AnjaDas gestohlene Ich

Heute

New Somerset Hospital, Kapstadt, Südafrika

Ich öffne langsam die Augen und nehme die verschwommene mir unbekannte Umgebung wahr. Ein Gefühl von Angst überkommt mich. Mein Herz fängt an zu rasen, beschleunigt und pocht wie wild. Der Atem wird immer flacher und plötzlich umgibt mich erneut die Dunkelheit, die mich schon so lange in meinem Ich gefangen hielt. Ich nehme eine sanfte Berührung auf meiner Hand wahr und höre eine weibliche Stimme, die laut einen Namen ruft,  welchen ich noch niemals gehört habe. Der leichte Parfümduft nach Jasmin und Rose lässt einen Erinnerungsblitz zu. Ich sehe eine blonde zierliche Frau vor meinem geistigen Auge, welche sich vor einem großen Spiegel aus Barock-Zeiten schminkt und sich mit dem mir doch so fremden, aber auch bekannten Duft einsprüht.  Ein Lichtstrahl durchdringt meine Augenlider und ich öffne erneut die Augen. Hektisches Stimmengewirr und der sanfte Druck lassen mich endgültig in das Leben zurückkehren. Nur welches Leben, wer bin ich? Tränen steigen mir in die Augen, ein  Arzt und eine Krankenschwester schauen mich lächelnd an. „Willkommen im Leben. Sie befinden sich in einem städtischen Krankenhaus. Aufgrund eines Autounfalls lagen Sie im künstlichen Koma. Können Sie sich an irgendwas erinnern?“ Mir fällt das Reden und Denken schwer. Leicht stotternd sage ich zu der dunkelhäutigen Schwester mit dem liebevollen Blick: „Ich nehme auch das Dolce Peony Eau de Parfum.“

Ein Jahr zuvor in Berlin

Julia

Die ganze Welt, einschließlich Deutschland, ist in einem Ausnahmezustand. Seit drei Wochen herrscht Chaos, aufgrund einer Virus-Pandemie, in den Krankenhäusern. Erschöpfte Ärzte, verzweifelte Krankenschwestern, viele Infizierte und der Kampf gegen einen Virus. Die Identitäten der Patienten und Opfer sind ungeklärt, genauso wie die Umstände, welche zur Aufnahme in der Klinik führen.

 

Sie schaltet wütend ihren Radiowecker aus. Erneut wird sie mit den Neuigkeiten der Pandemie und deren Auswirkungen geweckt. Der Gedanke an den heutigen Arbeitstag in der Charité Berlin lässt sie erneut in das Kissen sinken und die junge unscheinbare Frau fällt in einen unruhigen Kurzschlaf, bis sie erneut von ihrem Radiowecker mit „Oh happy day“ aus dem Schlaf gerissen wird.

„Schwester Julia bitte kommen Sie mit in die Notaufnahme“ ruft der Stationsarzt der Intensivstation in einem energischen Ton.  

Sie schaut die hübsche blonde Frau an, welche nun auf einem frisch bezogenen Bett an vielen Schläuchen und medizinischen Apparaten liegt. Die Frau wurde im Stadtpark Steglitz ohne Bewusstsein aufgefunden. Die persönlichen Sachen wurden achtlos in eine Tüte geworfen und von niemandem überprüft.

Überall ein durcheinander, das ganze Gesundheitssystem steht kurz vor dem Zusammenbruch, aber die Ärzte und Krankenschwestern leisten tolle Arbeit.

 

Aufgrund der Überforderung des gesamten Krankenhauspersonals wurde kurzfristig entschieden, dass die unbekannte Patientin, welche nach der Behandlung auf der Intensivstation ins Koma gefallen ist, mit medizinischen Maßnahmen am Leben erhalten wird. „Ach du hübsche Frau, hier kümmert sich keiner um Dich, ich werde dies aber tun“ sagt sie zu sich selbst und nimmt die kalte zarte Hand dieser Frau. Es ist ihr entfallen, was der Stationsarzt in seiner Eile über die Patientin gesagt hat und welche medizinischen Maßnahmen bereits getroffen wurden.  „Bleiben Sie einfach bei ihr, denn Sie sind momentan zu nichts anderes zu gebrauchen. Irgendwann wird die Patientin vielleicht wieder wach.“ ruft er ihr nur noch in einem arroganten Tonfall zu.

