SandyMercierWarum hasst du mich?

 

 

 

 

Warum hasst du mich?

 

Eine Kurzgeschichte von Sandy Mercier

 

 

 

 

 

 

3638 Wörter

18283 Zeichen

 

Kapitel 1 – Hässlich

„Ich bin hässlich.“ Sie krallte sich an dem Messer fest, als wäre es ihr Rettungsanker. Es war ihr Rettungsanker. Die scharfe Klinge rettete ihr jedes Mal das Leben. Jedes Mal, wenn sie es ansetzte, erlöste es sie von ihm.

Am liebsten würde sie sich ihre Fettpolster wegschneiden. Damit sie endlich gut genug für ihn aussehen würde. Doch sie war noch nie gut genug gewesen. Nicht für ihre alte Familie, und erst recht nicht für ihre neue. Sie war ein Nichts.

Kira setzte sich in die leere Badewanne und betrachtete ihren Fuß. Manchmal dachte sie, dass die Narben darauf das einzig Schöne an ihr waren. Das Einzige, dass wirklich ihr gehörte. Er hasste Füße, so dass sie immer mit Pumps rumlaufen musste. Nie durfte sie diese ausziehen, nicht mal beim Schlafen. Einmal, als er sie ohne entdeckt hatte, verprügelte er sie so heftig, dass sie drei Wochen nicht das Haus verlassen konnte.

Das war gut. Denn dadurch hatte sie etwas gefunden, dass er nicht zerstören konnte. Dies zu tun oblag einzig und allein ihr. Ein gutes Gefühl. Es war das bisschen Macht, dass Gott ihr zugestand. Kira drückte die Klinge fest an ihre Fußsohlen und beobachtete, wie das Blut flussähnlich die weiße Wanne bedeckte. Ein wunderschönes Farbenspiel. Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie konnte in diesem Moment alles sein, alles ausblenden, was sie so sehr hasste. Sich selbst.

 

Nach ein paar Minuten Glück konzentrierten sich ihre Sinne wieder auf ihr echtes Leben. Das Gebrüll des Babys wurde lauter. Der erlösende metallische Geruch von Blut drang stark in ihre Nase und vermischte sich mit dem vom Braten, den sie jetzt schleunigst im Ofen wenden sollte. Die Farbe rot schien ihr nun bedrohlich. Sie hatte doch gar keine Zeit für diesen Quatsch gehabt. Nun musste sie auch noch die Badewanne putzen, bevor er nach Hause kam.

Schweißperlen setzten sich auf ihre Stirn. Ihr Magen rebellierte. Hektisch verarztete sie erst ihren Fuß und dann die Wanne. Geübt schlüpfte sie in ihre Pumps, die ihren Rücken eines Tages noch umbringen würden. Sie nicht zu tragen, wenn er nicht im Haus war, war keine Option, denn auch das würde sie vielleicht töten. Denn er liebte Überraschungsbesuche.

Das Baby gab seit Stunden keine Ruhe, weshalb sie sich ihre pochenden Schläfen rieb. Sie hasste es. Dabei wollte sie es doch lieben. Aber es zeigte ihr jeden Tag, wie sehr es sie verachtete. Es liebte sie nicht. Weil sie ein Niemand war. Schlecht. Bedeutungslos.

Zuerst eilte Kira zum Ofen. Den Braten wendete sie hastig. Es roch so gut. Lange hatte sie kein Fleisch mehr gegessen. Sollte sie es wagen? Ein bisschen Machtgefühle schienen von ihrer Session im Bad noch übrig geblieben zu sein. Denn sie tat, was sie sich sonst nicht trauen würde. Sie schnitt ein Stück vom Braten ab, um ihn zu kosten. Er musste schließlich schmecken, sonst würde es Ärger geben.

Kira genoss den Bissen. Gleichzeitig hatte sie Gänsehaut auf ihrem Rücken, den ihr die panische Angst bescherte. Denn sie hörte sein Auto in der Einfahrt. Er war zurück.

