Verena ReissDer Albtraum

„Nein!“, Eva schreckte schweißgebadet hoch. Ihr Puls raste. Nur ein Albtraum, nur ein Albtraum, versuchte sie sich zu beruhigen. Automatisch tasteten ihre Finger nach der anderen Seite des Bettes. Es war leer. Natürlich… Paul war noch unterwegs. Als Pilot war er das ständig. Obwohl sie wusste, dass er nicht da war, suchte sie nun doch sehnsüchtig den Raum nach ihm ab. Wie gerne würde sie ihm von diesem schrecklichen Albtraum erzählen, der sie nicht zum ersten Mal heimgesucht hatte. Autsch. Eva fasste sich an den Kopf. Es fühlte sich so an, als ob jemand von innen gegen ihre Schädeldecke hämmerte. „Kein Wunder…“, seufzte sie „wie soll man auch erholt aufwachen, wenn man von solchen Träumen gequält wird?“ Vor ihrem inneren Auge flackerten nun einzelne Bilder auf. Bilder von einer bleichen, alten Frau. Einer Frau, deren Gesicht schmerzverzerrt und blutverschmiert war. Einer Frau, die sie nicht zum ersten Mal in ihren Träumen gesehen hatte. Doch in letzter Zeit wurden diese immer bedrohlicher. Inzwischen schrie die Frau zu ihr, flehte sie um Hilfe an oder lachte sie aus, wobei sie ihren zahnlosen Mund entblößte.

Schnell schüttelte Eva den Kopf, als könne sie so die Bilder der letzten Nacht abschütteln. Ruckartig schwang sie die Beine aus dem Bett und merkte, wie sich um sie herum alles zu drehen begann. Wieder griff ihre Hand instinktiv nach ihrem Kopf. Was war nur los mit ihr? Der Traum allein konnte es jedenfalls nicht sein, das wurde ihr nun klar.

Zum zweiten Mal – nun deutlich langsamer – versuchte sie aufzustehen. Diesmal klappte es, auch wenn sie sich ziemlich wacklig auf den Beinen vorkam. Langsam und mit schweren Lidern tastete sie sich ihren Weg ins Badezimmer. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie genauso schlimm aussah, wie sie sich fühlte. Schnell steckte sie sich die zerzausten Haare hoch und schwang sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht. Die Erfrischung tat gut und Eva wartete einen Moment, bevor sie sich abtrocknete. Gerade, als sie ihr Gesicht in das Handtuch drückte, hörte sie hinter sich ein Geräusch. Eva fuhr erschrocken herum, doch da war nichts. Hatte sie nicht gerade ein Kichern gehört? Unsicher drehte sie sich wieder zum Spiegel und erstarrte. Da! Die alte Frau! Sie hatte sie eindeutig gesehen… Nun, nicht eindeutig, nur am Rand ihres Sichtfeldes und doch… Eva riss den Kopf hektisch von einer Seite des Bades zur anderen. Diese überstürzte Bewegung ließ ihren Magen bedrohlich zusammenzucken. Alles drehte sich. Beruhige dich! Es sind nur Träume! Eva atmete nun ruhiger. Es war nicht das erste Mal, dass sie glaubte, die alte Frau gesehen zu haben. Schon einige Male in der Stadt hatte sie das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden und einmal, da hatte sie die Frau in einem Schaufenster gesehen. Sie war sich so sicher gewesen, doch als sie sich genauer umgeschaut hatte, konnte sie niemanden entdecken. Eva seufzte. Wie gerne hätte sie Paul von alldem erzählt, auch wenn er sie vielleicht nur ausgelacht hätte.

Langsam ging sie ins Wohnzimmer. Ein Blick auf den Wohnzimmertisch lieferte ihr eine deutliche Antwort auf ihre Kopfschmerzen und die Übelkeit. Auf dem Tisch standen zwei benutzte Weingläser und mehrere zum Teil leere, zum Teil angebrochene Flaschen Wein. Allein der Anblick ließ sie würgen. Was hatte sie gestern Abend gemacht? Das zweite Glas deutete auf Besuch hin. Na Gott sei Dank, wenigstens habe ich nicht allein gesoffen, dachte sie halb sarkastisch, halb erleichtert. Wahrscheinlich war ihre Freundin Kathleen hier gewesen. Kathleen lebte nur wenige Häuser weiter und war vor allem dann, wenn Paul unterwegs war, ein großer Trost für sie.  Ja, so musste es gewesen sein! Eva versuchte, sich zu beruhigen, auch wenn Zweifel an ihr nagten. Normalerweise tranken Kathleen und sie nie so viel und warum konnte sie sich dann an gar nichts erinnern? Sie ließ das Wohnzimmer hinter sich und watschelte immer noch wacklig auf den Beinen in die Küche. Ein frisch gebrühter Kaffee und Etwas herzhaftes zu Essen würden den Kater schon verschwinden lassen und dann würde auch ihre Erinnerung zurückkommen.

Eva ging zur Küchentheke, machte die Kaffeemaschine an und bereitete sich ein kleines Frühstück zu. Mit ihrer Lieblingstasse (Paul hatte sie ihr aus Paris mitgebracht) voll heißem, dampfenden Kaffee drehte sie sich zum Küchentisch und erstarrte. Erst ein lauter Knall und stechender Schmerz an ihren Beinen holte sie in die Realität zurück. Vor Schreck hatte sie die Tasse fallen lassen und ein guter Teil des brühendheißen Kaffees hatte sich auf ihre Beine ergossen. Wütend und erschrocken versuchte Eva halbherzig mit ihren Händen den Kaffee von ihren Beinen zu wischen, ließ den Tisch dabei aber für keine Sekunde aus den Augen.

