YaraFaySo wie du bist

 

FLO

 

Tosender Applaus. Ein Lächeln auf meinem Gesicht. Zustimmende Rufe. Gemütlich gehe ich hinter die Bühne, um ein paar Minuten später wieder vor den Vorhang zu treten und dem Publikum eine Zugabe zu geben.

 

Zwei Stunden und unzählige Autogramme später, trat ich aus der Halle in irgendeiner Stadt. Seitdem ich mit meinem Comedy-Programm Erfolg hatte, tourten wir durch ganz Deutschland und ich manchmal verliere ich einfach den Überblick. Ich klatschte noch einmal meinen Tontechniker ab, der eine Zigarette rauchte und ging zu unserem Tourbus. Auch wenn ich keine Ahnung habe, in welcher Stadt ich mich befinde, dann weiß ich doch ziemlich genau, dass wir die Nacht durchfahren werden, um morgen früh wieder zu Hause zu sein. Zu Hause ist für mich ein ganz normales Reihenhaus in einer ziemlich normalen Vorstadt. Wenn man sich eine spießige Kleinstadt vorstellt, mit der engstirnigen Kleinfamilie, dann kennt man meine Familie recht gut. Wir sind zu viert: meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich. Natürlich haben wir auch einen Hund und ratet was für einen? Genau, einen Labrador. Ganz genau, wie die perfekte Bilderbuch-Familie. Doch so perfekt sind wir nicht. Meine Mutter und mein Vater führen eigentlich nur noch eine Schein-Ehe, meine Schwester Nadja hat Kinder bekommen, bevor sie geheiratet hat und ich bin kein renommierter Arzt, sondern Comedian geworden. Man kann sehen, bei uns ist in den Augen meiner Mutter nichts perfekt, sondern alles den Bach hinunterläuft. Doch hauptsache die Nachbarn bekommen nichts mit.

 

In meine Gedanken versunken, trete ich fast auf das Handy, was auf der Schwelle des Busses liegt. Verwundert fasse ich in den Bund meiner Hose und stelle fest, dass es nicht mein Handy ist. Doch wem könnte es gehören? Toni, unserem Praktikanten? Der klebt schon fast vor seinem Bildschirm, doch würde er es einfach hier liegen lassen? Eher unwahrscheinlich. Dem grummeligen Busfahrer? Aber hat der überhaupt ein Handy? Ich habe ihn bisher noch nie mit einem gesehen, aber vielleicht liegt es daran, dass ich ihn bisher nur hinter dem Steuer beobachtet habe und da ist es nur löblich ohne Handy. Vielleicht könnte es aber auch Jonas gehören, aber der telefoniert eigentlich immer mit seiner Freundin, wenn er nicht hinter dem Schaltpult sitzt. Ich könnte auch noch meine ganze Crew durchgehen, doch dadurch werde ich nicht schlau, deshalb drücke ich auf den An-Knopf und starre geschockt auf den Sperrbildschirm. Meine Hand zittert und mein Gehirn kann das Gesehene nicht verarbeiten. Auf dem Bildschirm bin ich, wie ich meine erste große Liebe küsse. Wir lernten uns in der Schule kennen, als ich noch in Hamburg wohnte. Wir gingen in eine Jahrgangsstufe und trafen uns immer öfters nachmittags. Dann kam der erste Kuss und ich schwebte wie im siebten Himmel. Verdammt, Ben.

 

Die ganze Fahrt nach Hause sitze ich still auf meinem Sitz und höre mir an, wie meine Crew Witze reißt, lache an der richtigen Stelle und als alle endlich schlafen, gucke ich mir noch einmal das Handy an. Es sieht aus, wie ein normales Modell, wenn auf diesem verdammten Sperrbildschirm nicht ich wäre, wie ich meine große Jugendliebe Ben Alberts küsse. Ja richtig gehört, ich habe einen Jungen gedatet und mich in ihn verliebt. Ja richtig, ich bin schwul. Das wäre kein Problem, wenn dieses Handy nicht aufgetaucht wäre. Meine Eltern dürfen dies nie erfahren und was ich schon 28 Jahre meines Lebens geschafft habe, sollte ich auch die nächsten zwei Tage schaffen, bis ich wieder aus dem Haus voller Vorurteile und Regeln fliehen kann. Als ich 18 Jahre alt geworden bin, dachte ich, dass ich frei bin. Diese Illusionen dauerte genau 5 Stunden, bis ich mit dem frischen Tattoo an meiner Schulter nach Hause kam und für eine Woche Hausarrest hatte.

