LauraASchwarzer Abgrund – Grüße aus der Vergangenheit

Eitel stand Stephan Vogel vor dem Spiegel und zupfte seinen Hemdkragen zurecht. Wenn es seine Kleidung betraf, zeigte sich der katholische Pfarrer äußerst perfektionistisch. Allgemein war er ein Mensch, der sehr nach Ordnung strebte. Alles musste an seinem Platz sein und in der richtigen Reihenfolge ablaufen, ansonsten wurde er nervös.
Gerade hatte er den Sonntagsgottesdienst beendet. In der Sakristei hatte er seine Stola abgelegt und seine Albe, die typische Priesterkleidung, ausgezogen. Seine Messdiener, heute waren zwei anwesend gewesen, lachten im Nebenraum. Er gestattete es ihnen nicht, sich im gleichen Raum wie er anzukleiden. In knapp einer Minute würde sein Küster, eine Art Hausmeister der Kirche, mit gesenktem Kopf zu ihm kommen und verkünden, dass die meisten Leute die Kirche verlassen hatte und er das Hauptportal bald verschließen würde. Nachdem das Haus Gottes in den letzten Monaten vermehrt mit Vandalismus zu kämpfen hatte, hatte man sich bis auf weiteres auf begrenzte Öffnungszeiten geeinigt.
Tatsächlich schlich nach knapp einer Minute ein kleiner Mann mit gesenktem Kopf durch die Tür. Stephan grinste. Er mochte es, wenn seine Pläne eingehalten wurde.
»Ja, Friedrich, ich höre«, erteilte er seinem eingeschüchterten Küster die Erlaubnis zu sprechen. Obwohl Stephan ihn noch nie angeschrien, bestraft, nein, noch nicht einmal zurechtgewiesen hatte, führte sich Friedrich wie ein unterwürfiger Hauself auf.
Friedrich war fast sechzig Jahre alt, sah allerdings deutlich älter aus, hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und durch seine demütige Haltung einen Buckel. Für Friedrich stellte das Leben als Küster eine Erfüllung dar. Er vertrat die Meinung, dass er dazu geboren wäre. Nie hatte er etwas anderes angestrebt. Selbst wenn Stephan ihn dazu zwang, Urlaub zu nehmen, kam er fast täglich bei ihm im Pfarramt oder in der Kirche vorbei, um nach den Rechten zu sehen. Stephan schwankte stets zwischen Bewunderung für diese Treue und Mitleid. Es tat ihm leid, dass sein Küster offenbar noch nie etwas anderes gesehen hatte, nie eine Frau geliebt, nie auf Reise gegangen war oder Ähnliches. Für ihn gab es immer nur sein Dorf und die Kirche.
Stephans Weg zum Glauben war hingegen etwas holpriger. Heute, mit siebenundvierzig Jahren ist es für ihn selbstverständlich vor einem Kreuz niederzuknien, regelmäßig zu beten, Menschen in ihrer Not beizustehen und auf die Unterstützung Gottes zu vertrauen. Doch bis zu seinem vierunddreißigsten Lebensjahr lebte er alles andere als christlich.

»Beim Durchgehen der Kirchenbänke habe ich ein Handy gefunden«, berichtete der Küster. Er hielt das Mobilfunkgerät in seiner rechten Hand. Es handelte sich um ein älteres Modell, kein neues Smartphone. Eines, das noch robust war.
»Es lag auf der Bank. Es muss jemanden aus der Tasche gefallen sein. Ich habe aber niemanden mehr gesehen.«
»Lege es auf den Tisch«, befahl Stephan. »Ich nehme es mit ins Pfarrhaus. Der Besitzer wird sich, sobald er es vermisst, bei uns melden.«
Es war keine Seltenheit, dass nach der Messe Dinge vergessen wurden. Meist handelte es sich um eigene Gebetsbücher, Regenschirme oder Jacken. Handys gehörten eher selten zu den Fundstücken. Die vergessenen Sachen wurden nach dem Finden zwei Wochen im Pfarramt verwahrt. Wenn sich bis dahin niemand meldete, wurden sie an das städtische Fundbüro weitergeleitet.
Der Kirchendiener tat wie geheißen, danach begab er sich wieder zurück ins Kirchenschiff, um die Gebetsbücher einzusammeln und am Ende das Haupttor abzuschließen.