Julia durchsucht die persönlichen Sachen der Patientin. Strukturiert und ordentlich legt sie einen abgelaufenen Ausweis, zwei durchnässte und vergilbte Fotos, ein kleinen Parfüm-Flakon, Kontoauszüge sowie einen dicken Briefumschlag vor sich auf den Tisch in dem kahlen Krankenhauszimmer. Sie behandelt diese Sachen wie Trophäen und zeichnet zärtlich die Konturen der jungen Patienten auf dem Foto nach.  Es handelt sich dabei um die hübsche blonde Frau mit dem zarten Hautkonturen, der Stupsnase und diesen blauen Augen. Obwohl die Krankenschwester gegen die Leitlinien verstößt, hat sie die Augen der Patientin geöffnet und so die blauen leuchtenden Augen gesehen, in denen kein Leben mehr ist. Sie kann kaum den Blick von der jungen Frau wenden und gerät in einem Strudel aus Tagträumen, welchen Julia sich nun völlig hingibt.  Lediglich die Geräusche der lebenserhaltenen Maschinen und ihr eigener Atemzug sind zu hören. Es ist so, als ob sie in einer anderen Welt ist, als sie sich später die beiden Fotos näher anschaut. Ein großer dunkelhaariger Mann hält die junge gut gekleidete Patientin von hinten in den gebräunten starken Armen. Die blonde Frau trägt eine teure Kette und schaut glücklich zu dem etwas älter wirkenden Mann hinauf. Das andere Foto zeigt die Patientin mit Geschäftsmännern, welche sie regelrecht anhimmeln. In der Hand hält sie einen großen Spendenscheck für die Depressionshilfe. Wow, reich bist du auch noch.

Voller Neid, welcher sich in ihr Herz festsetzt, verlässt die Krankenschwester das Einzelzimmer und geht zu der so verhassten Pflegedienstleitung. Julia erklärt sich dort bereit, die gesamte Zeit bei der Patientin zu bleiben und diese zu versorgen. Die Nächte verbringt die Krankenschwester in den extra eingerichteten Schlafsälen während der chaotischen Pandemie-Zeit.

Den abwertenden Blick der Pflegedienstleitung hat Julia durchaus wahr genommen, auch die Worte über ihre wenigen Fähigkeiten einer „richtigen Krankenschwester“ gehen ihr schnell wieder aus dem Sinn, weil sie nun weiß, dass diese Patientin für immer ihre sein wird. „Hübsche, ich kümmere mich um dich, wir werden dann die besten Freunde  und ich komme in deine Welt, das verspreche ich Dir“ flüstert Julia nun in einem schon fast zärtlichen fanatischen Ton in das Ohr der komatösen Patientin.

 

Erschöpft schaut Julia in den Spiegel des kleinen Gemeinschaftsbades. Ihre braunen Haare hängen fad herunter, der Pony ist ungleichmäßig geschnitten. Mit voller Wucht haut sie gegen ihr Spiegelbild, so dass der lose Spiegel  herunter zu fallen droht.

Nun geht Julia in den Schlafsaal. Das Foto der komatösen Patientin mit dem hübschen Mann, hat sie auf den kleinen Nachtschrank gestellt.  Die letzte Nacht war schlaflos und unruhig. Seit Monaten hat sie mit innerer Leere, tiefer Traurigkeit und fehlendem Elan zu kämpfen. Dennoch hat Julia es immer wieder geschafft, sich zur Arbeit zu schleppen, damit sie wenigstens diesen armseligen Lohn, welche Pflegekräfte in Deutschland erhalten, bekommen kann. Die Einsamkeit in ihren vier Wänden macht sie innerlich kaputt. Immer wieder verrennt sie sich in schönen Träumen, kann dabei nicht die Realität oder Fiktion unterscheiden. Im Krankenhaus wird sie von ihren Kolleginnen schikaniert, aber die verschüchterte Krankenschwester ist momentan so froh, dass diese Pandemie ausgebrochen ist und die Kolleginnen von ihr ablassen. Es ist ein berauschendes Gefühl, dass sie nun „ihre eigene Patientin“ hat und lässt Julia die ganzen Menschen, welche wegen der Pandemie im Krankenhaus sind, vergessen. „Um mich würde sich auch keiner kümmern“, denkt sie boshaft und geht in ein anderes Mehrbettzimmer, in dem Menschen liegen, die aufgrund der seltenen Form eines Magen-Darm-Virus intravenöse Medikamente bekommen müssen. An dem Bett eines älteren Patienten, der vor ein paar Tagen unfreundlich war, gibt sie eine Überdosis von Succinylcholin  in den Tropf und geht fröhlich pfeifend aus dem Zimmer. Das bösartige Blitzen in ihren Augen bleibt unbemerkt.