 

Ich gucke still in die dunkle Nacht und versuche mir vorzustellen, wie dieses Handy in unseren Bus kommen konnte. Direkt nach meinem Fund habe ich den Busfahrer gefragt, doch er war nachmittags in der Stadt und abends in einer Kneipe. Toni und Jonas und meine ganze Crew hatten heute Nachmittag mit mir die Generalprobe und während meiner Show könnten sie sich eigentlich nicht weggeschlichen haben. Das heißt, dass sich jemand Fremdes zu dem Bus geschlichen haben muss. Naja, er stand auf einem öffentlichen Parkplatz und ich bin nicht so berühmt, dass ich Security hätte. Na toll, ich bin keinen Schritt weiter und dieses Handy kann ich ohne die PIN auch nicht entsperren. Allerdings könnte ich einen Versuch wagen. Aber welche Kombination wird die richtige sein? Ich starte ein paar Versuche, aber nachdem das Handy droht, auszugehen, lasse ich es und starre in die Nacht. Szenen aus Hamburg schießen mir in den Kopf. Ben und ich auf einer Kirmes, wie wir uns ganz oben im Riesenrad küssen und hinterher hat er mir seine Eltern vorgestellt. Seine Mutter war eine herzliche Frau, die ich sofort in mein Herz schloss. Danach war ich immer bei Ben, wenn bei uns zuhause der Haussegen schiefhing. Ich denke an unseren ersten Streit, weil ich ihm meine Eltern nicht vorstellen wollte, doch ich konnte einfach nicht. Meine Mutter wäre ausgerastet und hätte mich rausgeschmissen. Mit der Zeit konnte Ben es akzeptieren und wir haben uns einfach immer woanders getroffen. Doch dann haben wir Hamburg verlassen und mit der Zeit habe ich kaum noch an ihn gedacht. Bis jetzt.

 

Ich muss eingeschlafen sein, denn am Morgen wecken mich Sonnenstrahlen, die sich durch meine zugezogene Gardine stielen. „Sind wir schon da?“, frage ich Jonas neben mir, doch der erzählt mir, dass wir noch eine Stunde fahren müssen. Diese Stunde nutze ich, um mich mental auf meine Eltern vorzubereiten, mir die Zähne zu putzen und ein schon ziemlich altes Brötchen zu essen.

 

Als wir aus dem Bus aussteigen, legt sich ein ungutes Gefühl auf mich, doch ich ignoriere es. Schnell besorge ich mir ein Taxi und fahre zu dem Haus meiner Eltern. Es ist ein normales weißes Reihenhaus, doch mir kommt es wie ein Fluch vor. Trotzdem gehe ich zur Tür, klingle die schwarze Klingel und lasse mich gedanklich auf zwei schwere Tage ein. Ich meide meine Familie so gut wie es geht, doch einmal im Jahr werden Nadja und ich fast schon gezwungen zu kommen, damit wir alle zusammen Nadjas und meinen Geburtstag feiern können. Früher sahen wir uns ziemlich ähnlich, doch nun kann man kaum noch erkennen, dass wir Zwillinge sind. Sie hat ihr früher blondes Haar schwarz gefärbt, weibliche Kurven bekommen und meistens lockere Kleidung an. Ich dagegen habe immer noch mein aschblondes Haar, kaum Muskeln und immer irgendeine Jeans mit einem Shirt. Nadja öffnet die Tür und drückt mich. „Zum Glück bist du jetzt da! Mutter hat mich mindestens schon drei Mal gefragt, wann meine Haare wieder blond werden, wann Sebastian und ich heiraten und wann ich mein Studium wieder aufnehmen kann.“ „Das klingt wirklich nach Mutter“, meine ich und trete in das Haus ein. „Achso, und Flo? Ein Freund von dir ist hier und meint, dass er sich deinen Geburtstag nicht entgehen lassen kann. Mutter fragt ihn im Wohnzimmer aus, also falls du ihn retten willst“, sagt Nadja, während sie versucht einen ihrer Jungs wieder einzufangen, der mit einer Rassel flüchten will. Verwundert frage ich mich, wen sie meinen könnte. Ich habe nicht viele enge Freunde, außer meiner Crew, aber die hätten es kaum vor mir hierhin geschafft. Außerdem haben wir erst morgen Geburtstag und übermorgen fahren wir mit unserem Bus weiter, wir sehen uns also bald wieder.