Stephan zog seine Jacke über. Draußen hatte bereits der Herbst begonnen. Es wurde kälter. Als er die Hand nach dem Handy ausstreckte, vibrierte es. Erschrocken zog er seine Hand zurück und starrte auf den Bildschirm, der sich erhellte.
»Ich weiß, was du getan hast«, ploppte eine Nachricht auf.
Auf Stephans Stirn bildeten sich tiefe, nachdenkliche Falten. Obwohl es eher unwahrscheinlich war, dass er mit der Nachricht gemeint war – schließlich handelte es sich nicht um sein Mobiltelefon – spürte er einen dumpfen Druck in der Magengegend.
Der Bildschirm wurde dunkel, um einen Augenblick später wieder hell zu werden. Erneut vibrierte es. Die zweite Nachricht lautete: »Ich weiß, wer du bist.«
Nervös schaute sich der Priester in seiner Sakristei um. Er war alleine. Seine Messdiener hatten sich bereits auf den Heimweg gemacht. Sein Puls beschleunigte und das ungute Gefühl in der Magengegend breitete sich über seinen gesamten Körper aus. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass er alleine war, fokussierte er das Mobiltelefon. Er wartet förmlich darauf, dass eine weitere Nachricht einging.
Tatsächlich vibrierte das Handy ein drittes Mal. »Stephan. Oder soll ich dich Maik nennen?«
Kurz setzte Stephans Herz aus, um unmittelbar danach im rasenden Tempo weiterzuschlagen. Es fühlte sich an, als würde jemand sein Leben hochnehmen, mit der Faust zerdrücken und anschließend den Staub und die Trümmer zu Boden rieseln lassen. Ihm wurde schwindelig. Sein Blutdruck fiel in den Keller und er musste sich hinsetzen, um nicht auf dem Boden aufzuschlagen. Tausende Gedanken schossen durch seinen Kopf, doch es gelang ihm nicht, auch nur einen zu greifen. Sein Gehirn war voll und doch so leer.
Ein Räuspern holte ihn zurück. Unsicher zuckte er zusammen. Er hatte Friedrich, der plötzlich vor ihm stand, gar nicht kommen hören. Irritiert blickte er ihn an und mindestens genauso überrascht schaute der Küster zurück. »Geht es Ihnen gut?«
Stumm nickte Stephan. Der Vorfall mit dem Handy hatte ihm die Sprache verschlagen.
»Sie sehen so blass aus«, erklärte der Kirchendiener unsicher. »Sind Sie krank? Brauchen Sie einen Arzt?«
Erneut schüttelte Stephan seinen Kopf. Im Normalfall mochte er Friedrichs fürsorgliche Art, auch wenn es hin und wieder nerven konnte, wenn er ständig danach fragte, ob er gefrühstückt hatte, ob er genug Obst zu sich nahm oder ob er zu spät ins Bett gegangen war. Friedrich meinte es nett. Es war Teil seiner Persönlichkeit, sich hin und wieder wie eine Mutter aufzuführen. Doch gerade hasste Stephan ihn. Er brauchte Ruhe, er musste seine Gedanken ordnen, er musste überlegen, wie es weiterging.
»Ich habe alles abgeschlossen und wollte nur noch einmal nach dem Rechten schauen. Ich dachte, Sie wären längst gegangen …«, faselte Friedrich weiter. »Wenn Ihnen schlecht ist, sollten Sie sich vielleicht an die frische Luft setzen?«
Stephan sog scharf Luft ein. Mit diesem Geräusch durchbrach er sein Schweigen. Mit ernstem Ton sagte er: »Friedrich, mir ist nicht …«, das letzte Wort verschluckte er. Er brach den Satz ab, um ihn noch einmal neu anzufangen. Diesmal mit ruhiger, neutraler Stimme. »Ja, vielleicht hast du Recht. Ich sollte mich in meinem Zimmer ausruhen.«
Bestätigend und zufrieden nickte Friedrich. »Sie arbeiten eindeutig zu viel und gönnen sich zu wenig Pausen«, stellte er seine Diagnose.
Stephan seufzte. Ihm war nicht nach diskutieren. Es war einfacher, dem besorgten Küster zuzustimmen, als zu widersprechen und das Problem auszufechten. Zumal er ihm eh nicht die Wahrheit sagen konnte. Indem er ihm zustimmte und seinen Rat, sich auszuruhen, annahm, hatte er immerhin seinen Frieden.
Kraftlos kämpfte er sich vom Stuhl hoch und nahm das Handy. Als er die Hülle berührte, durchfuhr ein Hitzegefühl seine Hand. Etwas, das sich wie Feuer anfühlte, kroch in seinem Arm empor, bis in seine Schulter und danach in den Brustkorb. Sein Verstand wusste, dass das Empfinden nicht echt war, es war nichts, was man fassen oder gar nachweisen konnte, es war vielmehr eine Intuition, eine Vorwarnung. Von dem Handy ging eine Gefahr aus.