Da leg etwas. Mitten auf dem Tisch. Obwohl Eva selbst nie eins besessen hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass es sich um ein Handy handelte. Und genau das, hatte sie so in Angst versetzt. Weder sie noch Paul hatten so ein neumodisches Gerät. Davon hielten sie beide nichts. Und soweit sie wusste, hatte auch Kathleen kein Handy. Wie um Gottes Willen war es hierhergekommen? Hier, in ihre Wohnung? Mitten auf ihren Küchentisch? Der pochende Schmerz in ihren Beinen ließ sie nun doch kurz auf den Boden schauen. Fluchend ging sie mit schnellen Schritten zur Spüle, ließ kaltes Wasser über ein Handtuch laufen und drückte dieses auf ihre Beine. Das kühle Wasser tat gut und half ihr dabei, ihre Gedanken zu ordnen.

Jemand musste hier gewesen sein. Vielleicht während sie geschlafen hatte? Oder… oder vielleicht auch schon gestern, als sie anscheinend viel zu viel getrunken hatte? Bei dem Gedanken lief ihr ein Schauer über den Rücken und erneut flackerten Bilder der letzten Nacht durch ihren Kopf. Diese wurden allerdings durch einen noch schrecklicheren Gedanken verbannt. Was… Was wenn diese Person noch hier ist? Eva zitterte nun. Langsam und so leise sie konnte, schlich sie zurück ins Schlafzimmer. Der Weg dorthin war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, doch nun, wo sie angekommen war, huschte sie so schnell wie möglich zu Pauls Nachttisch. Sie zog die erste Schublade auf und holte unter all seinen Socken den Schlagstock hervor, den Paul hier versteckte, um seine Familie im Ernstfall zu verteidigen. Allein das Berühren der schweren Waffe gab Eva etwas Zuversicht. Langsam schlich sie vom Schlafzimmer ins Bad, kontrollierte das Wohnzimmer und das Gästezimmer. Sie spähte sogar in alle Schränke, auch wenn es sie einiges an Überwindung kostete, doch, da war niemand.

Als Letztes überprüfte sie die Wohnungstür. Ein Schwall der Erleichterung überkam sie, als sie feststellte, dass die Türe geschlossen war. Langsam schlich sie zur Tür und lugte vorsichtig durch den Spion, halb damit rechnend, die alte Frau aus ihren Träumen würde sie von der anderen Seite zahnlos anlachen. Doch auch auf dem Gang war niemand zu sehen. Evas Hand glitt an die Türklinke. Sie wollte zumindest einen Blick auf den gesamten Gang werfen. Sie drückte die Klinke runter, doch – die Tür war abgeschlossen. Eva furchte ungläubig die Augenbrauen und rüttelte an der Tür. Kein Zweifel, abgeschlossen. Automatisch ging ihr Blick zu der kleinen Schale auf der Kommode, wo Paul und sie die Schlüssel immer aufbewahrten. Doch auch diese war leer. Eva seufzte und fuhr sich mit den Händen durch das lange Haar. „Kein Problem, ganz ruhig.“, murmelte sie zu sich selbst. Es kam zwar selten vor, aber sie hatte schon vorher die Tür gut verschlossen, wenn Paul unterwegs war. Vor allem in der letzten Zeit, in welcher ihre Träume es geschafft hatten, dass sie sich auch tagsüber verfolgt fühlte. Normalerweise legte sie den Schlüssel zwar immer in die Schale, aber gestern, als sie Kathleen schließlich verabschiedet hatte, war sie wohl schon so betrunken gewesen, dass sie den Schlüssel nicht an seinen richtigen Platz gelegt hatte. „Ja, so muss es gewesen sein.“, murmelte Eva „Siehst du, du dummes Mädchen? Kein Grund Angst zu haben!“ Ein kläglicher Versuch, sich zu beruhigen, das wusste Eva. Schließlich lag da immer noch dieses Handy auf dem Küchentisch und dafür gab es bisher keine logische Erklärung. „Aber die muss es geben!“, sagte sie sich, straffte ihre Schultern und ging zurück in die Küche. Den Schlüssel würde sie später suchen. Sicher würde sie ihn auf ihrem Nachtschränkchen finden.

Mit schnellen Schritten – zumindest so schnellen, wie es ihr Körper zuließ – ging Eva zum Küchentisch und ließ sich auf einen der Stühle fallen. Wehmütig schaute sie zu der Scherbenpfütze, die einmal ihr Lieblingsbecher gewesen war. „Konzentrier dich!“, schalt sie sich selbst. „Es gibt jetzt wichtigeres zu tun!“ Mit zitternden Händen griff sie nach dem Handy. Für einen Moment überraschte sie das Gefühl des kleinen Gerätes in ihren Händen. Es fühlte sich vollkommen… normal an. Was hast du auch erwartet, Eva? Dass sich das Ding in eine Hexe verwandelt und dich mit Haut und Haar auffrisst? Über ihre eigene Dummheit lächelnd schüttelte sie den Kopf.

Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Handy. Sie drehte es in ihren Händen, aber außer, dass es eine hellblaue Farbe hatte und „Samsung“ auf der Rückseite stand, konnte sie nichts entdecken. Etwas enttäuscht ließ sie die Schultern hängen. Sie hatte gehofft, dass das Berühren des Handys doch noch zu einem Geistesblitz führen würde und ihr der Besitzer einfiel. Was hast du auch erwartet? Du hast nie darauf geachtet, ob deine Freunde so ein Ding haben und schon gar nicht darauf, wie es aussieht… Gut, dann weiter! Eva drehte das Handy abermals in ihren Händen. „Wie geht das dämliche Ding überhaupt an?“ Allein aus Verzweiflung begann sie, auf dem Handy herumzudrücken und tatsächlich ploppte mit einem Mal ein Bild vor ihr auf. Vor einem schönen Sonnenuntergang erkannte Eva ein kleines Schloss und darunter stand etwas. „Streichen Sie zum Entsperren über den Bildschirm.“ Las Eva leise vor. Na gut. Zaghaft fuhr Eva über den Bildschirm. Und tatsächlich! Der schöne Hintergrund war nun nur noch vage zu sehen. Stattdessen hatte sich ein Zahlenfeld geöffnet und darüber die Anweisung „PIN eingeben – Ihr PIN enthält mindestens 4 Ziffern.“ Bevor Eva sich das genauer anschauen konnte, war der Bildschirm auch schon wieder schwarz geworden. Sie schnaufte genervt, aber ihre Neugierde war geweckt. Wieder drückte sie auf das Handy, wieder sah sie den schönen Sonnenuntergang und wieder tauchte nach einem Wischen ihrerseits das Zahlenfeld vor ihr auf. Aber erst jetzt wurde Eva klar, dass sie überhaupt nicht wusste, welche Zahlen sie dort eingeben könnte.

Sie grübelte. Vier Zahlen… Vier Zahlen… Auf einmal fiel ihr ein, dass sie mal im Fernsehen gesehen hatte, wie davor gewarnt wurde, dass zu viele Menschen ihr Geburtsdatum als Passwort verwendeten. Aber natürlich! Das wäre zumindest eine Idee! Und eine andere Wahl hast du doch nicht, oder? Schnell griff sie nach dem Handy und klickte sich zum Tastenfeld durch. 1204, Eva tippte ihren eigenen Geburtstag in das Handy ein. Doch so schnell, wie sie getippt hatte, so schnell verschwanden die Zahlen auch wieder und der Schriftzug „PIN Eingabe ungültig“ erschien. Eva seufzte. Gut, das wäre auch zu schön gewesen. Entschlossen tippte sie nun 2507 in das Gerät. Das war Pauls Geburtstag. Vielleicht war es sein Handy? Vielleicht hatte er sich eins gekauft, ohne es ihr zu sagen? Eva wusste, wie unwahrscheinlich das war. Noch dazu hätte Paul es dann wohl kaum hier liegen lassen, sondern mit auf die Reise genommen. Und tatsächlich, auch diese Eingabe war falsch.

Enttäuscht legte Eva das Handy zurück auf den Tisch und schloss die Augen. Sie überlegte fieberhaft. Welche Zahlenkombination könnte sie noch versuchen? Ihren Hochzeitstag? Nein, sie hatten an Pauls Geburtstag geheiratet. Dass dieser ausgerechnet auf einen Samstag gefallen war, war ihnen wie ein gutes Omen vorgekommen. Was dann? Auf einmal leuchteten Zahlen vor ihrem inneren Auge auf. 1805. Was für ein Datum war das? Vielleicht der Geburtstag einer Freundin? Kathleens jedenfalls nicht, die hatte am vierten März Geburtstag. Na gut, entschlossen öffnete Eva die Augen, egal, woher diese Kombination gekommen war, sie würde sie als Wink des Schicksals akzeptieren. Erneut schnappe sie das Handy und tippte die Zahlen ein. 1.8.0.5. Eva starrte ungläubig auf das Handy, welches nun tatsächlich einen strahlendhellen Hintergrund und viele kleine Symbole zeigte.

Eva las die kleinen Beschriftungen und klickte zunächst auf ein blaues Symbol unter welchem „Nachrichten“ stand. Doch leider schien noch niemand mit diesem Handy eine Nachricht verschickt zu haben. Das Handy zeigte lediglich einen weißen Hintergrund mit der Überschrift „Konversationen“. Eva kehrte zum Hauptbildschirm zurück und versuchte es bei „Kontakte“, „Samsung Notes“ und „WhatsApp“, doch jedes Mal ohne Erfolg. Gerade überlegte sie, ob das Handy tatsächlich noch ganz neu war und vielleicht doch Paul es gekauft hatte, als sie auf das orangene Feld „Galerie“ klickte.

Zu ihrer großen Überraschung blieb der Hintergrund nicht weiß. Er zeigte nun ein Foto. Und zwar nicht irgendein Foto. Auf dem Foto zu sehen war sie. Ungläubig betrachtete Eva das Bild. Sie kannte dieses Foto! Es war in ihrem Kroatienurlaub aufgenommen worden. Eva strahlte in die Kamera. Sie trug ein langes, weißes Sommerkleid, welches sich um ihren schlanken Körper schmiegte. Auf dem Kopf trug sie einen Strohhut, den sie mit einer Hand festhielt. Ihr blondes Haar wehte im Wind. Im Hintergrund erkannte man das Meer. Unwillkürlich musste Eva lächeln. Was für ein herrlicher Tag das gewesen war! Und dennoch… Wie kam dieses Bild auf dieses Handy? Alles sprach für Paul… Und tatsächlich, als Eva über das Bild strich, erschien auf einmal ein anderes Foto. Auch dieses war an diesem Tag in Kroatien entstanden. Eva trug immer noch das weiße Kleid, doch inzwischen senkte sich die Sonne blutrot über dem Meer und an ihrer Seite stand Paul. Groß, gutaussehend und braungebrannt ließ er ihr Herz höherschlagen. Was für einen tollen Mann sie sich doch geangelt hatte. Sie betrachtete sein Lächeln. Es hatte schon immer etwas Zweideutiges gehabt und obwohl sie das an Paul immer besonders attraktiv gefunden hatte, versetzte es ihr auf einmal einen Stich. Sie wunderte sich kurz, schob den Gedanken aber schnell bei Seite. 