 

Auf dem Flur herrscht Chaos und keiner wird Notiz von dem langsamen Sterben des Patienten nehmen, da ist sich Julia sehr sicher. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie geht langsam in ihr Reich, in das Einzelzimmer des „hübschen Engels“, zurück.

 

Voller Ehrfurcht nimmt sie den alten Personalausweis, welcher ohne Fingerabdruck ist, in die Hand. Das Geburtsdatum lässt ihr ein Schauern über die Haut fahren und erneute Glücksgefühl nimmt ihren Körper und ihre Gedanken in Beschlag. „Sie hat am selben Tag wie ich Geburtstag. Wir sind uns so ähnlich. Celina, wir sind auf ewig zusammen.“ flüstert sie zu sich selbst, als sie sogleich den Personalausweis nimmt und in eine kleine rosafarbene, mit einem Herz verzierte Schachtel, legt. Diese steckt sie wie ein Heiligtum in ihre Handtasche. Nun nimmt sie ihr Smartphone aus der Tasche, hockt sich zu der komatösen Patientin herunter und gibt ihr einen Kuss. Zeitgleich nutzt sie die Selfie-Funktion ihres Handys, immer wieder und wieder.  Die Kameratöne sind im Einklang mit den Geräuschen der lebenserhaltenden Maschinen. Klack, Klack, Klack.

Plötzlich öffnet sich die Tür zu dem Patientenzimmer, welche Julia in ihrem Anfall von Glücksgefühl versehentlich nicht richtig geschlossen hat. Die Krankenschwester springt schnell auf und lässt das Handy in die Tasche ihres Schwesternkittels verschwinden. Julia sieht in das verzerrte Gesicht des Patienten, um welchen sie sich vor ein paar Stunden „gekümmert“ hat. Dieser steht wankend vor ihr, seine Augen sind weit aufgerissen und sein Mund bringt flehend die Worte „Bitte helfen Sie mir“ über die Lippen.  Die Krankenschwester lächelt ihn voller Hass an und überlegt gerade noch, wie er es geschafft hat, trotz des Muskelrelaxants sein Bett zu verlassen, als der Mann tot zusammen bricht. Sie steigt über den leblosen Mann und geht zu ihrer Kollegin, die für das Mehrbettzimmer zuständig ist. „Hey Claudia, da hast du schlechte Arbeit geleistet. Bring ihn aus dem Zimmer meiner Patientin.“ sagt sie fröhlich zu der verdutzten Schwester. Die Kollegin rennt augenblicklich zu dem Nebenzimmer und kniet sich vor dem älteren Mann. Weinend bricht sie zusammen. 

Julia liegt im Bett des Schlafsaals für die Krankenschwestern, welche in 24-h-Rufbereitschaft sind. Sie hat die Sichtschutze selbstverständlich so hingestellt, dass niemand sie sehen kann. Sie fühlt sich wohl in ihrer klinikinternen Bleibe. Ich werde gebraucht und bin wertvoll.  Der Gedanke, dass die komatöse Patientin ohne sie nicht mehr am Leben wäre, lässt sie voller Stolz zur Ruhe kommen. Das langersehnte Gefühl einfach in Ruhe einschlafen zu können, breitet sich aus. Dieses Wohlgefühl, welches sie seit Jahren nicht mehr kannte, durchfährt ihren ausgemergelten Körper. Kurze Erinnerungsblitze an eine schöne Zeit mit ihrem Ex-Freund tauchen auf, welche schnell durch positive Gedanken an die hübsche Patientin und deren Leben ersetzt werden. Trotz des aufkommenden Neides wünscht sie sich so sehr, dass die komatöse Frau in unbestimmter Zeit ihre Freundin wird und sie ein tolles Leben führen kann. Sie als hübsche Blondine und die Patientin als ihre beste Freundin. Ich wünsche mir so sehr, dass ich Du wäre.  Mit diesen wirren Gedanken schläft sie glücklich ein. Neben den Fotos liegen geöffnete Schachteln mit der Beschriftung „Antipsychotika“ und „Benzodiazepin“, zwei Haarfärbemittel, eine Schere und das Dolce Peony Eau de Parfum von Celina.  