 

Ich gehe ins Wohnzimmer und bleibe im Türrahmen stehen. Auf dem Sofa sitzt meine Mutter und unterhält sich mit Ben. Ben. Was macht er hier? Trotz meines Schocks stelle ich fest, dass er sich seit damals wirklich verändert hat. Damals war er ein kleiner Junge mit Pausbacken, heute ist er ein muskulöser Mann, der trainieren geht, es aber nicht übertreibt. Damals hatte er lockiges Haar, was ihm ständig in die Augen fiel, heute trägt er einen Undercut mit Locken. Er sieht verdammt gut aus, aber was macht er hier? „Guten Morgen“, kann ich hervorbringen. Meine Mutter dreht sich in Blitzgeschwindigkeit zu mir um und steht auf, um mich einmal an sich zu drücken. „Guten Morgen, Florian. Du hast mir gar nicht gesagt, dass ein Freund von dir auch kommen wird“, sagt sie noch, während sie Ben Kekse anbietet. „Oh, ich wollte Florian überraschen, aber ich kann auch wieder gehen, wenn ich störe“, bietet Ben an. Ich muss mich zusammenreißen, denn er weiß genau, wie ich es hasse, Florian genannt zu werden. „Ach, das müssen Sie doch nicht. Florian wird Ihnen das Gästezimmer zeigen, nicht wahr?“, flötet meine Mutter und lächelt Ben an. Ich nicke nur und mache eine Kopfbewegung, damit Ben mir folgt. Wir gehen die Treppe nach oben und als wir im Gästezimmer stehen, fahre ich zu ihm herum: „Was machst du hier? Verdammt Ben, wir haben uns seit mindestens 12 Jahren nicht mehr gesehen und jetzt kreuzt du hier auf?“ Er schlendert nur durch das Zimmer und beäugt die Blumen, was mich noch mehr auf die Palme bringt. „Ben, rede mit mir!“ Er dreht sich zu mir um und meint: „Was hast du denn? Ich besuche hier nur meinen Jugendfreund und freunde mich mit seiner Familie an, was ich damals ja nicht konnte. Erinnerst du dich?“ „Müssen wir uns jetzt wirklich über dieses Thema streiten? Sag mir, was du hier willst! Und du weißt ganz genau, dass meine Mutter es niemals toleriert hätte!“, rufe ich ihm entgegen. „Was hätte ich nicht toleriert?“, fragt meine Mutter und schiebt sich in das Zimmer. Verdammt, ich bin aus der Übung. Ich hätte wissen müssen, dass sie uns niemals einfach allein nach oben gehen lässt, sondern mit Sicherheitsabstand lauscht. „Ach, ihr Sohn meinte nur, dass sie niemals Tulpen mit Rosen gemischt hätten, oder Florian?“, zwinkert Ben mir zu und lässt sich von meiner Mutter über die genannten Blumen belehren. Ich verlasse das Zimmer und gehe in mein eigenes.

 

Da wir erst hierhergezogen sind, als Nadja und ich 16 alt waren, ist mein Zimmer ganz akzeptabel. Es ist blau und weiß, überall hängen Poster von Sportlern und es riecht nach Mutters Luft-Erfrischer.  Ich lasse mich auf mein Bett fallen und da fällt mir das Handy wieder ein. Ich schließe es an das Netzwerk an, damit es laden kann und starre auf das Teil. Wie kann ich es nur entsperren? Und will ich es wirklich entsperren? Was ist, wenn noch mehr Fotos von Ben und mir darauf sind? Und was will Ben hier? Diese Fragen verursachen mir jetzt schon Kopfschmerzen und ich bin erst eine Viertelstunde hier. Stöhnend krame ich nach einer Schmerztablette und werfe sie ein. Die Tür geht auf und einer von Nadjas Söhnen schleicht sich in mein Zimmer. Entweder ist es Robin oder Lukas, ich kann die beiden nicht auseinander halten. Nadja eilt ihrem Sohn hinterher und lässt sich auf mein Bett fallen. „Jetzt erzähl schon, wer ist dein Kumpel?“, fragt sie mich sofort. „Ben“, antworte ich nur und dieses Wort kostet mich schon Überwindung. „Doch nicht der Ben, oder?“, will sie wissen. Nadja ist die einzige in meiner Familie, die weiß, dass ich schwul bin. Ich musste es ihr damals einfach erzählen, schon einfach, weil sie sich so oft Ausreden einfallen lassen musste, wo ich bin und mit wem. Außerdem waren Nadja und ich uns früher viel näher, doch das endete als sie Sebastian kennenlernte und schwanger wurde. „Doch genau der Ben. Und ich habe keine Ahnung, was er hier macht. Wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen.“, antworte ich und zucke mit den Schultern. Doch Nadjas Gedanken sind schon wieder ganz woanders und sie entdeckt das mysteriöse Handy. „Häh, ich wusste gar nicht, dass du so ein neues Handy hast. Zeig mal!“, ruft sie und rollt sich zu dem Handy.

