AlishaEgo

Ego [ˈeːɡo] , lat. „ich“

Meine Hände zitterten. Das sparsame Licht der Deckenlampe schien sich auf einmal um mich herum zu drehen und es fiel mir schwer, überhaupt aufrecht zu stehen. Was hatte ich getan? Die Schmerzen innerhalb meine Schädels pochten gegen meine Stirn wie ein Presslufthammer. Ich musste hier weg, war mein letzter Gedanke bevor ich auf dem Boden aufschlug.

„Was zur Hölle ist denn nur los heute?“
Dieser Tag fühlte sich an wie eine Achterbahn, die sich immer nur bergab bewegte. Nach einem anstrengenden Tag in der Praxis, waren mir zunächst meine Einkäufe kurz vor dem Auto aus dem Arm gefallen und nun funktionierte das Türschloss zu meiner Wohnung nicht mehr richtig. Ein weiteres Mal versuchte ich den Schlüssel zu drehen, ohne ihn dabei abzubrechen. Meine Einkäufe dabei zwischen meinem Oberkörper, dem linken Ellenbogen und meinem Kinn eingeklemmt.
„Verdammte Scheiße!“, wollte ich gerade ausrufen, als plötzlich jemand hinter mich trat. „Kann ich Ihnen helfen?“ Das Hilfsangebot kam so plötzlich, dass mir mein Einkauf fast doch noch aus den Händen gefallen wäre. Noch während ich mich umwandte, nahm die hilfsbereite Stimme nicht nur menschliche Gestalt an, sondern hatte mir auch schon diverse Hafermilchpackungen aus dem Arm genommen.
Vor mir stand die hübscheste Frau, die ich mir vorstellen konnte. Sie war größer als ich, hatte lange brünette Haare und stechend blaue Augen. Sie trug ein schlichtes weites Oberteil, unter dem Stoff konnte ich erahnen, wie schön auch der Rest ihres Körpers war.
Scheinbar starrte ich sie länger an als mir selbst bewusst war, sah sie sich doch genötigt ihre Frage noch einmal zu stellen: „Kann ich Ihnen helfen?“ Ich spürte wie mir warm wurde und der Gedanke an meine purpurroten Wangen machten es nicht einfacher eine Antwort zu formulieren. „Oh man, danke. Ich meine, du hilfst mir ja schon, also Sie. Moment, tut mir leid. Ich bin Franziska und meine Tür klemmt. Und wer bist du?“ Was für ein zusammengeworfener Blödsinn. Wahnsinn. „Hi, ich bin Esther“, sagte sie lächelnd und brachte mich damit abermals zum Schweigen. Mit ihrem Lächeln entblößte sie strahlend weiße Zähne, die unten etwas schief standen und oben etwas zu groß waren, was aber nur dazu führte, dass ihr Gesicht noch schöner wurde.
Während ich noch über ihre Lippen nachdachte, drückte sie mir auf einmal die Packungen zurück in die Arme und nahm mir den Schlüssel zu meiner Wohnung ab. „Wenn ich darf.. ich bin manchmal ganz gut mit sowas“. Für ein paar Sekunden machte sie sich an meinem Türknauf zu schaffen. Dann schnappte die Tür auf und der Weg in meine Wohnung lag frei. „Bitteschön!“, strahlend drehte sie sich um, legte mir den Schlüssel auf meinen Einkauf und verschwand die Treppe hoch. Kurz überlegte ich ihr hinterher zu rufen, war dann aber doch zu schüchtern und entschied mich meine Wohnung zu betreten und dieses Zusammentreffen besser schnell wieder zu vergessen.