 

Der bereits aufgerissene dicke Umschlag mit der Aufschrift „Spende“ liegt unter den Medikamentenschachteln. Durch das helle Krankenhauslicht, welches aufgrund der Vorschriften immer an sein muss, sieht man viele Geldscheine durch den Umschlag durchschimmern. Nun hört man nur noch das gleichmäßige Atmen der erschöpften Krankenschwestern im Schlafsaal.

 

Julia fährt sich durch die blonden Haare und kämmt sanft Strähne für Strähn und betrachtet sich im kleinen Spiegel des Gemeinschaftsbades in der Klinik. Und noch ein Spritzer des Dolce Peony Eau de Parfum.  Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie zieht sich ihren Schwesternkittel an, grüßt beschwingt eine fettleibige gestresste Kollegin, welche ihre neue Haarfarbe lobt. Die Tatsache, dass dieses Lob nicht ernst gemeint ist, hat keine Bedeutung mehr.

Ich werde bald mit meiner neuen Freundin den Flur dieses Krankenhauses entlang gehen und die Kündigung der arroganten Pflegedienstleitung vorlegen, denkt sie paranoid.

Nach einigen Minuten betritt sie das Zimmer von Celina. Zärtlich streichelt Julia das Gesicht der jungen Patientin und tätschelt den Kopf der Frau, nimmt den grobzinkigen Kamm aus ihrer Tasche und kämmt das kurze schwarze Haar der Patientin.

“Ich habe es geschafft, niemand hat bemerkt, was ich mit Dir gemacht habe” sagt sie zu sich selbst in einem psychotischen Flüsterton.

 

 

 

 

Einige Zeit später in Berlin

Celina

Die Vitalfunktionen der Patientin auf der Station 3, Zimmer 23, des Charité Berlins sind stabil. Seit Wochen testen die Ärzte auf Reflexe, Berührungen und Geräusche.

Die Identität ist ungeklärt, obwohl Vermisstenanzeigen abgeglichen werden, aber niemand vermisst diese junge Frau mit dunklen kurzen Haaren. Ein Fingerabdruck bringt kein Ergebnis. Das Schicksal der Patientin ist nicht mehr nachvollziehbar, da vor einem Jahr aufgrund eines damals unbekannten Magen-Darm-Virus die Krankenhäuser überfüllt sind und das chaotische Gesundheitssystem jede Identitätsklärung zum damaligen Zeitpunkt unmöglich gemacht hat. Das Klinikpersonal fluktuiert oder kündigt aufgrund der unmenschlichen Strapazen, Patientenakten werden nur oberflächlich oder gar nicht geführt.

Es wird eine minimale Bewegung der Hand durch die pflegende Krankenschwester wahrgenommen. Die Töne der Beatmungsmaschine übertönen das Stimmenwirrwar der anwesenden Ärzte. Plötzlich beginnt die rechte Hand sich auf und ab zu bewegen. Die Lider der dunkelhaarigen Patientin fangen an zu zucken. Der Brustkorb fängt an zu beben und im nächsten Moment öffnet sie die Augen. Ein Lächeln huscht fast unmerklich über ihr Gesicht. Die Ärzte führen die notwendigen Tests über die Hirnsonde und Elektroden durch. Der Hirndruck und die Hirnströme werden gemessen. Die Patientin ist zwar desorientiert, aber stabil. Die Atmung erfolgt selbstständig. Die Maschinen werden langsam ausgestellt und Schläuche werden sorgfältig und vorsichtig entfernt. Ein erleichtertes Aufatmen des Krankenhauspersonals durchfährt den kleinen Raum. Der grauhaarige symphatische Oberarzt erfasst die verstümmelte linke Hand der Patientin und sagt aufgeregt. „Es ist das Jahr 2019, Sie befinden sich in der Charité in Berlin. Sie lagen fast ein Jahr im Koma. Endlich sind Sie wieder wach. Es ist wie ein Wunder. Sie sind eine Kämpferin. Können Sie sich an irgendwas erinnern?“

 

„Bitte geben Sie mir einen Spiegel“ fleht die junge Patientin in einem aufgeregten Flüsterton. Die Patientin ist nun seit 7 Tagen aus dem Koma erwacht und das sprechen fällt ihr noch deutlich schwer. Die Ärzte sprechen in dem Fall von einem kleinen Wunder, da sie keine funktionalen und kognitiven Einschränkungen hat. Das Erinnerungsvermögen ist noch nicht eindeutig geklärt.