Als Priester der Gemeinde stand ihm im Pfarrhaus eine kleine Zweizimmer-Wohnung zur Verfügung. In einem Raum hatte er sich ein Arbeitszimmer eingerichtet, in dem anderen, dmn kleineren befand sich das Schlafzimmer. Außerdem verfügte seine Wohnung über eine kleine Küche und ein winziges Bad. Es war keine Luxuswohnung und die Lage, über den Geschäftsräumen des Pfarramtes, war auch nicht gerade ruhig, zeitweise fühlte er sich wie auf dem Präsentierteller, doch dafür war das zuhause kostenfrei. Zudem gehörte es sich für einen anständigen Priester, dass er nahe bei der Kirche wohnte.
Er stieg die Treppen der schmalen Wendetreppe empor, öffnete seine Wohnungstür und schloss sie hinter sich. Anschließend zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück.
An der Frontseite des Zimmers prangerte ein großes Holzkreuz, an dem der Leichnam Jesu hing. Kam es ihm nur so vor, oder schaute der Gekreuzigte ihn heute vorwurfsvoller an als sonst? Stephan getraute sich kaum, zu ihm hinzusehen.
»Oh Gott, wenn du alles siehst, dann schaue jetzt bitte weg«, flüsterte ein Stoßgebet, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Eigentlich riegelte er Türen nie ab, er mochte es nicht eingeschlossen zu sein, doch gerade erschien es ihm angebracht, den Schüssel umzudrehen. Mit einem leisen Klacken schaffte er sich einen sicheren Raum.

Mit großen Schritten ging er auf den Stuhl von seinem Schreibtisch zu, ließ sich nieder und atmete tief durch, bevor er das Handy in seinen Händen wendete. Er betrachte es von allen Seiten, um eine mögliche Spur von dem Eigentümer zu finden. Vergebens. Es gab keinen Sticker, keine individuelle Hülle, keine Notiz. Nichts.
Mit zittrigen Fingern wischte er über den Bildschirm. Er rechnete damit, einen Pin eingeben zu müssen. Überrascht stellte er allerdings fest, dass sich das Mobiltelefon ohne Eingabe entsperren ließ. Auf dem Bildschirm wurden die drei eingegangenen Nachrichten angezeigt. Zusätzlich stand diesmal, anders als bei dem kurzen aufploppen der Mitteilungen, ein Absender dabei. Deine Vergangenheit.
Stephan schluckte. Wer auch immer ihm Angst einjagen wollte, ihm war es gelungen.
Noch einmal las er sich die Nachrichten durch. »Ich weiß, was du getan hast. Ich weiß, wer du bist. Stephan, oder soll ich dich Maik nennen?«
Er klickte auf den Kontakt, deine Vergangenheit, um sich die Rufnummer anzeigen zu lassen. Das Telefon teilte ihm jedoch mit, dass diese Funktion für ihn gesperrt war.
Angespannt legte er das Handy auf seinem Schreibtisch ab und trommelte mit seinen Fingern nervös auf die Tischplatte. Sein Mund fühlte sich trocken an, sein Herz raste und er spürte, wie sein Deo versagte. Gedankenversunken zog er seine Jacke aus, die er immer noch trug. Der Fund des Handys hatte ihn und seine Geistestätigkeit so vereinnahmt, dass er gar nicht daran gedacht hatte, sich erst auszuziehen.