Eine Woche später kam ich wieder spät von der Arbeit nachhause, den Einkauf in den Händen und dem einzigen Wunsch, bald auf dem Sofa zu liegen. Da wurde ich vor meiner Tür auf einmal grob angerempelt, so dass mir die Tomaten auf den Boden fielen und in alle Richtungen kullerten. Wütend drehte ich mich um, bereit mich lauthals über das rücksichtslose Verhalten aufzuregen. Die Zielperson meiner Wut war währenddessen schon im oberen Teil des Treppenhauses angekommen und verschwand um die nächste Ecke. Ich konnte nur noch brünette Locken sehen. Fast hatte ich die Begegnung mit ihr vor ein paar Tagen vergessen. Esther. Ich wusste, es gab für mich keinen Grund, ein besonderes Verhalten von ihrer Seite zu erwarten. Trotzdem fragte ich mich, warum sie sich heute so ganz anders verhalten hatte als bei unserer letzten Begegnung. Sie musste mich doch wiedererkannt haben. Naja, und wenn schon. Wahrscheinlich hatte sie mich schon längst vergessen. Während ich mich zurück zu meiner Wohnungstür wandte, bemerkte ich, dass zwischen meinen Tomaten noch etwas anderes auf dem Boden lag. Klein und eckig lag es auf dem Boden, der Bildschirm dunkel. Es war ein Handy. Kein Smartphone und auch sonst nicht neu. Komischerweise erinnerte es mich an das Handy, das ich selbst zu meiner Schulzeit benutzt hatte. Ein Klapphandy, das keinen Internetzugang hatte, aber immerhin schon eine Kamera.
Ohne viel darüber nachzudenken, nahm ich es in die Hand und mit in die Wohnung. Es musste Esther heruntergefallen sein als sie mich anrempelte. Aber woher sollte ich wissen in welcher der vielen Wohnungen in diesem Gebäude sie verschwunden war? Wie sollte ich ihr dieses persönliche Stück Besitz zurückgeben können?
Leicht beflügelt durch die Vorstellung nun einen Grund zu haben, Esther zu finden und wieder mit ihr zu reden, entschied ich mich, in dem Handy nach einer Nummer zu suchen, die mir weiterhelfen könnte. Wie gut, dass diese alten Dinger noch keine nennenswerten Tastensperren zur Sicherung der Privatsphäre vorweisen konnten.
Mit der Rauten-Taste entriegelte ich das Handy und drückte mich zu dem Adressbuch durch. Dort fand ich – nichts. Keine einzige Nummer war eingespeichert. Ich versuchte es im Verlauf der angenommenen und ausgegangenen Anrufe, aber auch da fand ich nur gähnende Leere.
Irgendwie kam mir das sehr seltsam vor. Wer hatte denn ein Handy und benutzte es nicht? Oder war Esther vielleicht eine Sicherheitsfanatikerin, die lieber alles im digitalen Raum löscht, um sich unsichtbar zu machen? Vielleicht dealte sie ja auch einfach mit Drogen und hatte das Handy nur für Geschäfte? In Anbetracht des alten Klapphandys ergab das für mich fast schon am meisten Sinn.
Enttäuscht wurde mir klar, dass es keine Möglichkeit gab, Esther mit dem Ding zu erreichen und es ihr bei einem Treffen jemals zurückzugeben. Sollte ich den Rest des Handys auch noch durchsuchen? Ich fühlte mich schlecht bei dem Gedanken. Es erschien mir so als würde ich zu sehr in ihre Privatsphäre eingreifen. Andererseits befand sich bisher nichts auf dem Handy – die Wahrscheinlichkeit ihre Privatsphäre mit weiterer Schnüffelei zu verletzen war deshalb wohl eher gering.
Ich entriegelte das Handy wieder, ein leeres Gefühl im Magen wie während einer Flugzeuglandung. Mein Bauch spürte, dass ich etwas verbotenes tat, das ich unter normalen Umständen als absolut verwerflich betrachtet hätte. Aber ich tat das ja nicht aus Neugier, sondern um Esther ihr Handy zurückgeben zu können. Es ging mir dabei nicht um.. Meine Gedanken wurden unterbrochen als ich die Fotos auf dem Handy öffnete. Denn mir strahlte ein Gesicht entgegen, das mir nur allzu bekannt war. Das Bild zeigte –

Schmerzen. Ich fühlte überall in meinem Körper Schmerzen. Keine physischen, meine Emotionen brannten wie Feuer unter meiner Haut. Ich wollte in Flammen aufgehen. Sterben. Genau jetzt.

– nichts. Ich musste mich geirrt haben. Kurz hatte ich mir eingebildet, mich selbst im Bildschirm des Mobiltelefons erkannt zu haben, dann färbte er sich schwarz. Akku leer.
Überarbeitet. Du bist überarbeitet und rennst einem Phantom nach, von dem du nur den Vornamen kennst. Was ist bloß los mit dir?
Ich fühlte mich müde, der Tag lag wie eine schwere Decke um meine Schultern. Es erschien mir sinnlos, jetzt noch irgendetwas zu tun. Geschweige denn das Handy in meiner Hand weiter anzustarren. Müde ließ ich mich auf meinem Sofa nieder und schlief fast sofort ein. Bevor ich mich dem Schlaf komplett hingab, hatte ich das Gefühl meine Wohnungstür klicken gehört zu haben. Aber das war mir in diesem Moment egal.