Der emphatischen Krankenschwester bricht es das Herz, aber der behandelnde Psychologe hat von einer Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild zum jetzigen Zeitpunkt abgeraten. Die Krankenschwester hat die junge Frau schließlich einige Zeit lang gepflegt, nachdem die vorhergehende Pflegekraft, mit der sie sich gut verstanden hat, nach der Pandemie plötzlich gekündigt hatte.  

Die Krankenschwester legt ihr Handy auf den kleinen Nachttisch der Patientin. Leise sagt sie zu der Patientin: „Bitte nehmen Sie mein Handy und machen ein Selfie von sich. Dann können sie sich sehen, aber bitte verraten sie mich nicht“. Die junge Frau nimmt zitternd das Handy, nachdem die Krankenschwester das Zimmer verlassen hat. Vor Aufregung und gleichzeitiger Freude wäre das Handy fast zu Boden gefallen.

Auf der Suche nach der Kamerafunktion gelangt sie in die Fotogalerie und scrollt wegen den zitternden Händen unbeabsichtigt die Fotos automatisch nach unten. Erschrocken tippt sie wie wild auf das Handy, da es sich anfühlt, als ob sie etwas Verbotenes tut. Ich wollte mich doch nur selbst sehen, denkt sie unter aufsteigenden Tränen. Plötzlich öffnet sich ein Foto groß auf dem Display. Sie sieht sich selbst und die nette unbekannte Schwester von eben in einer innigen Umarmung, wie beste Freunde. Erinnerungen steigen auf. Viele Bilder erscheinen vor ihrem geistigen Auge. Der schlagende Vater. Die Umrisse eines großen Mannes, der sie würgt. Ein Brief mit ihrer Handschrift. Erinnerungen an die Freiheitsstatur in New York bei Sonnenschein und blauen Himmel, einen Scheck den sie mit „Celina Herrmann“ unterschreibt. Ihr großes Haus und ihr Garten den sie so sehr pflegte sowie ihr kleiner Hund Sam dessen Fell sie nun förmlich unter ihren Fingern spürt. Ihr treten Tränen in die Augen, weil sie sich plötzlich an ihre Mutter erinnert und sich selbst als kleines Kind sieht. „Celina ich liebe dich“ flüstert ihr ihre Mama zärtlich zu. Ihr Kopf scheint aufgrund der weiteren Erinnerungsblitze zu explodieren. Nur diese Krankenschwester hat sie noch nie gesehen. Ihre Hände zittern immer mehr und ihr Atem beschleunigt sich. In einem Reflex öffnet sie die Kamera des Handys und aktiviert die Selfiefunktion. Was sie sieht, lässt sie erschaudern. Eine unbändige innere Kälte lässt sie atemlos werden. Eine ihr unbekannte Frau mit schwarzen kurzen Haaren, blasser Haut und schmal rasierten Augenbrauen blickt ihr entgegen. Sie steckt die Zunge raus und sieht, dass sich das Foto in der Kamera genauso verändert. „Was ist hier los, das bin nicht ich!?“ schreit sie, bevor sie erschrocken das Handy fallen lässt.

 

 

Ein paar Wochen zuvor, Charité Berlin

Julia 

Der Duft von Nagellack liegt in der Luft des kleinen Krankenhauszimmers. Schon seit Wochen nimmt niemand Notiz von der ehemals blonden Patientin. Das Chaos der Magen-Darm-Pandemie hält weiter an. Die lebenserhaltenen Maschinen laufen weiter.

 

Gewissenhaft pflegt die blondhaarige, gut geschminkte und hübsche Krankenschwester, die junge Patientin.

 

Vor ein paar Tagen schaute der arrogante Stationsarzt vorbei. Ein kurzer Blick auf die Patientin und ein flüchtiges „Ach, sie ist immer noch nicht wach“ waren seine einzigen Worte. Er lächelte die Krankenschwester mit einem verruchten Blick an und dachte im selben Moment, wann diese sexy Krankenschwester den Dienst in der Charité begonnen hat. In ihrer Phantasie nahm Julia gerade ein langes Messer und rammte es diesen dicken kleinen Mann in den Rücken, bis er blutig zusammenbricht.

 

In der Realität schneidet Julia den zierlichen Daumen der Koma-Patientin ab. Die Trophäe wird in die kleine rosafarbene Schachtel gepackt, welche nun blutdurchdrängt in der Handtasche liegt.