Wer wollte ihn unter Druck setzen? Oder Angst machen? Wer hätte ein Interesse daran? Wer wusste seinen alten Namen?
In Dauerschleife kreisten diese Fragen durch seinen Kopf. Ohne Antworten. Als er damals untertauchte, gab es eine Handvoll Leute, die wussten, dass sein Tod nur improvisiert war. Selbst seine Familie stand damals an seinem Grab und weinte. Von diesen paar Leuten wussten zwei, dass er einen Neustart am anderen Ende von Deutschland plante. Doch wo genau, wann und wie, wusste niemand. Zudem war einer der zwei Mitwisser vor zehn Jahren bei einem Schusswechsel gestorben. Seinen Leuten traute er diese Aktion nicht zu. Wenn sie ihn gefunden hätten, würden sie keine Spielereien mit anonym abgelegten Mobiltelefonen treiben, sie würden in einer dunklen Ecke auf ihn warten und direkt zur Rede stellen. Wie auch immer dieses zur Rede stellen aussehen würde …
Er biss sich auf die Unterlippe. Das tat er immer, wenn er angestrengt nachdachte. Dreizehn Jahre. Dreizehn lange Jahre hatte seine Vergangenheit ihn in Frieden gelassen. Und jetzt stand sie auf einmal wieder auf der Matte und streckte ihre kalten Klauen aus.
Fast hätte er vergessen, was damals geschehen war – Halt, er hielt den aufbrausenden Gedankenstrudel auf. Noch wusste er nicht, was der oder die Unbekannte über ihn und sein altes Leben wusste. Er durfte nicht vom Schlimmsten ausgehen – auch wenn er allen Grund dazu hatte.
Aufgewühlt streifte er sich mit beiden Händen durch sein kurzes, braunes Haar.
Es nutzte nichts. Er konnte sich die schrecklichsten Szenarien ausmalen, und am Ende war die Situation vollkommen harmlos. Oder er ging jetzt, in der Annahme, dass sich jemand einen üblen Scherz erlaubte, schlafen und am kommenden Morgen lag alles, was er mühevoll aufgebaut hatte, in Trümmern.
Er fasste das Mobiltelefon, entsperrte es und antwortete dem Unbekannten auf seine Nachrichten: »Wer bist du?«
Er hatte kaum auf senden gedrückt, als er auch schon eine Antwort bekam. Ein lachendes Smiley. Stephan musste seine Wut zügeln. Was sollte das?

Zu gerne hätte er das Handy gegen die Wand gefeuert und es damit zerstört, doch dann hätte er seine einzige Verbindung zu dem Unbekannten gekappt. Als er merkte, wie viel Zorn sich in ihm auftürmte, schaute er verlegen zu dem gekreuzigten Jesus und entschuldigte sich. »Es tut mir leid, aber du warst sicherlich auch wütend auf die Leute, die dich ans Kreuz genagelt haben, oder? Zumindest ein bisschen?«
Befremdet schüttelte er seinen Kopf. Er sprach mit einem Stück Holz. Er musste aufpassen, dass er nicht die Kontrolle verlor.