Vor Schreck verschluckte sie sich. Hustend rannte sie die Treppe hinauf zum Baby, nahm es auf den Arm und eilte damit ins Badezimmer nebenan, um sich so schnell wie möglich die Zähne zu putzen.

„Liebling. Wo bist duuuu?“, sang er fast schon seine Frage.

„Ich bin sofort bei dir mein Schatz. Ich war nur eben auf der Toilette.“ Sie spülte zum Beweis und wusch sich umständlich die Hände. Das Babygeschrei verstärkte ihre Kopfschmerzen.

Kira zuckte zusammen, als er plötzlich neben ihr stand.

„Hallo Liebling“, begrüßte sie ihn mit dem besten Lächeln, das sie finden konnte.

„Warum schreit sie immer noch?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hast du dich nicht um sie gekümmert?“

„Doch natürlich. Ich hab sie die ganze Zeit bei mir. Vielleicht müssen wir mit ihr zum Arzt.“

Er nahm das Baby auf den Arm, küsste es und scheuerte Kira eine mit der flachen Hand. „Vielleicht musst du bald zum Arzt, wenn du nicht endlich eine gute Mutter wirst.“

Michael brachte das Baby ins Bettchen zurück und schaltete eine Spieluhr an. Dann schloss er die Tür und kam zurück.

„Ich hoffe, du bist wenigstens eine bessere Ehefrau heute. Beug dich über die Wanne.“

Sie gehorchte. Während er seinen Druck an ihr abbaute, erinnerte sie sich an die rote Flusslandschaft, die ihr einen kleinen Funken Glück beschert hatte. Wie einfach doch die kleinen Freuden sind und wie sehr sie diese retteten.

Wie eine Bestie schrie er, als er abspritze. Michael schlug ihr auf den Hintern. „Wenigstens das kannste.“

Wow. Heute war er gut drauf. Er hatte sie gelobt. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Was gibt es zu Essen?“

„Dein Lieblingsgericht. Einen Braten. Ich stell sofort die Kartoffeln an.“

Er nickte und ließ sie in die Küche eilen, während er im Badezimmer verschwand.

 

Kapitel 2 – Wütend

„Sind Sie sicher, dass Sie sich das antun wollen?“

„Verdammte Scheiße, jemand hat mir mein Baby gestohlen. Und ob ich wissen will, wer das war und wie mir das passieren konnte!“ Rebekka ballte ihre Fäuste so hart, dass sich ihre Nägel blutig in ihre Handinnenflächen gruben. Es half ihr, ihre Wut zu kanalisieren.

Er nickte und sie erkannte Verständnis in seinen Augen.

Sie musste es mit eigenen Augen sehen. Wer machte so etwas? Wer klaute kleine niedliche Babys aus einem Kinderwagen? Wer zur Hölle hatte ihr das angetan? Ihr ihre kleine Prinzessin geraubt?

Doch war sie wirklich stark genug, sich das anzutun?

Vielleicht würden die Selbstvorwürfe aufhören, dass ihr das geschehen hatte können. Vielleicht würde sie aber auch einen Perversen sehen, dessen Anblick sie nie mehr vergessen könnte. Die Vorstellung, was mit Sarah passiert sein könnte, würde noch schrecklichere Szenarien annehmen. Konnte sie es wirklich ertragen?

Ja, verdammt. Sie musste. Und sie würde dieses Dreckschwein finden und ihn bluten lassen. So wie jetzt ihre Fäuste.

Der Detektiv, den sie beauftragt hatte, drehte seinen Laptop zu ihr und schaute ihr prüfend in die Augen. „Bereit?“

„Woher haben Sie das Video?“ Verschaffte sie sich gerade Zeit? Wollte sie den schlimmsten Augenblick hinauszögern? Sie suchte zwei Taschentücher aus ihrem Rucksack und nahm sie in ihre Fäuste. Sie wollte ihre Klamotten nicht mit dem Blut vollschmieren, geschweige denn das Büro des Detektivs.