Liebevoll strich sie über Pauls Abbild und… Eva schrie. Mit einer raschen Handbewegung hatte sie das Handy von sich geworfen. Es prallte gegen den Kühlschrank und landete mit der Bildschirmseite nach unten auf dem Boden. Eva atmete stoßweise, ihr Herz raste und Tränen traten in ihre Augen. Was…? Was hatte das zu bedeuten? Das… Das konnte einfach nicht sein! Nein, das musste sie sich eingebildet haben! Sie war immer noch verkatert! Der Restalkohol in ihrem Blut musste ihr einen Streich gespielt haben. So musste es einfach sein.

Ganz langsam – ganz so, als würde sie damit rechnen, das Handy würde sich nun doch noch auf sie stürzen – schlich sie zu dem am Boden liegenden Gerät. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie mehrere Anläufe brauchte, um es umzudrehen. Der Bildschirm war immer noch hell erleuchtet und das, was Eva sah, ließ sie erneut zurückschnellen. Sie hatte sich nicht geirrt. Es war keine Einbildung. Von dem Bildschirm des Handys starrte sie die alte Frau aus ihren Albträumen an. Zwar schrie und weinte die Frau nicht und sie hatte auch nicht dieses hämische Lachen aufgesetzt, welches Eva in ihren Träumen quälte, aber es war eindeutig dieselbe Frau.

Auf dem Foto wirkte sie eingefallen und traurig und bei genauerer Betrachtung fiel Eva auf, dass die Frau während der Aufnahme leicht an der Kamera vorbeigeguckt haben musste. Ganz so, als ob sie denjenigen betrachten würde, der das Foto gemacht hatte. Das alles änderte nichts an Evas unbändiger Angst. Wie kann das sein? Wie kann es ein Foto von dieser Frau geben? Die Antwort darauf war so banal wie schrecklich. Diese Frau, von der sie sich seit geraumer Zeit verfolgt fühlte, war real.

Evas Gedanken rasten. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Gehörte dieser Frau vielleicht das Handy? Wenn Eva sich die Frau nicht eingebildet hatte, wenn sie wirklich real war, dann, da war sich Eva sicher, hatte diese Frau sie auch verfolgt. So oft hatte sie in letzter Zeit das Gefühl gehabt, die Frau irgendwo zu sehen. Immer nur im Augenwinkel zwar, nur am Rande ihres Bewusstseins und doch klar genug, um Eva mehr und mehr in Angst verfallen zu lassen, sie langsam, aber sicher an sich zweifeln zu lassen…

Und nun das! Diese Frau musste in ihre Wohnung eingedrungen sein. Sehr wahrscheinlich hatte sie sie auch hier beobachtet. Wieder überkam Eva ein Schauer. Als sie daran dachte, dass ihr die Frau vielleicht auch beim Schlafen zugesehen hatte, wurde ihr regelrecht schlecht. Was wollte diese alte Irre von ihr? In Eva kochte die Wut hoch. Die Alte wollte sie fertig machen! Ganz klar! Aber nun war sie zu weit gegangen. War hier hereingekommen, in ihre und Pauls Wohnung und hatte dann noch dieses Handy hier platziert – ganz eindeutig so, dass sie es finden musste. Das würde Eva sich nicht bieten lassen! Sie hatte keine Ahnung, wer diese Alte war oder was sie von ihr wollte, aber eins wusste Eva – die hatte sich die Falsche ausgesucht!

Eva schnappte sich das Handy und sprang auf. So schnell es ihr Körper erlaubte, stürzte sie ins Schlafzimmer, riss den Schrank auf, klaubte ein paar Kleidungsstücke heraus und begann sich hastig anzuziehen. Sie würde zur Polizei gehen! Jetzt sofort! Eva schlug die Schranktür zu, drehte sich um und da sah sie sie! Direkt hinter ihr stand die Frau. Mit einem lauten Schrei wirbelte Eva herum und – nichts. Verwirrt drehte sich Eva zu der Stelle, wo sie die Frau gesehen hatte. Da war nur der große Ankleidespiegel, durch welchen sie sich nun selbst völlig verängstigt anstarrte. Eva riss einen langen Mantel aus dem Schrank und warf ihn über den Spiegel. Ganz ruhig, ganz ruhig. Lass dich nicht von der Alten fertig machen! Schnell! Geh zur Polizei!