 

Doch aus irgendeinem Grund möchte ich dieses Geheimnis nicht mit ihr besprechen und reiße ihr das Handy aus der Hand. „Tja, ich habe mit halt ein neues Handy gekauft. Problem?“, sage ich und drehe mich von ihr weg. Nadja rollt nur mit den Augen und geht aus meinem Zimmer. Schade, dieser Anflug von geschwisterlicher Nähe war ziemlich neu, denn seitdem wir aus Hamburg weggezogen sind, war sie viel verschlossener, bis sie dann Sebastian kennenlernte und Robin und Lukas zeugte. Aber das mit dem Handy wollte ich ihr nicht erzählen. Trotzdem hat Nadja mich auf eine Idee gebracht. Wenn das Handy wirklich so neu ist, dann könnte ich mich im Internet doch mal darüber schlau machen. Also werfe ich meinen alten Rechner aus Schulzeiten an und tippe das Modell des Handys in die Suchleiste. Ich finde heraus, dass es eine Slow-Motion-Kamera hat (recht uninteressant für mich), einen ziemlich großen Speicherplatz (an sich ganz gut, aber nicht von Interesse für mich) und eine Fingerabdruck-Sperre. Man kann seinen Fingerabdruck einscannen lassen und der öffnet dann das Handy. Irgendwie gruselig, aber es wird mich auch nicht weiter bringen, denn wieso sollte mein Abdruck gespeichert sein? Ich kenne dieses Handy nicht. Doch was ist, wenn Bens Fingerabdruck das Handy entsperren kann? Doch wie bekomme ich ihn dazu, mein angebliches Handy anzufassen und für mich zu entsperren? Und wo muss man überhaupt seinen Abdruck hinterlassen? Ich fummele an dem Handy rum, doch da öffnet sich ein weiteres Mal die Tür und Robin-Lukas holt mich zum Mittagessen.

 

Als ich das Esszimmer betrete, sitzt meine ganze Familie einschließlich Ben um den Esstisch und unterhalten sich über die Zubereitung des Essens. Ich setze mich an meinen Platz zwischen Nadja und Ben und höre desinteressiert zu. Doch meine Mutter wäre nicht meine Mutter, wenn sie Ben nicht ausfragen würde. „Wo hast du denn den Florian kennengelernt?“ (Die Wahrheit: in der Schule) Bens Antwort fällt jedoch anders aus: „Ach wir beide kennen uns von den Beratungsgesprächen an der Uni. Florian wollte doch mal Medizin studieren und ich bin schon im zweiten Semester, da hat er mich schon fast gelöchert mit seinen Fragen.“, schmunzelt Ben. Ich starre ihn fragend an. Meine Mutter wollte immer, dass ich Medizin studiere und hat mich zu diesen Gesprächen gezwungen, aber wir haben uns nie dort getroffen, denn als Jugendlicher wollte er immer Journalist werden. Und woher weiß er von diesen verdammten Gesprächen? „Das ist ja großartig. Der Florian erzählt immer so wenig.“, gurrt meine Mutter fast schon. „Mutter, das könnte daran liegen, dass ich mein Medizinstudium auf den Haufen geworfen habe und als Comedian durch Deutschland toure.“, antworte ich ihr mit einem genervten Ton. Sie guckt meinen Vater mit diesem Blick an, den ich schon immer gehasst habe. Ich nenne ihn den Er-weiß-nicht-was-er-macht-und-es-ist-garantiert-nur-eine-Phase-Blick. Diesen Blick habe ich in meiner Jugend oft genug bekommen, auch wenn ich nur gefragt habe, ob ich mit Nadja auf das Boyband-Konzert dürfe (ich durfte nicht, sondern musste mir mit meinem Vater den ganzen Nachmittag Baseball angucken). Meine Mutter lässt sich jedoch nicht verwirren und fragt Ben weiter aus. Wir erfahren, dass er gerne Rad fährt, schwimmt und ins Kino geht. Außerdem isst er gerne Zitroneneis, was meine Mutter sofort als Nachtisch ankündigt. Ich bleibe die ganze Zeit still und frage mich, was Ben will. Deshalb sage ich meiner Mutter nach dem Essen auch, dass ich Ben unbedingt den Park in der Stadt zeigen möchte und sie wünscht uns begeistert einen schönen Tag. Ich fühle mich wieder wie 14. Ich hatte nie viele Freunde und ich bringe nie Mädchen mit nach Hause, was daran liegen könnte, dass ich auf Jungs stehe, was meine Mutter aber nicht weiß. Sie hat schon Angst, dass Robin-Lukas ihre einzigen Enkel werden könnten, doch ich lasse mich nie auf Diskussionen ein.