„Es nennt sich C-Bay.“

Verwundert blickte Rebekka zu ihm auf.

„Dort werden Videos von Verbrechen versteigert.“

„Das versteh ich nicht.“

Er kam zu ihr um den Tisch herum und öffnete die Hauptseite. „Hier, schauen Sie. Sie geben dort die Art des Verbrechens ein und dann erscheinen Bilder oder Videos. Der meist Bietendste bekommt es dann.“

„Ist nicht Ihr Ernst?“

„Leider doch. Oder vielleicht auch zum Glück. Denn so haben wir jetzt, was Sie brauchen.“

„Aber wären die Videos bei der Polizei nicht besser aufgehoben?“, fauchte sie ihn an.

„Sicher. Aber Leute, die sowas tun, meiden Polizisten im Allgemeinen. Und sie tun auch selten etwas umsonst.“

Rebekka nickte. „Ich bin bereit.“

Er drückte auf Play und spielte das Video ab. Was sie sah, riss ihr erneut den Boden unter den Füßen weg, genau wie vor fünf Monaten, als ihre Sarah nicht mehr im Kinderwagen lag.

 

Kapitel 3 – Verzweifelt

Kira servierte das dampfende Essen. Den Tisch hatte sie bereits festlich gedeckt. In ihrer Familie hatte es nie Besteck oder richtige Teller gegeben, geschweige denn ein richtiges Gericht.

Michael hatte sie damals gerettet. Die Welt hatte er ihr versprochen und einen Teil davon hatte er eingehalten. Er hatte sie zu sich genommen und vor dem neuen Mann ihrer Mutter bewahrt. Er hatte ihr Dinge geschenkt, die ihr bisher verwehrt gewesen waren. Saubere Bettwäsche, eine Badewanne, eine heiße Dusche, richtiges Essen, wie es Erwachsene zubereiteten. Und sogar neue Hosen.

Das Baby schrie immer noch wie am Spieß, weshalb Kira das Radio ausdrehte. Und dann betrat er schon die Küche. „Ist das Essen endlich fertig? Ich muss gleich wieder los!“

„Ich wollte dich gerade holen kommen, mein Liebling.“ Sie lächelte ihn an und füllte ihm sein Essen auf den Teller, während er sich setzte.

Dann tat sie es ihm nach und schnitt ihren Apfel auf.

„Bist du sicher, dass du einen ganzen Apfel essen solltest? Als ich dich vorhin gefickt hab, haben deine Arschbacken noch mehr gewackelt als sonst. Und deine Beine bekommen immer mehr Zellulite.“

Tränen schossen ihr in die Augen. Er war doch vorhin so gut drauf. Was war passiert? Sie legte einen halben Apfel beiseite. „Du hast recht.“

Er nickte und sie schwiegen. Kaugeräusche, Radiomusik und Babygeschrei begleitete ihre kaum zu ertragende Stille.

„Wenn du dieses scheiß Gör nicht endlich zur Ruhe bringst, werde ich zu meinem Chef gehen und dich verpfeifen.“

Mit großen Augen starrte sie ihn an. „Aber du wolltest doch, dass ich dir das Baby besorge?“

„Ja, aber ich wollte auch, dass du dich darum kümmerst und eine gute Mutter wirst.“ Essen flog bei seinem Geschrei zurück auf seinen Teller. „Und wenn du das nicht hinbekommst, verschwindet ihr eben beide. Es ist nicht so schwer, sich eine neue Familie zu besorgen. Mit dir habe ich nur Ärger. Seit fünf Jahren gebe ich dir immer wieder neue Chancen und dennoch kriegst du es nicht hin, dass dieses scheiß Haus sauber ist und das verfickte Essen schmeckt. Du lässt dich immer mehr gehen. Du kriegst es nicht mal auf die Reihe, schwanger zu werden und jetzt, wo du wenigstens einmal etwas getaugt  hast und das kack Baby besorgt hast, benimmst du dich wie eine Rabenmutter. Was soll der Scheiß? Das macht mir Kopfschmerzen! Also nimm dir dieses beschissene Kind und beruhig es, sonst seid ihr beide weg.“