Eva gab sich einen Ruck und torkelte aus dem Schlafzimmer auf die Wohnungstür zu. Sie drückte die Klinke runter, doch nicht geschah. Eva schlug sich eine Hand vor den Kopf. Ach ja! Die Tür war ja verschlossen! Wo war der verdammte Schlüssel? Zurück im Schlafzimmer fiel Evas erster Blick auf die beiden Nachttische. Doch auf beiden lag nichts. Sie durchwühlte das Bettlaken, suchte auf dem Boden, doch nichts. Der Schlüssel war nicht da. Auf einmal kam Eva ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn die Alte mich hier eingesperrt hat? Was wenn sie den Schlüssel einfach mitgenommen hat? Dann würde sie hier drin festsitzen, zumindest bis Paul nach Hause kam…

Jetzt stell dich nicht so dämlich an! Das Telefon! Ruf die Polizei an! Eva rappelte sich erneut auf und griff nach dem Telefon im Flur. Sie hielt es an ihr Ohr, doch die Verbindung war tot! Eva konnte es nicht fassen. Mit zitternden Fingern fuhr sie das Kabel entlang und tatsächlich – jemand hatte es durchgeschnitten! Nun musste Eva würgen. Sie ließ sich auf den Flurboden sinken und erbrach sich. Eva wimmerte leise. Sie fühlte sich so elend, so einsam, so hilflos. Was sollte sie nur tun? Das Handy kam ihr in den Sinn. Sie wusste, dass es ein verzweifelter Versuch war, trotzdem holte sie es aus ihrer Manteltasche und gab erneut 1805 ein. Dann drückte sie auf den grünen Hörer und tippte 110 ein, doch nichts passierte, das Handy hatte kein Signal. Eva ließ ihre Hand langsam zu Boden gleiten, hielt das Handy aber weiterhin umklammert. Natürlich würde es nicht ihre Rettung sein. Schließlich hatte diese Frau es hier gelassen, um sie zu quälen. Um ihr zu zeigen, dass sie echt war. Schließlich war nichts auf diesem Handy, außer dem Foto dieser Frau und… Eva erstarrte. Ja genau! Außer dem Foto befanden sich noch zwei Urlaubsfotos von ihr auf diesem Handy. Was sollte das? Was hatte die Alte damit bezwecken wollen? Wenn sie ihr hätte Angst machen wollen, hätte es sicher passendere Fotos gegeben. Und wo hatte sie die Bilder überhaupt her? Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit.

Eva wischte sich über den Mund und stand auf. Langsam ging sie ins Wohnzimmer zurück und suchte mit den Augen das Bücherregal ab. Da war es! Mit einer schnellen Bewegung zog sie das ehemals weiße, inzwischen etwas angestaubte Fotoalbum heraus. Sie ließ sich mit dem schweren Album auf die Couch sinken und fuhr mit dem Finger über die Gravur auf dem Cover. „Unsere schönsten Erinnerungen“ stand dort in geschwungener Schrift. Sie und Paul hatten das Album zusammen ausgesucht und immer viel Spaß dabei gehabt, die schönsten Bilder auszuwählen und einzukleben.

Vorsichtig öffnete sie das Album und begann zu blättern. An ihrem und Pauls Hochzeitsfoto wäre sie fast hängengeblieben, doch sie ermahnte sich, weiterzusuchen. Und schließlich fand sie, was sie gesucht hatte. Der Eintrag über ihren Kroatienurlaub. Hier waren die beiden Fotos, die sie auch auf dem Handy gefunden hatte. Heiße Wut überkam Eva, als sie darüber nachdachte, wie diese Alte sich an ihrem Album zu schaffen gemacht hatte, wahrscheinlich, während sie geschlafen hatte. Trotzdem trat auch Ernüchterung ein. Sie hatte sich durch die Fotos Antworten erhofft, hatte halb damit gerechnet, leere Seiten im Album vorzufinden… Oder anstatt der Fotos vielleicht eine Botschaft, einen Hinweis… Und wenn es nur eine Drohung gewesen wäre.

Eva seufzte erneut, blätterte auf die nächste Seite – und erstarrte. Ihre Hände zitterten erneut so heftig, dass sie Mühe hatte, das schwere Album festzuhalten. Was zum Teufel? Ihr Kopf drehte sich und erneut wurde ihr kotzübel. Aber da war nichts mehr in ihrem Magen, was sie erbrechen konnte. Somit blieb ihr nichts anderes übrig als auf das Album zu starren. Auf sich, Paul und… auf ihr kleines Mädchen. Eva strich über das Bild, als ob sie es nicht glauben könne. Ihr kleines Mädchen, ihre kleine Marietta. Da stand sie, neben Paul und ihr. Sie hatte die blonden Haare und die zierliche Figur von Eva, aber die schönen blauen Augen und die braune Haut von Paul geerbt. Auf dem Bild trug sie ein blassrosa Kleid, welches ihr ganz ausgezeichnet stand und lächelte scheu in die Kamera. Die Überschrift des Bildes lautete „18. 05. – unser kleiner Engel wird zwölf!“ 1.8.0.5. Aber natürlich! Eva zitterte nun so heftig, dass ihr nun doch das Album vom Schoß glitt.

Mit einem Rumms landete es auf dem Boden. Doch Eva hörte es nicht. Sie hörte gar nichts mehr. Wie um Himmels Willen hatte sie den Geburtstag ihrer eigenen Tochter vergessen können? Nein, noch schlimmer! Wie hatte sie ihre Tochter vergessen können? Seit sie heute aufgestanden war, hatte sie keinen einzigen Gedanken an Marietta verschwendet. Ihr Blick wanderte zu den leeren Weinflaschen. Sie hatte keinen Kater. Zumindest nicht nur. Das wurde ihr nun schlagartig bewusst. Egal, wie viel Alkohol sie auch getrunken haben mochte, niemals hätte sie ihre Tochter vergessen. Hatte die Alte ihr etwa was untergemischt? Hatte sie ihr Drogen in den Wein gemischt, ohne, dass sie es gemerkt hatte? Drogen, die dafür sorgten, dass sie ihre Tochter vergaß… Gab es so etwas überhaupt?

