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„Die Post ist da.“

Der übliche Satz unserer Auszubildenden. Jeden Tag werden diese vier Worte ausgesprochen. Mit einem Hauch Unterwürfigkeit, aber auch einer Spur Blutdruck. Ich kann es ihnen nachfühlen, denn schließlich spielt niemand gerne die Rolle des Boten. Aber das gehört nun mal dazu. Auch wenn die Ansicht „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ definitiv nicht mehr ins einundzwanzigste Jahrhundert gehört, die Hierarchie ist dennoch klar. Das muss wohl auch so sein. Unabhängig von der Größe, des Umsatzes und der Bekanntheit des Unternehmens. Jedem muss klar sein, wo sein Platz ist. Das findet man in jedem Lebensbereich wieder, sei es hier auf der Arbeit, in der Schule oder auch nur in der Familie. Jeder hat seine Position zu kennen. Und keine Position ist weniger wichtig.

Die Auszubildenden des dritten Lehrjahres haben ihre Prüfungen bestanden. Das heißt es ist an der Zeit, den neuen Jahrgang zusammen zu stellen. Eine Aufgabe, die mit jedem Jahr immer schwerer und schwerer wird.

Eine normale Ausbildung? Was will ich denn damit? Abitur und studieren, mit was anderem fängt man heutzutage doch nichts mehr an!“

Eine Einstellung für die die jungen Leute definitiv nichts können. Es sind die Eltern, die die Erwartungen an ihr Kind so unglaublich hoch schrauben. Auch wenn es den Kindern nicht klar ist, das einzige, was jedes Kind tief in seinem Innersten wirklich will, ist die eigenen Eltern nicht zu enttäuschen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass es auch noch junge Heranwachsende gibt, die auf dem immer noch standhaften Fundament einer Ausbildung ihre Karriere aufbauen möchten.

Ich nehme die blaue Mappe zur Hand, in welcher die Pforte die tägliche Eingangspost für die Personalabteilung einsortiert. Kein einziger großer Umschlag und somit auch keine Bewerbung. Aber das ist kein schlechtes Zeichen, da wir vorrangig um Bewerbungen per E-Mail bitten. Ich gestatte mir nur noch einmal am Tag in das extra für Bewerbungen eingerichtete Postfach zu schauen. Immer dann, wenn ich die Post durchgesehen habe. Alles andere wäre Zeitverschwendung. Ich sehe eine kleine „1“ am Posteingang. Wenn das keine Spam-Nachricht ist, haben wir eine Bewerbung.

Mir fällt ein riesiger Stein von Herzen, als ich sehe, dass die E-Mail weder Werbung noch sonstige Bizarre Dinge enthält. Ein kurzer Zweizeiler erläutert, dass wir die Unterlagen dem Anhang entnehmen können und ohne auf weitere Worte zu achten, wird dieser von mir auch sogleich geöffnet.

Auch das Bewerbungsschreiben interessiert erst einmal nicht weiter. Denn ich beginne immer hinten, bei den Zeugnissen. Es ist, als würde man ein Stück Kuchen essen. Jeder nimmt für die erste Gabel natürlich die Spitze des Stücks. Aber das ist es doch, was immer am besten schmeckt. Nicht das Ende, das ich nur noch gegessen habe, um den Teller leer zu machen. Sondern die Spitze, die den ganzen Genuss widerspiegelt. Es ist das, was man zuletzt vernimmt, was im Gedächtnis bleibt und daran möchte ich mich erinnern.
Noten und Lebenslauf verraten etwas über die Leistung, welche natürlich Gewicht hat. Aber Charakter ist das, was einen guten von einem schlechten Menschen und somit auch von einem guten oder schlechten Auszubildenden unterscheidet. Und über diesen erfährt man nur etwas, wenn man zwischen den Zeilen des Bewerbungsschreibens liest. Das ist, was am schwersten wiegen muss, um eine gute Wahl zu treffen. Der schlauste Mensch der Welt taugt nichts, wenn der Charakter nicht stimmt.