 

Ben und ich gehen nebeneinander her zum Park. Doch irgendwann bleibe ich einfach stehen und dreht sich verwundert zu mir um. „Was ist? Soweit ich das beurteilen kann ist das hier eindeutig kein Park!“, sagt er und zeigt auf die Häusersiedlung um uns. „Sag mir erst was du hier willst“, antworte ich. „Sonst was? Zeigst du mir sonst nicht den Park? Oh, da wäre ich aber traurig.“, sagt Ben zu mir. „Verdammt rede mit mir!“, schreie ich ihm fast schon entgegen. „Na na na, wer wird denn da so ausfallend? Wir gehen jetzt erst zum Park, kapiert?“, fragt er und geht die Straße weiter. Ich hasse seine Art, wenn wir streiten und das war auch schon früher so, doch ich folge ihm zum Park. Aber warum folge ich ihm? Ich bin derjenige, der vier Jahre in diesem Dorf gelebt hat und nicht er. Warum kennt er denn jetzt den Weg zum Park? Achso, er hat Google Maps betätigt, er war schon immer ein Schlauer.  Seufzend zwinge ich mich, hinter ihm herzugehen und beschließe, dass ich diese Frage unbedingt beantwortet haben muss. Ich spiele etwas mit dem Handy, was ich mir vor dem Essen noch schnell eingesteckt habe und versuche mir einen Plan zurechtzulegen, wie ich Ben dazubekommen könnte, das Handy zu entsperren. „Warte mal, Ben, wenn wir zum Park wollen, dann müssen wir jetzt hier abbiegen.“, rufe ich meiner ersten Liebe zu, doch Ben steuert auf den Wald zu. Eigentlich ist es auch egal, wohin wir gehen, deshalb folge ich, was im Nachhinein die dümmste Entscheidung in meinem Leben war.

 

ZUR GLEICHEN ZEIT BEI FLO ZUHAUSE

 

Robin und Lukas spielen Fangen im Garten der Familie, während der Postbote kommt. Flos Mutter nimmt die Post an und legt sie wie jeden Tag auf den Wohnzimmertisch. Erstaunt bemerkt sie, dass jeder von ihnen einen Briefumschlag bekommen hat. Sie ruft ihren Mann ins Wohnzimmer, auch Nadja kommt, nur Robin und Lukas spielen weiter im Garten. Die Familie guckt sich verwundert an und jeder nimmt sich seinen Briefumschlag. Flos Mutter öffnet ihren Umschlag zuerst, guckt sich den Inhalt an, schnappt nach Luft und lässt den Umschlag fallen. Sie stürzt mit zusammengepressten Zähnen aus dem Zimmer und eilt in ihr eigenes. Nadja und ihr Vater gucken sich nur bestürzt an und heben den Brief auf. Zu sehen sind Fotos von Flo, wie er verschiedene Jungs küsst. Nadja guckt sich die Fotos an und danach ihren Vater, der sie anguckt. Er zuckt mit den Schultern und meint: „Ich dachte ja schon immer, dass er anders ist.“ „Naja, schwul zu sein, ist doch nicht schlimm, oder?“, fragt Nadja ihren Vater. Ihr Vater seufzt und meint: „Wahrscheinlich nicht.“ Jetzt öffnet auch ihr Vater seinen Briefumschlag und zu sehen sind dieselben Fotos wie bei Flos Mutter. „Naja, dann muss ich meinen doch kaum noch öffnen, oder?“, fragt Nadja ihren Vater. Der zuckt nur mit den Schultern und geht zu Flos Mutter, um sie trösten. Nadja lächelt nur über ihren emotionslosen Vater, setzt sich an den Tisch und öffnet ihren Umschlag.