Wie in Trance stand Eva auf. Hektisch sah sie sich in der Wohnung um. Marietta, ihr Baby, ihr kleiner Engel! Wo war sie? Eva rannte zum Fenster. Sicher war sie draußen! War früh aufgestanden und spielte draußen im Hof mit ihren kleinen Freunden! Ja, so musste es einfach sein. Eva riss das Fenster auf und beugte sich tief nach unten. Doch egal, wie weit sie sich vorbeugte, um auch ja die letzte Ecke des Hofes zu sehen, da war niemand. Tränen rannen Eva vom Gesicht. Was sollte sie nur tun?

Beruhige dich! Sie ist sicher in ihrem Zimmer! Schau in ihrem Zimmer nach! Und obwohl Eva wusste, dass es aussichtslos war, obwohl sie wusste, dass sie schon alle Zimmer durchsucht hatte, stürmte sie in Mariettas Zimmer. Moment, nein! Das war… Das war das Gästezimmer… Oder nicht? Eva stand fassungslos im Türrahmen von Mariettas Zimmer. Das war Mariettas Zimmer, doch Mariettas Sachen fehlten vollkommen. Vor ihr lag eindeutig ein Gästezimmer. Das Gleiche, das sie heute Morgen schon nach einem vermeintlichen Einbrecher durchsucht hatte.

Es war, als ob jegliche Kraft aus Evas Körper gesogen wurde. Sie ließ sich auf den Boden sinken und starrte in diesen Raum, der ihr so vertraut und doch so fremd vorkam. Nun rasten ihre Gedanken nicht mehr. Ihr Kopf fühlte sich vollkommen leer an. Wie war das alles nur möglich? „Bitte Gott, bitte!“, flüsterte Eva „Bitte lass das alles nur ein böser Traum sein.“ Erneut liefen Tränen über ihre Wangen „Bitte, bitte lass mich aufwachen!“ Allein der Gedanke an Marietta gab Eva die Kraft, überhaupt wieder vom Boden aufzustehen. Ihr Kind war nicht da. Ihr Kind brauchte vielleicht ihre Hilfe. Diese Alte hatte irgendwas damit zu tun, das wusste Eva.

Eva verbot sich, darüber nachzudenken, wie die Alte das mit diesem Zimmer angestellt hatte. Sie wusste, würde sie darüber nachdenken, würde sie zu dem Schluss kommen, dass es einfach keine logische Erklärung gab… Oder dass die einzige Erklärung war, dass sie wahnsinnig geworden war und sich vielleicht doch alles nur einbildete… Die Frau, das Handy, vielleicht alles hier. „Du bist verrückt! Du bist verrückt! Du bist verrückt!“, lachte die Alte ihr zahnloses Lachen in Evas Kopf. Eva schüttelte den Kopf, bis sie die Frau nicht mehr hören konnte. Diese Gedanken durfte sie nicht zulassen. Ihr Mädchen war real und brauchte vielleicht Hilfe. Das war das Einzige, was im Moment zählte.

Eva schwankte zurück ins Wohnzimmer und klaubte das Fotoalbum vom Boden auf. Es war das Einzige, woran sie sich klammern konnte. Das einzige, was ihr vielleicht weiterhelfen konnte. Erneut starrte sie auf das Foto von sich, Paul und Marietta. Sie betrachtete ihre Tochter ganz genau und auf einmal fiel ihr auf, dass Marietta irgendwie traurig aussah. Warum sah ihr Kind traurig aus? Die Aufnahme war an ihrem Geburtstag entstanden und den feierten sie auch noch am Strand. Und doch erreichte das scheue Lächeln ihrer Tochter nicht ihre traurigen Augen.

Verwirrt blätterte Eva weiter. Auch auf den nächsten Seiten waren sie immer zu dritt zu sehen und obwohl sich auf jedem Foto auf den ersten Blick die perfekte Familienidylle darbot, wirkte Marietta von Bild zu Bild unglücklicher, ängstlicher, distanzierter. Vor allem auf den Fotos, auf denen sie neben ihrem Vater stand. Eva starrte auf ein weiteres Bild.  Sie selbst hielt einen bunten Drink umklammert und prostete der Kamera zu, Paul stand in der Mitte und hatte – wie so oft sein zweideutiges Lächeln aufgesetzt – einen Arm um sie gelegt. Der andere Arm lag um Mariettas Hüfte. Paul drückte seine Tochter an sich. Beide lächelten. Doch je länger Eva auf das Bild starrte, je mehr empfand sie diese Umarmung als anstößig.

Es schien so, als ob Paul eine Nähe erzwang, die unangemessen war und Marietta darum bemüht war, ihm nicht allzu nahe zu kommen. So hatte sie den Kopf leicht von ihm weggedreht, ihre Augen schauten hilfesuchend aus dem Bild heraus. Eva starrte erneut auf ihr eigenes Abbild. Wie hatte ihr das nicht auffallen können? Sie war doch dabei gewesen… Hatte genau daneben gestanden… War sie zu beschäftigt mit ihrem Drink gewesen? Wie viel hatte sie an dem Tag wohl schon getrunken…?