»Was weißt du über mich?«, startet er einen zweiten Versuch der Kontaktaufnahme. Auch diesmal bekam er zügig eine Antwort. Der oder die Unbekannte schien auf ihn zu warten.
»Schaue in die Bildergalerie.«
Stephan klickte sich durch die Tools, bis er die gespeicherten Bilder fand. Bevor er sie öffnete, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Kam es ihm nur so vor, oder war die Raumtemperatur gestiegen? Näherte er sich der Hölle? Seiner persönlichen Hölle?
Er öffnete seinen Hemdkragen, um besser Luft zu bekommen. Hier, in seinen eigenen vier Wänden, konnte er es sich erlauben, etwas nachlässig zu sein. Außerhalb musste er stets darauf achten, dass niemand die Narben auf Höhe seines Schlüsselbeins, Brustbeins oder Rücken sah. Ja, seine Eitelkeit hatte nichts mit Selbstliebe zu tun, sondern war eine antrainierte und gut durchdachte Vorsichtsmaßnahme – wie so vieles in seinem Leben. Er hatte gelernt eine perfekte, einstudierte Rolle zu spielen, ohne dabei wie ein Schauspieler auszusehen. Das war seine Taktik, um zu überleben.
Jetzt konnte er allerdings die runden Brandmale, die von auf der Haut ausgedrückten Zigaretten stammten und die alten, vernarbten Schnittverletzungen offenlegen. Hier konnte ihn niemand sehen.
Er öffnete das erste Bild. Es zeigte einen dunklen Raum, eine Art Kerker. Das Licht war zu schlecht, um Einzelheiten zu erkennen. Mit etwas Fantasie konnte man ein paar Gestalten und den orange-gelben Schein einer Fackel erahnen. Doch Stephan brauchte keine weiteren Details: Für Unwissende stellte die Aufnahme eine unscharfe Fotografie dar, aber für ihn war die Erinnerung, welche die paar Pixel auslösten, so scharf wie ein Dolch, der sich in sein Herz bohrte.
Wie ferngesteuert wischte er mit seinem Daumen zum zweiten Bild, das über eine bessere Qualität verfügte. Man sah mehrere Menschen, die in einem Kreis standen. In der Mitte kauerte etwas am Boden. Beim dritten Bild erkannte man das etwas. Es handelte sich um ein Kind. Ein nacktes Kind. Seine Arme waren mit Stahlketten umwickelt, die an einem Ankerpunkt an der Decke befestigt waren. Sie verhinderten, dass sich der etwa zehnjährige Junge mit seinem Oberkörper komplett auf den Boden legen konnte. Zum einen hinderte diese Fesselung ihn daran, sich zu wehren, zum anderen erzeugte sie Schmerzen.
Die Augen des dunkelhaarigen Jungen schauten verängstigt. Ein Hämatom zierte sein rechtes Auge, seine Lippe war aufgeplatzt. Beim dritten Bild sah man einen Mann, der sich über den Jungen beugte.
Stephan schloss seine Augen. Er wollte die Bilder nicht sehen. Er wollte nicht daran erinnert werden.
Auf dem letzten Bild war sein Gesicht. Er stand ebenfalls in dem Kreis. Er war Teil der Gemeinschaft, die den Jungen – und auch noch viele weitere Kinder – schändeten.

Als wenn der Unbekannte erahnte, dass er sein Ziel erreicht hatte, meldet er sich mit einer neuen Nachricht.
»Ich bin der, der übelebt hat. Ich bin deine Vergangenheit. Ich bin deine Sünde, von der du niemals erlöst wirst. Ich bin dein Racheengel.«
Stephan war übel. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Die Erinnerungen lasteten schwer auf ihm. Schon jahrelang. Er konnte sich selbst nicht vergeben. Er hatte etwas getan, was nicht entschuldbar war. Er hatte Leben zerstört …
Trotzdem war es nicht so, wie es schien. Die Geschichte war komplizierter und vielschichtiger. Allerdings durfte er nicht darüber reden, da ansonsten seine Identität und somit auch seine Sicherheit gefährdet waren. Und nicht nur die, sondern er brachte damit auch andere, die in einer ähnlichen Situation wie er festsaßen, mit in Gefahr.
Er saß in einer Zwickmühle. Jeder Schritt in die falsche Richtung bedeutete einen Absturz ins Verderben.

»Was willst du von mir?«, schrieb er dem Unbekannten, der daraufhin antwortete: »Keine Sorge, ich möchte dich nicht umbringen – so wie ich es mit den anderen Tätern getan habe. Die Morde waren schön, ich habe sie genossen, aber sie haben mir keine langanhaltende Erfüllung gebracht. Ich will nicht, dass du stirbst, ich will, dass du leidest. Ich möchte dein Leben zerstören, deine Existenz, ich möchte, dass du dich nicht mehr im Spiegel ansehen kannst, dass du dich für deine Existenz schämst … Ich will, dass du das durchmachst, was ich durchmachen musste.«
Stephan musste das Mobiltelefon auf dem Tisch ablegen und aufstehen. Wie in Trance ging er zum Fenster und öffnete es. Er brauchte frische Luft. Das alles musste ein Alptraum sein. Dreizehn Jahre schien alles gut zu werden und jetzt … brach alles in sich zusammen.