Sonnenstrahlen weckten mich am Morgen. Ich musste niesen durch das grelle Licht und spürte die Erschütterung durch meinen Kopf dröhnen. Langsam setzte ich mich auf. Es war Samstag und trotzdem war ich schon um sechs Uhr wach. Normalerweise hätte ich mich über diesen Umstand aufgeregt, aber da ich unwahrscheinlich tief und gut geschlafen hatte, freute ich mich einfach über das gute Wetter auf meinem Balkon. Wären da nicht diese furchtbaren Kopfschmerzen gewesen. „Wenn du auch auf dem kleinen Sofa einschläfst, kannst du morgens ja nur mit Kopfschmerzen aufwachen. Wir wollen gar nicht wissen wie du die ganze Nacht da drauf gelegen hast“, dachte ich mir, während ich mich umzog, um mir einen Kaffee zu machen. Ich schlurfte, nun in einem bequemen Sommerkleid, zurück in die Küche, füllte Kaffeepulver in meine Espressokanne und freute mich auf den Duft, der gleich überall in meiner Wohnung liegen würde. Während der Kaffee vor sich hin kochte, lief ich schnell ins Treppenhaus und zu meinem Briefkasten im Erdgeschoss. Ich hatte dabei nur Socken an, weil es mir nie sinnvoll erschien für so kurze Wege Schuhe anzuziehen, musste aber sofort an meine Großmutter denken, die mir einen kurzen Vortrag deshalb halten würde. Ich musste lächeln und vermisste sie, nahm mir vor, sie diese Woche noch zu besuchen. Schnell sammelte ich die wenigen Briefe zusammen und rannte wieder nach oben, bevor sich mein Kaffee selbstständig machen konnte.
Gerade zum richtigen Zeitpunkt nahm ich die Kanne von der heißen Herdplatte und goß mir die dicke Flüssigkeit in eine kleine Espressotasse. Meine Mutter hatte sie mir vor Jahren geschenkt, damit sie mich jeden Morgen an Rom erinnern konnte. An das viel zu heiße Wetter und die kleine Wohnung in der Nähe vom Pantheon, die ich niemals vergessen würde.
Währenddessen ging ich meine Post durch. Hauptsächlich Rechnungen und Werbung. Nur eine Postkarte stach ungewöhnlich bunt und persönlich aus dem Haufen hervor.
Ich konnte mich nicht erinnern, wann mir jemand das letzte Mal eine Postkarte geschickt hatte. Meine wenigen Freunde, die sich regelmäßig bei mir meldeten, obwohl ich eine Katastrophe im Zurückmelden war, schickten mir Fotos aus dem Urlaub in der Regel per WhatsApp.
Verwirrt aber auch sehr glücklich über die Überraschung nahm ich die Karte in die Hand. Sie zeigte einen kristallklaren See in den Bergen. Die Sonne schien und ließ das Wasser glitzern. Jeder, der diese Szenerie gesehen hatte, hätte sich sicher eine Postkarte mit diesem Motiv gewünscht. Der Ort kam mir merkwürdig bekannt vor und mir fiel auf, dass meine Einschätzung falsch gewesen war. Ich hielt keine Postkarte in den Händen, zumindest keine gekaufte. Es war ein Foto, selbst geschossen vermutlich und auf blauen Karton geklebt. Ich drehte die selbstgebastelte Karte um, gespannt, wer mir solch eine Freude machen würde. Im nächsten Moment verwandelte sich das glückliche Kribbeln in meinem Bauch zu einem schweren Knoten.

Ich hatte das verdient. Ich hatte es verdient, ich war mir sicher. Wenn ich wirklich die Person war, die ich glaubte zu sein.