 

„Celina, warum bist du immer noch nicht wach, ich will doch deine Freundin sein. Oder ich nehme dein Leben, denn ich weiß nun alles über Dich meine Hübsche.“ flüstert sie in einem geradezu aggressiven Ton laut in das Ohr von Celina und schüttelt hart den Körper der jungen Frau. Ein Piepen der Maschinen hält sie davon ab, weiter gewaltvollen Druck auf den bebenden Brustkorb auszuüben. Augenblicklich hockt sie sich neben das Bett, tätschelt und küsst die verbundene Hand der jungen Patientin. Tränen laufen ihr die Wangen herunter und sie küsst die Hand immer mehr und intensiver. Das Piepen hört auf und der Atem ist wieder gleichmäßig. Nun schaut sie stolz auf die neun schwarz lackierten Nägel von Celina und nimmt, wie jede Woche, den Augenbrauenrasierer, zur Hand. “Nun bist du gleich wieder schön, zwar nicht so schön wie ich, aber du bist du und ich bin ich. Oder bin ich Du. Müllers Esel, das bist Du.“ singt sie leise vor sich hin und beginnt akribisch mit der kosmetischen Arbeit. Ein paar Stunden später steht sie, während ihrer Pause vor einer Arztpraxis, nimmt den Umschlag ihrer komatösen Patientin und wirft den darin befindlichen handschriftlichen Zettel mit der Notiz „Barspende von Celina Herrmann für den Verein Netz und Boden – Initiative für Kinder psychisch kranker Eltern“ achtlos in einen kleinen Mülleimer an einer Bushaltestelle. Ein paar Meter weiter nimmt sie hektisch vor Aufregung vier 1.000 Euro Scheine aus dem Umschlag und stopft diese in die Tasche ihrer Kaschmir-Jacke von Prada. Die Jacke hat sie in einer Tüte von KiK in ihrem Spind versteckt und erst später angezogen. Nun wirft die Blondine einen letzten Blick in die verspiegelte Eingangstür und öffnet diese zur „Privatpraxis für plastische und ästhetische Schönheitschirurgie“ in Berlin-Spandau.

Ich bin Celina Herrmann. Schwester Julia existiert nicht mehr.

 

Frühling, 2020, nahe Berlin

Celina

Nach schlimmen Wochen mit seelischen und körperlichen Strapazen sowie die Verarbeitung der traumatisierenden Geschehnisse und immer wieder aufblitzenden Erinnerungen sieht Celina endlich wieder positiver in die Zukunft. Sie fährt sich durch das kurze stylische rotgetönte Haar und schaut gedankenvoll aus dem geöffneten Fenster. Eine Wiese die langsam anfängt zu blühen und dahinter ein dicht bewaldeter Wald lassen ein Wohlbehagen zu. Ein warmer frühlingshafter Sonnenstrahl trifft auf ihr Gesicht und sie schließt nun ihre Augen, um die Wärme zu genießen.

 

„Ich danke dir, dass ich hier sein kann und Du für mich die ganzen Wochen da bist. Danke, dass Du mir meine Identität zurückgeholt hast“ flüstert sie in blau-graue sympathische Augen schauend.

 

Nach einer schwierigen Kindheit gelingt Celina durch viel Ehrgeiz und Arbeit der Einstieg in das Berufsleben als Unternehmerin. Sie baut sich ein kleines Imperium auf und ist bei ihren Kunden und Mitarbeitern beliebt. Sie lebt ein Leben, so wie sie es sich immer gewünscht hat. Das verdiente Geld spendet sie oft für gemeinnützige Vereine und lernt ihren Mann bei einer Veranstaltung zum Thema „Depression von emotional und körperlich missbrauchten Menschen“ in Bonn kennen. Aufgrund einer hohen Spende wird ihr im Rahmen dieser Veranstaltung gedankt. Ein hübscher dunkelhaariger charmanter Mann, der bei dem Referat neben ihr sitzt und sie nach der Veranstaltung zu einem Kaffee in einer niedlichen kleinen Brasserie eingeladen hat. Ihr Leben ist perfekt mit dem Kauf eines schönen Hauses am Bodensee, ihrem gemeinsamen Hund, vielen Reisen durch die Welt, gemeinsamen Interessen und gesichertem Einkommen. Ein gemeinsames Kind soll das Glück perfekt machen.

 

Celina denkt an ihren Mann zurück, welcher nicht auffindbar ist. Sie ist verwundert, dass sie sich nur an die vergangenen Jahre, aber nicht an die Zeit vor dem Koma mit ihm erinnern kann. Seit ein paar Nächten wird sie von Albträumen verfolgt. In ihren Träumen flüchtet sie aus ihrem Haus und rennt und rennt und rennt.  