Eva blätterte weiter. Auf den Fotos wurde Marietta größer und größer, älter und älter… Moment, wie alt war Marietta jetzt? Eva hielt inne. Sie… Sie wusste es nicht… Sie wusste nicht, wie alt ihr kleines Mädchen war… Was war nur in diesem Wein gewesen? Wieder blätterte sie um und wieder sah sie Marietta. Eva schätzte sie auf ungefähr fünfzehn. Diesmal fehlte Paul auf dem Bild. Nur sie und ihre Tochter waren zu sehen. Das Bild versetzte Eva einen heftigen Stich. Sie erinnerte sich! Sie erinnerte sich an den Tag dieser Aufnahme! Marietta und sie… Sie hatten vorher noch gestritten. Obwohl beide lächelten, konnte man es, wenn man es wusste, auch deutlich erkennen. Ihr eigenes Lächeln wirkte erzwungen, ihre Augen funkelten wütend und Marietta hatte geweint. Ihre Wangen waren noch ganz rot, die Augen geschwollen.

„Mama, warum willst du mir nicht glauben?!“, hörte sie den flehenden Ausruf ihrer Tochter „Mama bitte, Mama, du musst mir helfen!“ „Nun red keinen Unsinn, Marietta! Du machst dich ja vollkommen lächerlich!“, das war ihre eigene Stimme. Warum klang sie nur so hart und kalt? Warum half sie ihrem kleinen Mädchen nicht? „Mama, bitte! Mama, du kannst nicht behaupten, dass du nichts mitbekommen hast! Bitte, lass nicht zu, dass er das weiter mit mir macht!“, ihr Mädchen war nun vollkommen außer sich. Ihre Stimme klang so verzweifelt, dass es Eva das Herz brach. Doch ihr früheres Ich fühlte nicht mit ihrer Tochter, ganz im Gegenteil, sie klang nun wütend. „Was willst du von mir hören, Marietta? Das alles ist doch nur deine Schuld! Ständig läufst du hier in deiner Unterwäsche herum! Und wie oft habe ich dir gesagt, dass du dich nicht schminken sollst?! So etwas gehört sich für anständige Mädchen nicht! Das alles hast du dir ganz allein zuzuschreiben!“, und dann aus dem Nebenraum auf einmal Pauls Stimme, der anscheinend gerade erst nach Hause gekommen war „Aber, aber! Meine beiden Lieblingsmädels werden sich doch nicht etwa streiten? Kommt her, meine Damen. Ich will euch die neue Kamera zeigen, die ich heute gekauft habe!“

„NEIN!“, Eva hatte so laut geschrien, wie sie konnte und sich damit aus ihrer Erinnerung herausgerissen. „Nein, nein, nein, nein! Nein! Das kann einfach nicht wahr sein! Bitte Gott, das kann nicht wahr sein!“ Eva schrie und weinte, aber es half alles nichts. Auf einmal brachen die Erinnerungen nur so über sie herein. Wie wild begann sie im Album zu blättern, nur um zu bestätigen, was sie nun wieder wusste. Paul hatte ihr kleines Mädchen missbraucht. Jedes Foto, ab den Aufnahmen des Kroatienurlaubs, schrien ihr das nun förmlich entgegen.

Wie hatte sie das nicht sehen können? Sie war damals gerade zwölf gewesen! Zwölf! Und was hatte sie getan? Danebengestanden und weggesehen. Nein. Viel schlimmer. Sie hatte es gesehen. Spät erst, ja. Viel zu spät. Doch irgendwann war Paul so offensichtlich in Mariettas Zimmer geschlichen, dass alles Weggucken nicht mehr half. Und was hatte sie getan? An der Stelle, als sie ihrer Tochter endlich hätte helfen müssen? Sie hatte ihr die Schuld gegeben. Daran, dass Paul sich lieber zu ihr ins Bett legte als zu Eva. Sie war eifersüchtig auf ihre eigene Tochter gewesen! Eifersüchtig auf ihr Kind, das sie hätte schützen müssen! Und nun, nun war ihr Kind weg.

Diese Erkenntnis präsentierte ihr auch das Fotoalbum. Auf dem Letzten, das Marietta zeigte, war sie vielleicht sechszehn, höchstens siebzehn Jahre alt. Danach gab es nur noch sie und Paul. Auf keinem einzigen Bild war mehr ihre Tochter zu sehen und schließlich zeigte eines der Fotos Eva am Grab ihres Mannes. „Immer habe ich zu diesem Dreckskerl gehalten!“, schluchzte Eva „Nie war ich für meine Tochter da. Und nun… Nun bin ich ganz allein!“ Sie ließ das Fotoalbum erneut fallen, schlug sich die Hände vors Gesicht und weinte nun hemmungslos. „Ja, du bist ganz allein!“, sagte die alte Frau hinter Eva „Du bist ganz allein, du Miststück und das ist noch mehr, als du verdient hast! Du bist eine Heuchlerin! Eine Lügnerin! Ein Monster! Du bist eine vertrocknete alte Frau, die niemand braucht!“