Endlich fielen mir die Geschehnisse des gestrigen Abends wieder ein. Esther, die mich im Treppenhaus umgerannt hatte. Das Handy, mit dem ich gehofft hatte, sie wiedersehen zu können. Das Handy auf dem ich kurz mich selbst gesehen hatte. Oder hatte ich? Mit zeitlichem Abstand zu meiner Erinnerung erschien mir diese immer absurder. Ich war einfach überarbeitet und hatte halluziniert. Ja, so musste es gewesen sein. Apropos des Handys… Wo war das eigentlich hin?
Ich suchte auf dem Sofa, unter dem Sofa, zwischen den Kissen, unter den Decken, dem Teppich, überall. Doch das Handy fand ich nicht wieder.
Eigenartig. Ich war mir sicher, ich hatte es in der Hand gehabt als ich einschlief. Ich suchte weiter im Rest meiner Wohnung, sogar im Bad, obwohl ich dort bisher noch gar keinen Fuß hineingesetzt hatte. Das Handy blieb verschwunden. Ich spürte wie mein Puls anstieg und mein Körper heiß wurde. Panik befiel langsam meinen Körper und kroch mir in jede Faser. Wie konnte das sein?
In diesem Moment klingelte es an der Tür. Vertieft in meine Gedanken über das Handy, zuckte ich bei dem grellen Geräusch zusammen. Mein ganzer Körper zitterte durch die Menge an Adrenalin, die sich in meinem Körper befand. Ausgelöst durch die Gedanken, die ich mir selbst machte.
Ich versuchte mich zu beruhigen, atmete tief in den Bauch und versuchte an meinen besten Freund zu denken, der mich vor vielen Jahren aus meiner ersten Panikattacke geholt hatte. Es klingelte wieder. Ich fuhr mir durch die Haare und ging zur Tür, in der Hoffnung nicht so schlimm auszusehen wie ich mich fühlte. Während ich die Tür öffnete, stürmte mein unerwarteter Besuch auch schon in meine Wohnung.
„Wo warst du? Ich habe dich sicher zehntausend Mal angerufen. Wir waren heute zum Frühstück verabredet! Du kannst wirklich froh sein, dass du eine so nette Schwester hast. Ich hab’ Croissants mitgebracht und Marmelade aus unserem Lieblingsladen. Machst du mir einen Kaffee? Ich sterbe gleich vor..“, Leonas Redefluss kam erst zum Stoppen als sie sich in der Küche umdrehte und mir endlich ins Gesicht sah. Ihr Lächeln verschwand und stattdessen zogen sich ihre Augenbrauen zu einem besorgten Stirnrunzeln zusammen. Sie stemmte ihre langen Arme in ihre schlanke Hüfte und sah mich eindringlich an. „Was ist passiert?“
Gute Frage. Aber wie sollte ich sie beantworten? Ich wusste ja selbst nicht, was tatsächlich passiert war. Oder auch nicht passiert war.
Und dann tat Leona etwas, das mich mitten ins Herz traf. Sie kam auf mich zu, die Nase nah vor meinem Mund und sagte: „Hauch mich an“ – „Was soll das denn? Denkst du etwa, ich bin betrunken?“ – „Franziska, hör auf mich anzulügen. Deine roten Augen, das blasse Gesicht. Hast du Kopfschmerzen? Ja? Oh mann ey, ich hatte so gehofft, dieses Thema wäre endlich vorbei. Drei Jahre. Drei fucking Jahre, Franziska.“ Ich hingegen verstand die Welt nicht mehr. Wovon sprach meine Schwester da?
„Wie konntest du jetzt nur wieder damit anfangen? Weißt du, vielleicht ist es auch gut. Es wird vielleicht Zeit, dass wir endlich darüber reden.“ Sie sah mir wieder in die Augen. Besorgnis, Ärger lagen in ihrem Blick und noch etwas anderes, das ich nicht zuordnen konnte.
„Wovon sprichst du überhaupt?“, antwortete ich hingegen.
Und Leonas Gesicht verzog sich als hätte ich ihr zielsicher in den Magen geschlagen.
Sie schien zu überlegen, während ich spürte, dass meine Kopfschmerzen wieder schlimmer wurden. Unerträglich laut pochte der Schmerz in meinem Kopf.
Als Leona wieder mit mir sprach, klang sie übertrieben ruhig und fürsorglich „Weißt du was? Wir frühstücken jetzt erstmal. Ich gehe kurz telefonieren und dann reden wir weiter, alles klar?“
Was sollte das denn jetzt? Eben sprach sie noch zusammenhangslosen Kram und sah dabei aus als wäre ihre Welt untergegangen und jetzt sollten wir einfach frühstücken? So als hätte sie mich gerade nicht des Alkoholismus bezichtigt?
„Nenene, was bitte soll das gerade? Versuchst du mich zu therapieren, oder was? Ich habe keine Lust auf deine komischen Gedankenspiele und Manipulationsversuche. Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass du deine Arbeit zuhause lassen sollst, wenn wir zusammen sind?“
Meine Schwester war Psychotherapeutin. Sogar eine verdammt gute. Das änderte jedoch nichts daran, dass mich ihr Verhalten mir gegenüber in den Wahnsinn treiben konnte. Und dass ich nicht von ihr durch ihre Therapeutenaugen betrachtet werden wollte.
„Ich denke, es wäre besser, du gehst jetzt. Du hast Recht. Ich habe Kopfschmerzen. Und lieber meine Ruhe.“
Finster sah Leona mich an. Dann nahm sie ihre Tasche von meinem Esstisch und verschwand wieder durch meine Wohnungstür, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Ich war erschöpft. Die vielen widersprüchlichen und verwirrenden Eindrücke raubten mich meiner ganzen Energie. Ich setzte mich aufs Sofa und ließ die letzten vierundzwanzig Stunden Revue passieren.
Das gefundene Handy, das Foto, mein Morgen, meine Schwester. Irgendwas ergab hier überhaupt keinen Sinn. Aber was? Und vor allem – warum?
Auf einmal hörte ich eine leise Melodie. Einen Klingelton.
Sofort schoß mein Puls wieder in die Höhe. Mein Handy war immer auf stumm gestellt. Und ich war mir sicher, dass ich niemals diesen Klingelton ausgesucht hatte. Denn ich war mittlerweile zu alt, um mir schlechte Musikklingeltöne wie es sie früher auf VIVA zum Herunterladen gab, für mein Handy einzustellen.
Woher kam das? Mein Blick wanderte durch meine Wohnung. Die Balkontür, meine Pflanzen, daneben der Smart TV mit dem ich noch nie Fernsehen geguckt hatte. Der Wohnzimmertisch, das Sofa, der kleine Esstisch und die Küche. Die Küche. Ich war mir sicher, das Klingeln kam aus dieser Richtung. Ich stand auf und lief die wenigen Schritte zu meiner Küche hinüber. Obwohl Küche wahrscheinlich übertrieben war. Wohn- und Esszimmer waren ein einziger Raum in meiner Wohnung und meine Küche glich eher einer kleinen Kochnische, die ich durch eine Kräuterbank am Fenster versuchte zu verschönern. Das Klingeln war hier verständlicher, aber immer noch dumpf. Wo zur Hölle sollte dieses Handy nur sein? Mit dem albernen Gedanken, dass man solche Dinge ja schon mal aus Versehen in den Kühlschrank legte, öffnete ich diesen. Und tatsächlich. Da lag das alte Klapphandy vom gestrigen Abend. Mein Kühlschrank war ansonsten nur sporadisch gefüllt. Ich ging fast jeden Tag nur das einkaufen, was ich auch vor hatte noch am gleichen Tag zu essen. Dennoch kam mir etwas komisch vor. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff ich zu dem Handy. Es hatte bereits aufgehört zu klingeln. Aber der Anrufer hatte eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen, ließ mich der Bildschirm wissen.
Da ich es als einzig logischen Schritt in diesem Moment betrachtete, drückte ich den grünen Hörer, um die Nachricht abzuhören. Die Stimme, die folgte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Meine Augen waren schwer und schmerzten. Ich wachte in einem kleinen Raum auf einem hässlichen grauen Bett auf. Ich wusste nicht, wo ich war. Aber ich war mir sicher, dass ich hier nicht sein wollte oder sollte.