 

Die Erfahrungen in der Klinik kommen ihr in den Sinn und lassen die Gedanken an ihren Mann verebben. Tief einatmend denkt sie ein paar Wochen zurück.

 

 

Im Krankenhaus glaubt ihr niemand, dass sie „Celina Herrmann“ ist. Unter Tränen erzählt sie dem Klinikpersonal ihre Lebensgeschichte detailliert und wird dann aufgrund von vermeintlichen Wahnvorstellungen auf die psychiatrische Abteilung der Charité verlegt. Bevor sie verlegt wird, kann Celina nochmal das Gespräch zu der nun widerwilligen Krankenschwester suchen, welche ihr das Handy hingelegt hat. Sie erfährt, dass die blonde Frau eine gute Freundin von der Krankenschwester ist und Celina vorher im Rahmen der Pandemie intensiv von ihr gepflegt wurde. Das Foto entstand bei einem Urlaub, zu welchen die Krankenschwester eingeladen wurde. „Es ist verblüffend, wie ähnlich Schwester Julia Ihrer angeblichen Identität sieht. Hätte ich Ihnen bloß nicht das Handy gegeben. So konnten Sie gut Ihre Geschichte erfinden und alles im World Wide Web finden. Sie sind nicht Celina Herrmann. Schauen Sie sich doch Mal im Spiegel an! Sie sind hässlich, sie ist schön, genauso wie Julia.“ sagt die Krankenschwester nun gehässig, während sie durch die Google-Fotos scrollt und mit der anderen Hand einen Spiegel vor das Gesicht von Celina hält.

In der psychiatrischen Abteilung erhält sie Besuch von dem Arzt, welchen Celina als erstes nach dem Aufwachen gesehen hat. Dieser grauhaarige Oberarzt mit dem Namensschild „Gerhard Kunze“ mit dem gütigen Blick besucht sie tagtäglich und hört sich die Gedanken geduldig an. „Ich werde Ihnen helfen Celina Herrmann“, sagt er fürsorglich. Endlich habe ich ein bisschen Hoffnung. Er glaubt mir, denkt sie. Das geschah alles vor ein paar Wochen.

 

Im Laufe der darauffolgenden endlosen Tage finden die beiden heraus, dass Celina zu einer wichtigen Wohltätigkeitsveranstaltung trotz der Pandemie in Berlin unterwegs war.

 

Sie ging vorher in einem Park in Berlin spazieren und geriet in eine Auseinandersetzung mit Jugendlichen, weil diese einen Obdachlosen drangsalierten. Durch einen dumpfen Schlag auf dem Kopf brach sie bewusstlos zusammen. Celina geht erst davon aus, dass sie auch ausgeraubt wurde. 

 

In der weiteren Recherche erfährt Celina, dass ihre damalige 24-h-Pflege eine Frau namens Julia Müller war. Ein altes Facebook-Foto zeigt eine kleine blasse unscheinbare Frau mit braunen Haaren und einer Brille. Sie findet zusammen mit einem Privatdetektiv heraus, dass die Wohnung von Frau Müller gekündigt wurde und kein fester Wohnsitz in Deutschland bekannt ist.

Diese Frau hat mir mein Leben geraubt, mein Aussehen, mein Geld, mein Ich, denkt Celina voller Wut und Verzweiflung, als der Privatdetektiv ihr ein Foto auf der Webseite einer Arztpraxis aus Berlin Spandau zeigt, in welcher sich der Schönheitschirurge mit seinen „Vorher-Nachher“ Erfolgen brüstet.

 

Dank ihrer beiden Helfer, kann sie ihre Identität nachweisen, hat wieder Zugriff auf ihre Konten und ihr Leben.

 

Sie leidet schon ihr Leben lang an einem dunklen Geheimnis ihres Vaters, der nicht war, was er schien. Schon damals löste ein eindeutiges Foto von ihrem Vater und sich, eine traumatische Erfahrung aus. War sie das auf dem Foto in eindeutiger Pose als Kind mit ihrem geliebten Vater?

Durch diese Julia Müller und dem Foto auf dem Handy der vorerst emphatischen Krankenschwester, wo Celina sich selbst sah, aber es nicht war, beginnt ihr inneres Martyrium erneut. Die aktuellen Geschehnisse haben eine längst vergessene seelische Narbe schmerzhaft geöffnet.