In seinen Gedanken türmten sich Horrorszenarien auf. Über tausend Möglichkeiten fielen ihm ein, wie derjenige seine Existenz zerstören könnte. Wobei er und sein Leben das kleinste Problem waren. Wenn der- oder vielleicht auch diejenige – in dem Ring, der Kinderpornografie betrieb, gab es nicht nur Jungen als Opfer, sondern auch Mädchen – ihn auffliegen lassen wollte, trat er oder sie eine Lawine los. Er war jetzt Pfarrer, also wäre auch die Kirche von dem Skandal betroffen, seine Gemeinde bekäme Ausläufer ab, Personen, zu denen er in den letzten Jahren enge Kontakte aufgebaut hatte und nicht zuletzt – das wäre das schlimmste – seine Kollegen. Die Lawine würde zahlreiche Opfer fordern und die meisten von ihnen hatten es nicht verdient.
Er schloss seine Augen, atmete die frische Luft am Fenster ein und zwang seine Gedanken schneller zu arbeiten. Während seiner Ausbildung war er darauf getrimmt worden, selbst unter größtem Stress gutdurchdachte und reflektierte Entschlüsse zu treffen. Man hatte ihn auf sämtliche Szenarien vorbereitet. Aber auf solch ein Szenario, wie es sich aktuell auftat, nicht.
Dass Täter Waffen auf ihn hielten oder dass er selbst Waffen auf Täter hielt, das hatte er bereits erlebt, doch dass Opfer gegen ihren Retter schossen, das war etwas Neues. Darauf wurde niemand vorbereitet.
Das Handy vibrierte auf dem Schreibtisch. Stephan war mit seiner Risikoabwägung noch nicht fertig. Trotzdem las er die Nachricht. »Ein Bericht mit deinem Foto wird an die Medien rausgehen. Deine jetzige Anschrift und deinen Beruf habe ich natürlich dabei angegeben. Gott wird dich nicht vor dem Skandal beschützen. Denn Gott gibt es nicht. Das hast du mir beigebracht.«
Stephans Stresslevel schoss durch die Decke. In den Ohren hörte er ein Dauerrauschen. Es hörte sich an wie eine Zündschnur. Bald würde es zu einer Explosion kommen. Bildlich gesehen wanderte er auf Sprengstoff. Wenn er reagieren wollte, musste er sich beeilen. Mit schwitzigen Fingern tippte er eine Nachricht: »Halt, du machst einen Fehler! Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ja, ich habe damals einen Fehler gemacht, einen großen sogar. Aber ich war kein Täter, sondern ein verdeckter Ermittler. Ich war Teil einer Spezialeinheit. Wir wollten den Kinderpornoring auffliegen lassen. Fast hätten wir es geschafft, doch dann ging es schief. Ich musste untertauchen. Mein Leben wurde bereits zerstört. Ich muss mit der Schuld, dass ich hunderte Kinder hätte retten können, aber es durch einen dummen Fehler versaut habe, leben. Das ist Strafe genug. Wenn du mich auffliegen lässt, fliegen auch die anderen Ermittler, die noch an dem Ring dran sind auf.«
Beim Absenden der Nachricht tat er sich schwer. »Unter gar keinen Umständen dürfen Sie ihre wahre Identität preisgeben«, hallte die Drohung seines Chefs in seinen Gedanken. Er tat somit etwas, das absolut untersagt war. Niemand hier wusste, wer er war und jetzt vertraute er es einem Fremden an.
Eine weitere Mitteilung ging ein. Er öffnete sie. Es handelte sich um einen Gif. Ein animierter Affe grinste ihn an. Als er auf ihn klickte, ertönte ein lautes Lachen …
Augenblicklich wurde Stephan klar, dass er einen Fehler begangen hatte.

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