 

FLO

 

„Verdammt Ben, was machen wir in diesem Wald?“, rufe ich genervt. Wir stiefeln schon seit 15 Minuten durch diesen Wald und er kommt immer noch nicht an seine gewünschte Stelle. „Ben, ich bin kein Pfadfinder, aber ich habe das Gefühl, dass wir im Kreis laufen.“, meckere ich. Plötzlich dreht er sich um und schreit: „Ach, das ist dein Gefühl, oder was? Und dein Gefühl betrügt dich nie? Du weißt immer, was richtig und was falsch ist, das denkst du, was?“ „Um ehrlich zu sein, würde ich schon behaupten, dass ich ein gesundes Verständnis von Falsch und Richtig habe und mein Gefühl sagt mir, dass dieser Wald…“, beginne ich, doch Ben unterbricht mich. „Weißt du was, Flo deine Comedy-Nummer kannst du hier sparen. Ich kenne dich lange genug und möchtest du mir vielleicht was sagen?“

 

Was ist mit ihm los? Erst stapfen wir endlos durch den Wald und jetzt geht er mich so an? „Okay Ben, was ist los mit dir? Ich denke eigentlich, dass du mir was zu sagen hast. Du tauchst einfach so bei meiner Familie auf, kennst dich perfekt in meinem Ort aus und legst ein Handy mit Fotos von uns in meinen Tourbus? Was geht ab?“, werfe ich ihm vor. „Was für ein Handy meinst du? Du kannst dir deine komischen Witze echt sparen.“, fragt er mich.

 

„Genau dieses Handy hier!“, rufe ich und halte ihm das Gerät unter die Nase. Er greift verwundert danach und betrachtet es von allen Seiten. „Na los, entsperre das Teil und dann kannst du mir auch erzählen, was der ganze Zirkus hier soll!“, fordere ich ihn auf, doch er guckt genauso auf das Feld, in das die PIN gehört. „Flo, ich kenne dieses Handy nicht und versuch nicht mich damit abzulenken!“, sagt er leicht angenervt. „Ich lenke nicht ab!“, weise ich diesen frechen Vorwurf von mir. Auf einmal holt Ben ein Messer aus seiner Tasche und zeigt auf mich. „Flo, ich frage dich noch einmal. Möchtest du mir etwas sagen? Oder dich womöglich entschuldigen?“, fragt er mich. Was will Ben? Und könnte er womöglich dieses Messer runternehmen? Es sieht nämlich echt bedrohlich aus. „Ben, ich habe keine Ahnung, was das Ganze hier soll. Möchtest du vielleicht das Messer herunternehmen?“, bitte ich ihn freundlich. Er schnaubt nur und tritt näher an mich heran. Leider mit dem Messer. „Ben“, flüstere ich nur. „Was hast du? Warum machst du dieses ganze Theater?“ frage ich ihn, doch er antwortet mir nicht, sondern guckt mir nur lange in die Augen. „Ben“, flehe ich jetzt schon fast, doch er kommt nur noch näher. Will er mich töten? Doch warum? Will er mein Stück Kuchen gleich bei dem Kaffeeklatsch mit meiner Mutter? Das war schon immer mein Problem. Also nicht das Stück Kuchen, aber in ernsten Situationen kann ich nicht ernst bleiben. Ich meine, ernsthaft: Wer denkt denn in den womöglich letzten Minuten seines Lebens über Kuchen nach?

 

Ohne richtig darüber nachzudenken, küsse ich Ben. Er flucht leise, doch er küsst mich zurück. Langsam nehme ich seine beiden Hände und löse vorsichtig das Messer aus ihnen, jedoch ohne meinen Mund von seinem zu nehmen. Er trennt sich vorsichtig von mir und guckt mir in die Augen. „Willst du mir jetzt sagen, warum du mich fast erstochen hättest?“, frage ich ihn leise. Er guckt mich an und sagt ebenso leise: „Wegen damals.“ Ich mache ein fragendes Gesicht, denn warum sollte man seine erste Liebe erstechen wollen? Ich kann mich an keinen Fehler erinnern, sondern nur an wundervolle zwei Jahre mit ihm. Er muss mir die Fragen angesehen haben, denn er setzt zur Erklärung an: „Kurz bevor du weggezogen bist, hast du allen erzählt, dass ich schwul bin und ich dich zu einem Kuss gezwungen habe.“ Geschockt gucke ich ihn an. Das habe ich niemals getan, doch wie kommt er darauf, dass ich es gewesen bin? „Ich wurde an der Schule total gemobbt und an der Uni ging es genauso weiter.“ „Ben, du musst wissen, dass ich das nicht war. Jemand anderes hat es den anderen erzählt. Warum sollte ich so etwas tun? Ben, ich habe dich geliebt, aber dann mussten wir umziehen und wir konnten uns beide keine Fernbeziehung vorstellen. Aber was hätte ich davon gehabt, wenn ich allen erzählt hätte, dass du schwul bist und mich gezwungen hättest mich zu küssen?“ Ben scheint in Gedanken versunken, doch dann fragt er mich: „Flo, lüg mich jetzt nicht an. Warst du es wirklich nicht?“ „Nein, Ben, ich schwöre auf alles.“, versichere ich ihm. „Wer hat behauptet, dass ich es war?“, frage ich ihn. „Nadja.“, antwortet er.