Kira sprang auf und rannte zum Baby. Tränen liefen über ihre Wangen, die sich nun mit denen des Wonneproppens vermischten. Sie wechselte die Windel und schaukelte es dann auf dem Arm. Doch woher sollte sie wissen, wie man liebevoll war? „Warum hasst du mich so? Ich will dir ja eine gute Mutter sein, aber ich weiß nicht wie.“ Sie schniefte lautstark.

Das Baby brüllte wie Michael.

 

Die Tür knallte und sie atmete auf. Für ein paar Stunden würde sie nun Ruhe haben.

„Erst zwingt er mich, dich einer armen Frau zu klauen, weshalb ich eh schon in der Hölle schmoren werde, und dann will er uns einfach entsorgen. Womit haben wir das verdient?“

 

Kapitel 4 – Entschlossen

„Das … das … ich … also …“

„Ich weiß … Es ist unfassbar.“

Rebekka schluckte hart und kämpfte mit ihren Emotionen. „Das ist ja selbst noch ein Kind. Wieso klaut sie meine Tochter?“ Sie kämpfte mit den Tränen. Doch sie hatte genug geweint, seit ihre kleine Sarah weg war. Sie hatte es satt, traurig zu sein und nichts tun zu können. Sich sagen zu lassen, dass Zeit alle Wunden heilte und die Polizei nichts machen konnte.

„Vielleicht kann sie keine bekommen.“

„Aber dann geht man doch nicht zum nächstbesten Kinderwagen und schnappt sich einfach das Baby, was gerade da ist. Es ist meins. Sarah gehört mir. Sie war neun Monate in meinem Bauch, ist mein Fleisch und Blut. Ich hatte gerade mal drei Monate mit ihr. Und dann nimmt diese Schlampe sie mir einfach weg?“ Ihre Stimme brach. Die Tränen siegten und fielen von ihren Wangen auf den Laptop. „Ich werde meine Sarah finden.“ Ihr Blick veränderte sich. Aus Verzweiflung wurde Entschlossenheit.

„Das müssen Sie gar nicht. Ich habe sie schon gefunden. Der Typ, der das Video aufgenommen hat, hat gegen einen riesen Preis die Adresse verraten.“

Wieder weiteten sich Rebekkas Augen.

„Sie sagten, um jeden Preis, also habe ich bereits gezahlt und Ihren Scheck eingelöst.“

Rebekka nickte.

Er reichte ihr einen Zettel. „Hier ist die Adresse.“

Sie griff danach und sprang auf. Entschlossen, sich ihre Sarah zurückzuholen und dieses Miststück kalt zu machen.

„Eins noch …“

Rebekka drehte sich noch einmal um.

„Seien Sie vorsichtig, wenn Sie zur Polizei gehen. Der Eigentümer des Hauses ist selbst ein Bulle. Michael Faser und seine Frau heißt Kira Faser. Ich schicke Ihnen in diesem Augenblick ein Bild von den beiden, die Adresse und das Video.“

„Keine Sorge, das hatte ich nicht vor.“

 

Kapitel 5 – Verwirrt

Rebekkas Atem wurde knapp. Sie hatte es geschafft, in das Haus einzudringen und war bereit, ihre Tochter zu befreien, doch erst musste der Typ verschwinden. Er hatte ihr schließlich nicht ihre Sarah genommen, sondern dieses kleine dünne Miststück, was wahrscheinlich nicht mal die Kraft hatte, ihre Sarah auf dem Arm zu halten.

