich erneut einen Fehler gemacht« sagte er und sank auf die Knie. Die Spritze mit dem Gift ließ er auf den Bodenfallen. Er schmiegte seinen Kopf an meinen Bauch und küsste die Stelle, wo das Tattoo war. Mein Herz klopfte so laut, dass ich befürchtete er könnte es hören. Meinen Blick auf die Spritze gerichtet, kniete ich mich ebenfalls hin. Er riss mich an sich und drückte mich fester an seine Brust. »Bitte nimm mir das nicht böse« sagte er schluchzend in mein Haar. Ich zögerte, wusste nicht wie ich darauf reagieren sollte. »Bitte« flehte er und drückte mich noch fester an seine Brust. »Versprich mir, dass du niemanden etwas davon erzählen wirst.« Immer fester zogen sich seine Arme um meinen Körper. Wie eine Schlange, die dabei war ihre Beute zu erwürgen. »Versprich es!« Durch seine Schraubstock-artigen Arme war es mir kaum noch möglich zu atmen. Ich sah nur eine Möglichkeit aus dieser Situation herauszukommen. Ich griff mit der freien Hand nach der Spritze und stach sie Nick in den unteren Teil des Rückens. Als er mich vor Schreck aus seiner Presse entließ, hatte ich bereits den gesamten Inhalt herausgedrückt. Er fiel zurück und landete auf seinem Hintern. Fassungslos sah er mich an. »Gelogen!« presste er noch hervor, bevor er völlig in sich zusammensackte.

  Schwer atmend richtete ich mich auf. Doch es dauerte nicht lange, bis ich mich einiger Maßen gefangen hatte. Erneut führte ich die Spritze in Nicks linken Oberarm ein. Den Einstich an seinem Rücken versuchte ich mit seinem eigenen Fingernagel aufzukratzen, damit es nach einem Insektenstich aussah. Dann nahm ich eine alte Tischdecke aus dem Regal, wischte meine Fingerabdrücke von der Spritze und legte sie in seine rechte Hand. Eine Verzweiflungstat. Ein Selbstmord. Ganz wie bei Romeo und Julia, dachte ich mir. Das hätte Stefanie sicher gefallen. Ich ertappte mich, wie ich grinste. Dann stellte ich den Stuhl an den Tisch und steckte Messer, Ausdruck und Kabelbinder in die Tasche. Dafür musste ich nun ein neues Versteck suchen.

  Als ich aus der Kellerluke geklettert war, stieg schon wieder die Übelkeit in mir auf. Ich strich mir zur Beruhigung über den Bauch. Das Klebetattoo begann bereits abzublättern. In ein paar Monaten wird man den Babybauch sehen. Dann würde mich sicherlich niemand mehr mit meiner Zwillingsschwester vergleichen!

Autor: Mareike Elfenbüttel / melfenbuettel@web.de

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