 

„Nadja? Meine Schwester? Die Frau, die eben beim Essen neben mir saß?“, frage ich ihn. Er nickt und versichert mir, dass Nadja ihm über Facebook geschrieben hatte und mein angebliches Vergehen gebeichtet hatte. Ich fange an, das Schlimmste zu vermuten. „Ben, weißt du noch, dass ich dir damals nie meine Familie vorgestellt habe?“ Er nickt nur. „Ben, das hatte zwei Gründe: Erstens ist meine Mutter gegen Homosexualität, aber es gab noch ein Problem: Meine Schwester. Sie hatte in ihrer Kindheit sadistische Züge diagnostiziert bekommen, doch sie hat immer Medikamente genommen und sie so in den Griff bekommen. Aber was ist, wenn sie diese jetzt abgesetzt hat? Dann tickt sie durch!“ Ich nahm Ben an der Hand und wir rannten zu dem Haus meiner Eltern. Im Garten spielten Robin-Lukas und Lukas-Robin, doch ich schloss nur schnell die Tür auf und wir stürmten ins Wohnzimmer. Dort las Nadja grade in ihrer Zeitschrift und blickte nur erstaunt auf, als wir hereinpolterten. „DU!“, schrie ich sie an. „Du zerstörst mein ganzes Leben, nur weil du du bist. Hast du Spaß daran, oder was?“, schrie ich weiter. Jetzt kamen auch meine Eltern aus ihrem Schlafzimmer. Meine Mutter hat verheulte Augen, doch mein Vater schien ganz froh zu sein, sie nicht mehr trösten zu müssen. Ich fauchte Nadja weiter an, während sie versuchte, herauszufinden, was ich hatte. Mein Vater hielt mich fest, doch ich hatte es auf Nadja abgesehen. Meine Mutter eilte nach draußen, um Robin-Lukas abzulenken und mein Vater drückte mich auf unser Sofa.  

 

„Was geht denn hier ab?“, fragte Nadja Ben. Der starrte sie nur böse an, aber nach einigen Nachfragen von Nadja erklärte Ben ihr die Situation. Nachdem er fertig war, musste sie anfangen zu lachen. „Er behauptet, dass ich sadistisch wäre? Er hat die Störungen in dieser Familie? Er war schon immer anders, als andere Kinder, aber das er mal soweit gehen würde, hätte ich nicht gedacht.“, sagte sie. „Ich? Du bist das ungewollte Kind in dieser Familie!“, schrie ich sie an. Ben guckte hilflos zwischen uns hin und her und auch mein Vater sah so aus, als ob er überall lieber wäre als hier. „So kommen wir hier doch nicht weiter!“, polterte Ben. „Flo, du gehst jetzt auf den Flur und Nadja stellt uns ihre Argumente vor und danach tauscht ihr.“, schlug er vor. „Du willst dich mit dieser Psychopathin verbünden? Bitteschön, dann macht es doch und glaubt mir halt nicht, aber sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!“, schrie ich und eilte aus diesen Zimmer voller Verräter. Ich ging in mein Zimmer und schlug gegen die Wand. Leider schlug ich nicht meine Hand, sondern meinen Kopf gegen die Wand und wurde ohnmächtig. Kurze Zeit später erwachte ich wieder in einem Haftkrankenhaus. Scheint so, als ob Nadja, die kleine Hexe, meinen Plan doch irgendwie durchschaut hat. Tja, was soll ich sagen?