Sie wollte Kira gerade angreifen, als der beschissene Bulle nach Hause kam. Mit dem legte sie sich lieber nicht an. Seit dem steckte sie in diesem Schrank und hoffte, bald ihre Tochter trösten zu können. Es zerriss ihr das Herz, dass sie so sehr weinte und sie Sarah nicht beruhigen durfte.

Wie konnten die da unten sitzen und essen und Sarah stundenlang schreien lassen? Erst war dieses beschissenen magersüchtige Gör ewig im Badezimmer, dann fickten sie auch noch und nun gab es erstmal was für den Magen?

Rebekkas Wut kochte unerbittlich und das Messer in ihrer Hand rutschte immer wieder in ihren blutigen Händen. Sie wusste, wie man sich verteidigte. Nach dem sie vergewaltigt wurde, hatte sie jeden Selbstverteidigungskurs belegt, den sie finden konnte. Boxen, KravMaga, Schwertkampf, sie hatte alles mitgenommen, soweit es die Schwangerschaft eben zugelassen hatte. Sie hatte nur deshalb nie einen echten Gegner gehabt, denn wer vermöbelt schon eine Schwangere? Doch in den letzten Monaten, ohne Sarah, konnte sie alles nachholen.

Schritte klapperten auf den Dielen. Dieses dumme Gör rannte doch echt mit Pumps durch ihre eigene Bude. Beim Putzen sogar. Was ist das für eine Frau? Oder eher für ein Mädchen?

Kira schien den Raum betreten und Sarah endlich zu sich genommen zu haben. Rebekka lauschte, wie Kira ihrer Sarah die Windeln wechselte. Sie sollte das tun und nicht so eine Irre.

„Warum hasst du mich so? Ich will dir ja eine gute Mutter sein, aber ich weiß nicht wie.“ Kiras Worte brachten sie um den Verstand. Rebekka konnte es kaum glauben. Die Schlampe fragte sich echt, warum das Baby, das sie geklaut hatte, sie nicht liebte und schrie?

Sie musste sich beruhigen. Sie durfte auf keinen Fall angreifen, solange dieser Mistkerl im Haus war. Dann knallte die Tür. Er war weg. Unentwegt schrie Sarah. Rebekka ertrug den Gedanken nicht mehr, wischte sich die nassen Hände ab und machte sich bereit. Drei … zwei …

„Erst zwingt er mich, dich einer armen Frau zu klauen, weshalb ich eh schon in der Hölle schmoren werde, und dann will er uns einfach entsorgen. Womit haben wir das verdient? Ich würde dich so gern zu ihr zurückbringen, doch er würde uns finden und vernichten.“

Was? Rebekka brauchte ein paar Sekunden, um das Gehörte zu verarbeiten. Kira sang ein Schlaflied und verließ anschließend den Raum. Rebekka sank auf den Boden des Schrankes. Sie hatte nicht hinsehen wollen, doch das Puzzle ergab nun immer mehr Sinn. Das Mädchen war selbst nur ein Opfer.

Rebekka hatte kein Problem damit, sich zu holen, was ihr gehörte und Rache zu üben. Jeder bekam das, was er verdiente. So einfach war das für sie. Schon immer gewesen. Gerechtigkeit siegte und notfalls musste sie eben nachhelfen. Hoffentlich würde sie auch eines Tages ihren Vergewaltiger in die Finger zu bekommen, doch alles zu seiner Zeit.

Aber war es gerecht, jemanden zu töten, der selbst nur ein Opfer war? Vielleicht hätte sie sich eher auf den scheiß Bullen konzentrieren sollen? Statt auf das Mädchen, das nur sich selbst retten wollte. Doch warum ließ sie Sarah stundenlang schreien?