„Hallo Franziska. Schön, dass du meine Nachricht gefunden hast. Dann können wir ja endlich beginnen, deine Erinnerungen zurückzuholen.“
Diese Stimme. Ich war mir sicher. Das war Esther.
„Bitte geh in dein Schlafzimmer und öffne die obere Schublade deines Nachtschränkchens. Dort findest du den ersten Hinweis. Ich bin mir sicher, er wird dir bekannt vorkommen. Bis bald.“
Sie machte ein Geräusch als gäbe sie mir einen Luftkuss durch das Telefon. Dann war die Nachricht vorbei.
Auf einmal wurde ich merkwürdig ruhig. Beim Hören der Nachricht, war ich mir sicher gewesen, gleich zu hyperventilieren. Das Gegenteil trat stattdessen ein.
Wie ferngesteuert betrat ich mein Schlafzimmer, das neben dem Bad direkt an die Küche angrenzte.
Ich ging zu meinem türkis gestrichenen Nachtschränkchen, das ich erst vor wenigen Monaten günstig auf einem Flohmarkt ergattert hatte. Und öffnete die kleine Schublade oberhalb. Neben meinem Notizbuch und einem Bleistift, welche ich beide erwartet hatte, lag dort auf eine Fotografie. Sie war in der Nacht gemacht worden mit einem Blitz. Und das Motiv war grauenhaft klar erkennbar. Das Foto zeigte eine Frau, die ganz offensichtlich kurz zuvor angefahren wurde. Die Kühlhaube des Autos verdeckte den Großteil ihres zerschmetterten Schädels unter dem sich bereits eine riesige Blutlache gebildet hatte.
Ich musste mich übergeben. Mit der Hand auf den Mund gepresst stürzte ich ins Bad und hängt mich über die Toilettenschüssel wie ein Seekranker über den Buck eines Schiffes. Ich weinte und die Rotze floß mir aus der Nase. Das geschah immer, wenn ich brechen musste. Komische Laune der Natur mit dem Brechreiz auch alles andere völlig aus dem Ufer geraten zu lassen, damit man sich auch wirklich furchtbar dabei fühlen musste.
Ich spülte, um den ätzenden Geruch nicht zu lang in der Nase zu haben und mich stattdessen wieder beruhigen zu können.
Warum deponierte Esther ein solches Foto in meinem Schlafzimmer? Warum und wie zur Hölle war sie überhaupt in meine Wohnung eingebrochen? Und warum hatte ich davon nichts bemerkt?
Die Fragen in meinem Kopf begannen zu kreisen und immer schneller zu werden. Dann fiel ich in Ohnmacht.