 

Meine ganze Familie inklusive Ben steht um mein Bett herum und beobachtet, wie ich wach werde. „Florian, stimmt es, was Nadja uns erzählt hat?“, fragt mich meine Mutter in diesem strengen Ton, den sie perfektioniert hat. „Mutter, es stimmt doch alles, was Nadja sagt, oder etwa nicht? Sie ist doch die perfekte in dieser gottverdammten Familie!“, sage ich und schließe meine Augen. „Flo, ich wollte Nadja wirklich nicht glauben, deshalb machen wir hier den Test, okay?“, fragt Ben mich. Was für einen Test denn schon wieder? Soll ich die Hauptstädte aller europäischen Städte aufzählen und dann plädieren wir auf Unschuld? Ich starre Ben nur an, doch der nimmt meinen Finger und legt ihn behutsam auf das Handy. Hastig versuche ich den Finger wegzuziehen. Ich habe das Handy vergessen. Wie konnte ich nur? Das Handy ist das Einzige, was mich belasten könnte. „Es hat sich wirklich entsperrt!“, ruft Ben aufgeregt. Stöhnend ziehe ich mir die Bettdecke über den Kopf und höre wie meine Familie über meine Absurdität diskutiert.

 

Tja, so ein Geburtstag in der Psychiatrie könnte doch Spaß machen, oder nicht?

 

 

 

KURZE ZEIT VORHER IM WOHNZIMMER

 

„Okay, Ben, du musst mir jetzt zuhören und mir glauben, okay?“ „Also, was ich glaube, kann ich ja wohl immer noch selbst entscheiden.“, antwortete Ben etwas grummelig, aber er hörte sich Nadjas Ausführungen an. Nadja erzählte ihm, dass Flo schon immer medizinische Betreuung brauchte, da er Dränge hatte, die nicht normal waren. Er hatte schon immer Nadjas Haustiere geärgert und als sie älter wurden, auch leiden lassen. An diesem Zeitpunkt hatte er Medikamente bekommen und sie waren nach Hamburg gezogen. Dort lernte Flo Ben kennen, doch wenn die beiden nicht zusammen waren, mobbte Flo das Nachbarskind zusammen mit dessen Haustieren. Als die Mutter es herausfand, musste die Familie wieder umziehen und Flo machte sich bereit, für seine nächste Demütigung. Er erzählte allen, dass Ben schwul sei und ihn zu einem Kuss gezwungen hatte. Für sechzehnjährige Jungs war das ein totales No-Go und Ben wurde gemieden. Da Ben sich aber nicht bei Flo darüber beklagte, musste Flo neues Feuer legen, fälschte Nadjas FaceBook-Konto und schrieb Ben, dass Flo schuld sei. Nach all diesen Jahren war das für Ben ein Schock und er reiste sofort zu Flo Elternhaus, damit er Flo zur Rede stellen konnte. Flo hingegen versteckte ein Handy, was er selbst fand, in seinem Tourbus und schickte der ganzen Familie Fotos von sich, wie er Jungs küsst, da er wusste, was für ein Schock es für die Eltern sein musste.

 

Flos Vater und Ben gucken Nadja geschockt an. Ben erzählt, dass er noch für Flo gegenüber den Eltern gelogen hatte, da er wusste, dass Flo sich noch nicht geoutet hatte. Ein Schlag gegen die Wand erschüttert das Haus und der Rest ist bekannt.

 

2 thoughts on “So wie du bist

  1. Hallo YaraFay,
    Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Durch den schwulen Comedian als Protagonisten war die Geschichte erfrischend anders. Hat sich flüssig gelesen, ohne Langeweile zwischendurch. Die Plottwists am Ende haben mir auch sehr gut gefallen. Gut gemacht!

    Dafür auf jeden Fall ein ♥️ von mir!

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

  2. Moin YaraFay,

    das war mal ne erfrischend andere Geschichte. Vielen Dank dafür.

    Deine Geschichte war toll erzählt und sie ließ sich flüssig lesen.
    Dein Protagonist war gut skizziert.

    Aber am besten gefallen haben mir deine Dialoge. Die waren echt authentisch. KLASSE!

    Flo, war ein toller Charakter, der schwule Comedian. Da du ja in der Ich-Perspektive geschrieben hast und auch versucht hast mit dem Leser zu interagieren, hätte ich mir mehr solcher Sachen gewünscht:

    „ Doch warum? Will er mein Stück Kuchen gleich bei dem Kaffeeklatsch mit meiner Mutter? Das war schon immer mein Problem. Also nicht das Stück Kuchen, aber in ernsten Situationen kann ich nicht ernst bleiben. Ich meine, ernsthaft: Wer denkt denn in den womöglich letzten Minuten seines Lebens über Kuchen nach?“

    Da musste ich schmunzeln…davon noch ein wenig mehr dürfte nicht schaden.

    Für den Mut an diesem Wettbewerb teilgenommen zu haben und dafür das du deine Geschichte mit uns geteilt hast, lass ich dir gerne ein Like da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger )

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