Rebekka hielt es nicht mehr aus. Sie umschloss ihr Messer fest und tat, was sie so lange schon herbeigesehnt hatte. Sie kletterte aus dem Schrank und da lag ihr Schatz. Sie konnte sie endlich wieder angucken. Wie hübsch sie war, trotz der Tränen. Rebekka nahm ihre Tochter in die Arme, die sofort verstummte. Sarah hatte sie erkannt. Als hätte sie all die Zeit nur aus Sehnsucht geweint. Rebekkas Herz blutete. So sehr sie Tränen hasste, sie ließ sie zu. Konnte nicht mehr gegen ankämpfen. Laute Schluchzer entfuhren ihr. Sie konnte ihr Baby endlich wieder anfassen, an ihr schnuppern, sie küssen. Dass Kira sie hören könnte, war ihr inzwischen egal. Sie hatte, was sie wollte.

Mit tränenverschleiertem Blick sah sie auf, als die Tür aufging und Kira vor ihr stand. Kein Wort sagten sie. Kira schaute auf das Messer, das Rebekka immer noch in der Hand hielt und nickte. Als wollte sie sagen, dass sie bereit war, für alles, was sie verdient hatte.

Was sollte Rebekka jetzt tun? War dieses Mädchen unschuldig? Sicher nicht. Man hat immer eine Wahl. Doch vielleicht wurde dieses Mädchen genug gestraft mit diesem Mann? Eine gebrochene Seele, die zum Sterben bereit war. Was hatte er aus ihr gemacht?

Ihren Hass müsste sie eigentlich an ihm anderen ausleben. Doch es fühlte sich so gut an, ihre Sarah wieder im Arm zu halten. Dabei Wut zu empfinden, die Wut, die sie monatelang angetrieben hatte, war schlicht weg unmöglich.

„Ich tu dir nichts.“

Kiras Blick wurde noch trauriger.

„Wie alt bist du?“

„19.“ Kira fummelte an ihren dünnen Haaren.

„Du musst dir das hier nicht gefallen lassen.“

Rebekka überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun sollte. Dann war eine Entscheidung getroffen. Sie zog ihrer Sarah etwas über, schnappte sich eine Wickeltasche und verließ das Zimmer. Sie war hier fertig. Das Mädchen wurde bereits bestraft und sie riskierte wenigstens keine Gerichtsverhandlung wegen Mord, wenn sie einfach nur nach Hause gehen würde. Nichts anderes wollte sie seit Monaten. Einfach nach Hause gehen mit ihrem geliebten Schatz. Und eines Tages würde sie zurückkommen und zur Rechenschaft ziehen, der es verdient hatte.

„Nicht so schnell!“ Eine raue Stimme verschaffte ihr eine Gänsehaut. Ein Schmerz wallte tief in ihren Eingeweiden auf. Rebekka erkannte die Stimme. Sie wusste sofort, wer gerade zur Tür hereingekommen war. Vorhin hatte sie seine Wortfetzen nicht verstehen können, weil Sarah zu laut war, doch jetzt gab es keinen Zweifel. Das war der Mann, der ihr Leben verändert hatte. Der sie zu einer wütenden Frau mit Tochter hatte werden lassen. Sie hatte ihn nie gesehen, aber seine Stimme hatte sich in ihr eingebrannt.

All die Wut, die sie monatelang mit sich getragen hatte, wich der Angst. Sie musste aufpassen, Sarah nicht vor Schreck fallen zu lassen. Zum Glück hatte sie immer noch ihr Messer, das ihr Halt gab. Doch die vielen Trainingsstunden schienen umsonst gewesen zu sein. Sie erinnerte sich an nichts, spürte nur die Panik von damals ihren Körper durchfluten.

„Das ist mein Baby.“ Rebekka hielt Sarah noch fester im Arm, sie würde sie nie wieder her geben.

„Du weißt, wer ich bin, oder?“

Rebekka schaute ihn mit großen Augen an.

„Ihr kennt euch?“, fragte Kira mit zittriger Stimme.