Irgendwann kam ich wieder zu mir. Mit verschwommenem Blick und immer noch benommen, drückte ich mich von den Fliesen meines Badezimmers hoch. Ich lag zwischen Dusche und Toilette und kam mir vor wie ein Stück Abfall. Dann hörte ich Geräusche. Auf einmal war mein Kopf wieder klar. Schritte hallten durch meine Wohnung. Und sie kamen immer näher.
Panisch suchte ich in meinem Badezimmer nach der Möglichkeit eines Verstecks, ohne überhaupt zu wissen ob und vor wem ich mich verstecken musste.
Noch während ich versuchte mich in die Badewanne und damit hinter den Duschvorhang zu stemmen, öffnete sich die Tür.

Ein Polizist stand auf einmal mit mir in dem kleinen Raum. Ich war so verwundert, dass ich mich einfach wieder auf die Fliesen fallen ließ und dort sitzen blieb.
„Frau Schilling? Alles in Ordnung?“
Was machte dieser Typ hier? Ich begann stotternd zu antworten: „Ähm ja, also nein, ich meine.. es geht. Was genau machen Sie in meinem Badezimmer?“
Der blonde Typ, der noch nicht lange Polizist sein konnte, sah er doch gerade mal aus wie Mitte Zwanzig, beugte sich zu mir runter und fasste mir unter die Arme. Schon stand ich wieder auf eigenen Beinen. Zur Sicherheit, da ich sicher keinen besonders gesunden Eindruck eben hinterlassen hatte, hielt er mich aber weiter am Arm.
„Wie wär’s, wenn Sie sich erstmal auf’s Sofa setzen, Frau Schilling? Dann kann ich Ihnen alles weitere erklären.“
Mit seiner Hilfe stolperte ich aus dem Bad in mein Wohnzimmer und fiel mehr als dass ich mich setzte auf mein Sofa. „Soll ich Ihnen ein Glas Wasser aus Ihrer Küche holen?“
„Nein. Es wäre mir wirklich lieber, Sie würden mir endlich erklären, was hier los ist.“
„Nun gut. Mein Name ist Florian Wiegmann. Ihre Nachbarin Frau Rotspecht hat heute bei uns angerufen. Sie meinte, sie mache sich Sorgen um Sie. Sie seien seit Tagen nicht aus der Wohnung gekommen, sprächen manchmal mit Menschen vor der Tür, die gar nicht da seien. Sie bat uns vorbeizukommen und nach dem Rechten zu sehen. Ihre Wohnungstür war nur angelehnt, also entschied ich mich einzutreten und sie zu suchen. Nach den Schilderungen Ihrer Nachbarin hatte ich Sorge, Ihnen könnte etwas zugestoßen sein.“
So wie er den letzten Satz sagte, wusste ich, dass er davon ausgegangen war, dass ich mir etwas antun wollte. Was für ein Blödsinn. Und welche Nachbarin überhaupt? Ich redete nie mit meinen Nachbarn und wusste nicht ihre Namen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass denen überhaupt auffiel, dass ich existierte. Ich entschied mich für den höflichen Weg, diesen Florian einfach möglichst schnell abzuwimmeln.
„Oh, das ist ja wirklich sehr freundlich von meiner Nachbarin, dass sie sich solche Sorgen um mich macht. Aber das ist wirklich nicht nötig. Ich versichere Ihnen, es geht mir gut und ich brauche wirklich nur etwas Ruhe.“
Mir fiel auf, dass ich das Wort „wirklich“ viel zu oft benutzt hatte und damit meiner Glaubwürdigkeit keinen Gefallen getan hatte. Der junge Polizist sah mich skeptisch an. 
„Frau Schilling, mit Verlaub. Ich verstehe, wenn Sie einer fremden Person nicht sofort Ihr ganzes Vertrauen schenken. Aber bitte seien Sie ehrlich mit mir, ich möchte Ihnen nur helfen. Gerade im Badezimmer sahen Sie nicht so aus als wäre mit Ihnen alles in Ordnung“
Er hatte Recht. Es war offensichtlich, dass ich mit meinen Nerven am Ende war. Außerdem war er ja Polizist. Vielleicht konnte er mir helfen. Wenn er mich nicht für total verrückt halten würde. Gerade wollte ich anfangen, ihm die Ereignisse der letzten zwei Tage zu erzählen und um Hilfe zu bitten – da fiel mir etwas auf an dem, was er vorab gesagt hatte.
„Was sagten Sie eben? Meine Nachbarin meinte, ich sei seit Tagen nicht aus der Wohnung gekommen?“
„Ganz genau. Sie habe Sie seit Tagen nicht gesehen und mache sich Sorgen“
„Welcher Tag ist heute?“
„Mittwoch. Frau Schilling, ist alles in Ordnung?“
Mittwoch. Der Wochentag hallte in mir wider und wider. Freitag war ich nachhause gekommen und hatte das Handy gefunden. Seitdem waren keine zwei Tage vergangen. Wie konnte es Mittwoch sein?
„Frau Schilling, haben Sie Verwandte, die wir anrufen können?“
„Wie hat sich meine Nachbarin vorgestellt?“
„Was meinen Sie?“
„Der Vorname. Wie heißt sie mit Vornamen?“
„Esther Rotspecht. Sie müssen sie doch kennen“
Ich wurde verrückt. Es gab keine andere Möglichkeit. Ich wurde verrückt. 
„Können Sie bitte meine Schwester anrufen? Ich glaube, ich brauche ihre Hilfe. Sie heißt Dr. Leona Schilling. Ihre Nummer weiß ich nicht auswendig, aber es wird nicht schwierig sein, sie im Telefonbuch zu finden“
Der Polizist wurde auf einmal sehr blass und sah mich betreten an. Er schien zu überlegen, was er tun sollte. Schließlich stand er auf und nahm sein Handy in die Hand. Ich war erleichtert, dass er tat, wonach ich ihn gebeten hatte. Mein Kopf schmerzte, ich drückte mir die Finger gegen die Schläfen und ließ sie langsam kreisen. Was auch immer mit mir passierte, Leona würde mir helfen können. Ich hätte ihre Hilfe niemals ausschlagen sollen.
„Frau Schilling?“, unterbrach Florian meine Gedanken, „Bitte kommen Sie mit. Ihre.. Schwester, ich habe Sie im Internet gefunden. Wir treffen Sie in der Klinik, in der sie arbeitet“
„In Ordnung, ich ziehe mich nur kurz um, ja?“
„Ich warte hier, lassen Sie sich Zeit“