„Ja!“, schrie Eva „Ja, das bin ich! Ja, ich bin…“, sie stockte. Die Erkenntnis traf sie mit einem heftigen Schlag. Zitternd nahm sie die Hände vom Gesicht und betrachtete sie. „Aber… Nein… Das kann nicht…“, stammelte sie „Das… Wessen Hände sind das?“ Ungläubig starrte sie auf die alten, faltigen Hände vor ihren Augen. Und nicht nur ihre Hände, auch ihre Arme waren faltig und hingen schlaff herunter. Eva stand auf. Sie stolperte ins Schlafzimmer und riss den Mantel vom Spiegel. Fassungslos starrte sie ihr Spiegelbild an. Dort war sie! Die alte Frau! Die Frau, die sie die ganze Zeit verfolgt hatte… Diese Frau war… sie. Eva hatte noch nie alles so klar gesehen und nie hatte sie sich mehr die Ahnungslosigkeit herbeigesehnt. „Nein!“ schrie sie „Nein, nein, nein!“ Mit beiden Fäusten hämmerte sie gegen den Spiegel „Nein! Nein, du dreckiges Monster! Du Drecksstück! Du Hure!“ Der Spiegel zersprang und Splitter bohrten sich in Evas Arme. Aber das war ihr egal. Es war ihr egal, dass ihr Blut immer schneller ihre Arme hinunterrann und auf dem Boden eine Lache bildete. Sie wollte nur noch vergessen, sie wollte tot sein.

***

Marietta Hufschmied lehnte sich zufrieden in ihren Sessel zurück, während sie weiter auf den großen Monitor vor sich schaute. Sie liebte diese Stelle. Sie liebte es, wenn ihre Mutter begann sich zu bestrafen. Es war ihr liebster Moment, auch wenn sie ebenso gerne dabei zusah, wie ihre Mutter glaubte wahnsinnig zu werden.

Ihre Mutter hatte nach dem Tod ihres Vaters mehrfach versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Natürlich viel zu spät und nur, weil sie nicht hatte allein sein wollen. Marietta verachtete sie dafür, fast so sehr wie für ihr Verhalten, während ihr eigener Vater sie jahrelang vergewaltigt hatte. Dieser war Gott sei Dank mit einem frühen Tod bestraft worden. Sicherlich, eine milde Strafe. Doch Marietta war eine gläubige Frau und stellte sich nur zu gerne vor, wie ihr Vater in der Hölle brannte.

Ihre Mutter hingegen hatte ein langes Leben geschenkt bekommen. Eines, was Marietta zunächst dadurch hatte zerstören können, dass sie ihrer Mutter jeglichen Kontakt zu sich und natürlich auch ihren beiden Kindern strengstens untersagte. Niemals hätte sie zugelassen, dass diese Frau eine Rolle im Leben von Amelie und Christoph gespielt hätte.

Doch dann meinte es Gott allzu gut mit ihrer Mutter und schenkte ihr das süße Vergessen der Demenz. Eva glaubte wieder eine junge Frau zu sein, frisch verheiratet mit ihrem Vorzeigegatten Paul. Und da sie in ihrer Vorstellung kinderlos war, konnte sie sich natürlich auch nicht an ihr schändliches Verbrechen erinnern. Das hatte Marietta einfach nicht zulassen können. Nein, ihre Mutter hatte noch lange nicht genug gelitten, für das, was ihr zugestoßen war. Und leiden, das würde sie. Immer wieder und wieder und wieder. „Vielleicht lege ich das Handy nächstes Mal direkt auf ihren Nachttisch.“, überlegte Marietta und schaltete den Monitor mit einem Lächeln aus

5 thoughts on “Der Albtraum

  1. Liebe Verena,

    jetzt muss ich mich erstmal sammeln… was für eine Geschichte… leider brandaktuell.

    Tolle Dynamik und die Auflösung ist überraschend und tragisch.

    Mir hat es gezeigt, dass es sich wirklich lohnt Geschichten zu lesen, die noch wenig Likes haben. Deine hat eindeutig mehr verdient und ich hoffe, das ändert sich noch.

    Mein rotes Herz ❤️ hast Du.

    1. Liebe Tina,

      vielen Dank für deinen lieben Kommentar! Es freut mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat. Die Likes sind wir gar nicht so wichtig, aber über Kommentare freut man sich natürlich sehr <3 Hast du auch eine Geschichte geschrieben?

      Liebe Grüße

      Verena

  2. Hi Verena, du hast deine Geschichte gut durchstruktuiert. Man ahnt zwar irgendwann, dass die alte Frau mit der Protagonistin identisch ist, aber die Auflösung ist trotzdem spannend. Ich schliesse mich Tina an, man sollte auch die Geschichten lesen, die nicht so viele Likes haben.
    Falls es dich interessiert, meine Geschichte heisst “Aimee`s Lächeln” Von mir bekommst du auch ein Herzchen
    Liebe Grüsse Minka

  3. Hallo Verena,
    ich kann nicht fassen, dass ich erst heute, am letzten Tag der Abstimmung, auf deine Geschichte gestoßen bin! Durch deine Art zu schreiben hast es geschafft, den Spannungsbogen gezielt aufzubauen. Mit deinem tollen Schreibstil hast du mich direkt mitten ins Geschehen gezogen. Zwischendurch kamen ein paar Fragen auf (Drei Leute, die kein Handy haben? Spielt die Geschichte in einer früheren Zeit? Aber dann wird ein Smartphone geschildert…?! Müsste der Notruf nicht auch ohne Empfang funktionieren?!), die mich aber beim Lesen erstmal nicht gestört, sondern eher neugierig gemacht haben, und die ja (abgesehen von der Notruf-Frage) später aufgeklärt wurden. Ja, ab einem gewissen Punkt ahnt man, worauf es hinausläuft, aber es hat bei mir zumindest etwas länger gedauert, als bei manch anderen Geschichten. Ich finde es wirklich schade, dass du so wenige Likes und Kommentare hast! Ich persönlich würde gern mehr von dir lesen.
    Beste Grüße
    Sandra
    (https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/gefangen-2)

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