„Er hat mich vergewaltigt.“ Rebekka spuckte die Worte fast aus und in dem sie es einmal laut ausgesprochen hatte, kam die Erinnerung, kam die Wut. Jedoch war es keine, die sie antrieb, wie die letzte Zeit, sondern eine, die sie lähmte. Sie konnte nicht vor, an ihm vorbei, geschweige denn zurück in Sarahs Zimmer. Sie war gefangen.

Michael ging einen Schritt auf Kira zu. „Ich habe mir genommen, was ich brauchte. Du, mein Schatz, bist ja nicht fähig dazu. Sie hingegen ist gleich beim ersten Mal schwanger geworden. Vielleicht hätte ich mir sie damals schon mit nach Hause nehmen sollen.“

Kiras Gesicht von Tränen bedeckt. „Also hatte es einen Grund, dass ich ausgerechnet dieses Baby klauen sollte“, stellte sie fest.

„Seit wann so klug, mein Schatz?“ Er lachte verächtlich.

Und dann schien Kira ihre ganze Wut zusammenzunehmen. Rebekka sah sie aus dem Augenwinkel, hatte hauptsächlich ihn im Blick. Es war unverkennbar, dass Kiras Gesicht immer roter wurde. Und dann nahm sie wohl all ihre Kraft beisammen und rannte auf ihn zu, versuchte, ihn die Treppe hinunterzustoßen.

Da sie jedoch nur aus Haut und Knochen bestand, kam er lediglich ins Wanken. Stattdessen nahm er sie in den Schwitzkasten, um sie danach von der Treppe zu stoßen. Ein Schrei, poltern, Stille. Rebekka starrte auf die bewegungslose Kira. Er hatte gerade seine eigene Frau umgebracht.

„So mein Fräulein. Ich bin wieder solo.“ Er lächelte sie an. „Du scheinst besser für das Baby zu sein. Sie war noch nie so lange ruhig, und das trotz des Chaos hier. Du kannst bleiben.“

„Wer sagt, dass ich das will?“ Ihre Stimme klang so brüchig wie schmelzendes Eis.

„Du hast die Wahl. Entweder ich gehe zur Polizei, weil du meiner Frau unser Baby klauen wolltest und sie dabei getötet hast, oder du bleibst bei mir.“ Drohend hob er seine Pistole.

„Ich habe ein Beweisvideo. Dir wird keiner glauben.“ Sie wollte gern sicherer klingen.

„Das hier?“ Er griff in seine Tasche und hielt ihr Handy in der Hand.

Rebekka starrte ihn an. Ihr Herz raste wie verrückt. „Wo hast du das her?“

„Tja meine Liebe. Ich habe gerade unsere werte Nachbarin vor der Tür getroffen. Ihr Hund hat es wohl bei uns auf dem Grundstück gefunden. Sie hat es mir gebracht, weil dort ein Foto von mir und Kira aufleuchtete.“

„Ich geh zur Polizei. Das Video ist nicht weg, nur weil du mein Handy hast.“ Sie wollte, dass ihre Stimme fest klang, doch das Zittern war unüberhörbar.

„Schätzchen. Wenn du so dumm bist, dass du dein Handy nicht mal mit einem Pin versiehst und du es dann auch noch verlierst … Pah … Wundert mich eigentlich nicht, wer sogar sein Baby verliert und sich nachts schwängern lässt …“ Er beendete den Satz mit einem Lachen, dass ihr durch Mark und Bein ging. Rebekka begann zu schluchzen und sank auf die Knie, Sarah und das Messer dabei stets im Arm. Hatte er recht?

Sarah begann zu weinen und weckte ihren Beschützerinstinkt. Nein. Entschied sie und schaute ihn verabscheuend an, als ihre Wut wieder aufflammte.

„Sobald du auch nur auf die Idee kommst, dich bei meinen Kollegen zu melden, erfahre ich das und dann werde ich dein verficktes Baby in den Müllschlucker werfen.“

Rebekka wusste nicht, wie es weitergehen würde. Doch eines war klar. Sie würde ihn töten.

16 thoughts on “Warum hasst du mich?