Eher obligatorisch zurecht gemacht, kam ich in Jogginghose und Wollpulli zurück ins Wohnzimmer. Florian hatte mir außerdem vorgeschlagen, ein paar Sachen mitzunehmen. Nur für den Fall, ich würde nicht heute zurück nachhause kommen. Er sah mich ermutigend an. Mir fiel auf, dass er strahlend blaue Augen hatte und wäre ich nicht an Frauen interessiert, hätte ich ihn sehr attraktiv gefunden.
Zusammen gingen wir das Treppenhaus hinunter zu seinem Dienstwagen und er fuhr mich zur LWL-Klinik, die nicht weit von mir zuhause lag.
„Sie können mich einfach rauslassen und müssen nicht mitkommen. Ich danke Ihnen wirklich sehr dafür, dass Sie mich gefahren haben und nach mir gesehen haben“
„Ich denke, es wäre besser, ich komme noch mit rein“
Sein Tonfall klang für mich seltsam. Ich hatte das Gefühl, er würde mir etwas verheimlichen. Ein idiotischer Gedanke. Er kannte mich ja gar nicht, wie sollte er da etwas vor mir verheimlichen? Ich willigte ein und zusammen liefen wir zum Eingang der Klinik. Dort schien schon jemand auf uns zu warten. Zu meiner Verwunderung allerdings nicht meine Schwester.
„Frau Schilling. Schön, Sie zu sehen. Mein Name ist Dr. Klingberg. Wir haben uns vor einiger Zeit einmal kennengelernt über Ihre Schwester, ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern“, der ältere Herr lächelte mich freundlich an und streckte mir seine Hand hin.
Ich schüttelte sie und sagte: „Entschuldigen Sie, ich kann mich tatsächlich nicht erinnern. Tatsächlich würde ich auch lieber mit meiner Schwester sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr Dr. Klingberg“
Mir schien als würde der Arzt einen Blick mit dem jungen Polizisten an meiner Seite austauschen und ich fühlte mich als wäre ich in einem Film, zu dem ich eigentlich nicht dazugehörte. Irgendetwas war hier los, aber niemand sprach mit mir.
„Bitte kommen Sie mit rein. Ich werde Ihnen erklären, wo Ihre Schwester ist und warum ich mit Ihnen sprechen muss“

Allmählich wurde mir klar, wo ich war. Es war kein Albtraum gewesen. Ich war hier, weil alles tatsächlich passiert war. Weil ich mich nicht erinnern wollte. Weil ich es gewesen war.