 

Vater, warum hast du mir das angetan? In Gedanken sieht sie sich als Kind. Plötzlich hat sie eine Frau vor sich, die so aussieht wie sie, in ihrem früheren Leben. Das Leben vor dem Koma. Ihre Gedanken fahren Achterbahn zwischen Kindheit und Erwachsen sein.

Julia Müller, warum hast du mir mein Leben genommen?

 

Sie findet die gesamte grausame Wahrheit heraus. Immer Stück für Stück, welche ihren Hass immer mehr schürt.

 

Eine ausländische Handy-Nummer sowie zwei Flugtickets liegen vor den Beiden auf dem Tisch in dem geräumigen Wohnzimmer, irgendwo nahe Berlin. „Komm, ich rufe diese Frau jetzt an und wir rächen uns.“ sagt er und nimmt einen Schluck aus einer Kaffeetasse mit den Vereinsfarben von Energie Cottbus.

In angespannten Ton gibt sie ein wütendes „Ja“ von sich.

„Hallo Celina, endlich habe ich dich gefunden mein Schatz, ich habe solche Sehnsucht nach Dir. Ich fliege noch heute zu Dir.“ flüstert Gerhard in einem markanten Ton mit verstellter Stimme und hört die übereifrige Antwort. Das Telefonat dauert einige Minuten und Celina nimmt  währenddessen immer wieder den genervten, aber auch triumphierenden Blick von ihm wahr.

Es ist so gut, dass er mir damals geglaubt hat.

Ein positives Gefühl überkommt sie und ihre Anspannung nimmt ab. Zärtlich streichelt sie Sam hinter den kleinen Ohren.

 

 

 

 

Zwei Tage später

Vor Nelson`s Eye, 9 Hof Street | Gardens, Kapstadt Zentrum 8001, Südafrika

In einem im Parkverbot vor dem Restaurant stehenden Porsche sitzt eine blonde gutgekleidete Frau mit Sonnenbrille. Sie trägt gerade Rouge auf die zarten Wangenknochen auf, als sie im Rückspiegel einen großen roten Jeep mit zwei Insassen auf sich zurasen sieht. Ein Knall.

Sie spürt plötzlich im ganzen Körper unbändige Schmerzen, kann nicht mehr atmen und hört sich selbst röcheln, es sticht in ihrer Lunge wie hunderte Nadelstiche und fühlt sich an, als würde ein großer Stein auf ihrem

Brustkorb liegen. Jetzt holt mich Gott zu sich, denkt sie noch kurz bei sich, als das sanfte warme Licht immer schneller auf sie zukommt, und das Leben sekundenschnell aus ihren Körper weicht.

Krankenwagen-Sirenen ertönen, während der rote Jeep in den Weiten der Großstadt verschwindet.

11 thoughts on “Das gestohlene Ich

    1. Sehr gut geschrieben und fesselnd. Die Story hat mich sehr eingenommen.

      Allerdings sind mir zwei Dinge aufgefallen: die Zeit hat mich etwas verwundert: du hast geschrieben “zwei Jahre zuvor”, und dann, als Celine wieder aufwacht, “ein Jahr später”? Das müssten doch dann zwei Jahre sein, oder?

      Und das zweite: merkt denn keiner in der Klinik, dass Celines Aussehen sich verändert hat, wenn Julia ihr die Identität nimmt?

      Aber abgesehen davon, finde ich die Beschreibung der Krankenschwester mit der Psychose extrem packend.

  1. Spannend aufgebaut,sehr markanter Schreibstil,teilweise gruselig,man erkennt eine ,,rote Linie”,auch die Absätze ähnlich wie in S.Fitzeks Thrillern.
    Man fühlt sich echt hineinversetzt,die Celina Herrmann könnte es so im wahren Leben auch geben.Da geht noch was😉👍

  2. Eine spannende Geschichte, die mich fesselt. In deinem Profil steht, dass du Hobbie-Schreiberin bist. Dafür super und mit ein wenig Übung, kann aus Dir was Großes werden. Ich freu mich auf mehr von Dir. Gruss, Gary

  3. Die Darstellung einer psychotischen Person ist Dir gelungen. Die gruseligen Psycho-Effekte haben Spannung aufgebaut. Ein bisschen fehlt der rote Faden, aufgrund der Zeitsprünge. Aber bei manchen beschriebenen Szenen bekam ich Gänsehaut, das macht einen guten Thriller aus. Mach weiter so und bleibe dran. Liebe Grüße, Mandy

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