  1. Liebe Sandy,
    „Du weißt, wer ich bin, oder?“
    Rebekka schaute ihn mit großen Augen an.
    „Ihr kennt euch?“, fragte Kira mit zittriger Stimme.
    „Er hat mich vergewaltigt.“

    „Ich habe mir genommen, was ich brauchte…“

    Ahhhh, diesem Michael, der für alle Perverslinge auf dieser Welt steht, möchte ich gerne was abschneiden✂!!! Und ich wäre wahrscheinlich nicht so ruhig wie Rebekka geblieben, aber gut in dieser Sch…. Situation.

    Bei diesem Thema werde ich immer so wütend, wütend, wütend … !!! Ich muss an dieser Stelle leider Werbung für meine Geschichte machen, da es um die FOLGEN von Kindesmissbrauch geht. Ich weiß du hast nicht so viel Zeit, aber du kannst sie dir auch anhören. Link steht in meinem Profil oder hier unten. Ich wollte bei diesem Projekt nicht einfach irgendetwas schreiben, sondern einen Text mit Botschaft! Immer wieder stelle ich mir die Frage: Warum schaut die Gesellschaft weg, warum muss man ewig auf einen Therapieplatz warten, warum fallen die Strafen so gering aus? Etc.
    Liebe Sandy, dass du schreiben kannst, weißt du ja und du bist ein großes Vorbild für mich, auch wenn ich schon älter bin 😊.

    Könnte ich hier 10 Mal klicken, ich täte es glatt. Mein Like 👍 hast du. Und was würde ich grinsen, einen Kommentar von dir unter meiner Geschichte zu lesen.
    Liebste Grüße,
    Martina 😉
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/happy-birthday

    https://youtu.be/yfWHIxUQ8XA

  2. Hallo liebe Sandy!
    Eine klasse gut durchdachte Kurzgeschichte. Ich wurde mehrmals hinters Licht geführt, ich dachte, dass Kira sich befreien würde – und dann das mit Rebekka – diesem Michael hätte ich auch einiges abschneiden können. Was für ein Typ!
    Spannend von der ersten Minute an, Hut ab! Die bildhafte Sprache erzeugte gleich Bilder im Kopf und auch die Figuren waren gut ausgearbeitet. Das ist bei eine Kurzgeschichte gar nicht so einfach.
    Wenn du Zeit und Lust hast, meine Geschichte zu lesen (Der alte Mann und die Pflegerin) und mir ein kurzes Feedback gibst, das würde mich riesig freuen.
    Liebe Grüße
    Lotte

  3. Hey Sandy,

    das ist wirklich eine super spannende Geschichte die du da geschrieben hast!
    Das du sie in verschiedene Kapitel eingeteilt hast und jedes Kapitel auch noch einen eigen Titel hat, finde ich gut und auch sehr passend ausgewählt. Somit gibt’s auch keine Verwirrung wenn du zwischen Rebekka und Kira hin und her springst 👍
    Tatsächlich fande ich Kira von Beginn an auch eher nicht so sympathisch, was sich aber mit dem lesen gelegt hat. Ein umso größerer Fan bin ich von Rebekka geworden 😉
    Den Teil indem Rebekka herausfindet, dass Kira eigentlich gar nicht wirklich die “Täterin” ist, habe ich als ein bisschen kurz gehalten empfunden. Vielleicht wären da ein paar Zeilen mehr noch etwas besser zu lesen gewesen 🤔

    Die Idee mit cBay und dem Kaufen von Videos von Verbrechen finde ich mega. Das Ende gefällt mir generell sehr! Dadurch das du es ziehmlich offen hältst, lässt es viel Interpretationsspielraum.

    Ich habe deine Kurzgeschichte mit viel Spannung und Freude gelesen 😀

    Liebe Grüße
    Sarah

    Falls du Lust hast bei mir vorbeizuschauen würde ich mich sehr freuen 😀
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/unschuldskind

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