„So. Bitte setzten Sie sich, Frau Schilling.“
Das ewige Erwähnen meines Namens ging mir mittlerweile auf die Nerven. Ich wusste, der Arzt wollte nur höflich sein und Vertrauen zu mir aufbauen. Aber ich wollte einfach nur endlich verstehen, was hier gespielt wurde.
Florian hatte mich am Eingang allein gelassen und sich verabschiedet. Er hatte mir die Hand gedrückt und alles Gute gewünscht als würde ich einen Trauergang antreten. Dabei ging mein Weg nur in das Büro des leitenden Chefarztes.
„Ich muss Ihnen einige Fragen stellen, Frau Schilling. Bitte beantworten Sie diese einfach wahrheitsgemäß nach Ihrem besten Gewissen. Woran können Sie sich in den letzten Tagen erinnern?“
Als würde ein Damm in mir brechen, erzählte ich Dr. Klingberg alles, was in den letzten Tagen geschehen war. Auch, dass ich überzeugt war, es wären nur zwei Tage vergangen und nicht fast eine ganze Woche. Ich erzählte von dem Handy, von Leona, von dem Foto. Dass ich es bereute, meine Schwester zurückgewiesen zu haben und dass ich das Gefühl hatte, verrückt zu werden.
Geduldig hörte der Arzt sich meine Geschichte an. Als ich am Ende angekommen war, wurde es kurz sehr still im Raum. Mir wurde jetzt erst wirklich klar wie unglaubwürdig das alles klang.
Dr. Klingberg räusperte sich. Die Situation schien auch ihm sichtlich schwer zu fallen. Schließlich begann er: „Frau Schilling, ich denke, Sie reagieren mit Wahnvorstellungen auf ein traumatisches Ereignis. Die Symptome, die Sie schildern, könnten auch bedeuten, dass Sie zur Verarbeitung des Traumas einen Teil Ihrer Persönlichkeit abgespalten haben. Ich muss Ihnen jetzt etwas mitteilen, das Sie bereits wissen, aber verdrängt haben“.
Der Arzt machte eine Pause. Sie erschien mir unerträglich lang. „Ihre Schwester lebt nicht mehr, Frau Schilling. Sie ist vor drei Jahren gestorben. Bei einem Autounfall als Sie beide zusammen im Urlaub waren. Sie waren bei ihr und mussten den Unfall mit ansehen. Zunächst schienen Sie gut mit der Situation umzugehen, aber jetzt.. Ich denke, es wäre gut für Sie, würden Sie einige Tage bei uns bleiben“.
Ich fühlte mich, als würde etwas in mir zerbrechen.
Und dann erinnerte ich mich wieder. An den Abend an dem Leona und ich uns in Sirmione am Gardasee gestritten hatten. Darüber, dass ich sie nicht ernst nahm.
Wie sie wütend weggehen wollte und auf die Straße trat. Wie das Auto, das viel zu schnell durch die Straße fuhr, sie ergriff und erst Meter später zum Halten kam. Tatsächlich. Sie war tot. Und ich hatte es vergessen. Wollte es vergessen.

Es war meine Schuld. Ich war schon seit zwei Wochen in psychatrischer Behandlung in der Klinik, aber Fortschritte machte ich kaum. Dr. Klingberg kam täglich vorbei, um nach mir zu sehen. Er war gut mit meiner Schwester befreundet gewesen und machte sich Vorwürfe, ich sah es in seinem Blick. An manchen Tagen konnte ich mich wieder nicht an ihn erinnern. Er versuchte mir Mut zu machen, aber ich war mir sicher, dass ich verloren war. Ich reagierte so extrem auf den Tod meiner Schwester, dass es untypisch war. Ich wusste das.
Jetzt lag ich in meinem Zimmer und starrte an die Decke, wie jeden Tag. Doch heute hörte ich auf einmal ein Geräusch. Nein, kein Geräusch. Ein Klingeln. Ein billiger Klingelton für Handys wie es sie damals auf VIVA zu kaufen gab. Sofort hatte ich einen Kloß im Hals. Meine Medikamente sollten so etwas verhindern. Warum passierte das alles?
Und auf einmal war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich verloren war. Ob ich mir das alles wirklich nur eingebildet hatte.
Ich suchte mein Zimmer nach dem Handy ab. Im Bett war das Klingeln am lautesten, also pflückte ich es auseinander und dort lag es. Zwischen Matratze und Lattenrost lag das alte Klapphandy. Ich nahm es in die Hand und drückte auf den grünen Hörer.
„Hallo Franzsika“, Esthers Stimme erkannte ich sofort, „ich hoffe, du weißt jetzt, wer deine Schwester getötet hat“.
Die Tür zu meinem Zimmer ging auf und eine Pflegekraft kam herein. Auf einmal hörte ich Esthers Stimme doppelt.
„Aber das bleibt unser Geheimnis“.

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