Ich sehe keine herausragend guten, aber auch keine extrem schlechten Noten. Mittelmaß ist heutzutage ausreichend für eine Ausbildung. Vielleicht sehe auch nur ich das so, weil ich auch immer so war.

Ich blättere weiter vor, um mir den Lebenslauf anzusehen, wo mein Blick zuerst auf das Lichtbild fällt.

Die schwarzen Harre, die dicke Hornbrille, die Gesichtszüge bis hin zu dem leichten Lächeln, wobei der rechte Mundwinkel immer etwas höher gezogen wird, um ein Gefühl der Selbstsicherheit zu vermitteln.

Dann die Angaben. Vom Geburtstag und Geburtsort, über Familienstand, religiöse Zugehörigkeit, schulische Ausbildung samt aller Schulwechsel auf den Tag genau. Alles stimmt überein.

Die Haare an meinem Körper stellen sich auf wie kleine Nadeln, die mir von Kopf bis Fuß eine Akupunktur verpassen. Das nächste, was meinen Schauer der Gänsehaut in eine Gesamtkörper-Schockstarre verwandelt, ist die erste Position.

Der Name: Sarah Zimmer.
Das hier ist mein Lebenslauf.

Es sind meine Zeugnisse.

Jene, die eigentlich vernichtet sein müssten. Jene, die niemals ans Tageslicht hätten geraten dürfen.

Das, was mein Auge dort visualisiert, bringt die Erinnerungen ans Tageslicht, die ich bis in die dunkelste Ecke meines Bewusstseins verbannt hatte.

Es ist immer wieder erstaunlich wie schnell manches wieder da ist. Es ist, als sei es sehr tief vergraben und einbetoniert. Aber die kleinste Kleinigkeit, wie ein Name, verursacht solche Risse im Beton, dass die Schatten der Erinnerung hinausschlüpfen und alles um einen herum in Dunkelheit hüllen. Die Vergangenheit erscheint lebendiger als je zuvor. Man sitzt nicht mehr in seinem lichtdurchfluteten Büro. Man gelangt sofort wieder an den Ort, an den man niemals wieder zurückkehren wollte.

Ich höre es an der Tür klingeln. Aber anstatt wie jeder normale Mensch einfach zu öffnen, halte ich mich an das mir vorgeschriebene Protokoll:

1. Schalten Sie nicht das Licht an.

2. Begeben Sie sich unmerklich zu dem Fenster, von dem Sie den Eingangsbereich vollständig ins Visier nehmen können.

3. Warten Sie auf das Signal, welches nur von einer Person ausgeführt werden kann, die im Kreis der Ermittlungen steht.

4. Nur dann, aber auch wirklich nur dann, öffnen Sie die Tür.

Bei dem Signal handelte es sich um das Aufleuchten einer Taschenlampe. Einmal lang, zweimal kurz, zweimal lang. In meinen Augen erschien mir das etwas zu einfach. Aber man darf ja auch nichts zu kompliziertes nehmen, wobei schnell Fehler unterlaufen können. Und da ist sie, die richtige Kombination. Dieser Mann brachte mir die Neuigkeit, die mir die schwerste Last von den Schultern nahm, die ich bisher stemmen musste.

„Sie ist festgenommen.“

Mehr musste man mir nicht sagen. Man hatte mich bereits im Vorfeld informiert, was geschehen würde, wenn der Zugriff erfolgreich verläuft. Der Hochsicherheitstrakt wird das neue zuhause meiner Zwillingsschwester. Auch wenn noch kein Urteil gefallen war. Es war klar, dass bei diesem Ausmaß an Verbrechen nicht weniger als lebenslänglich dabei herauskommen konnte.

Über Zwillingsschwestern sagt man eigentlich, sie hätten eine besondere Verbindung. Von Anfang an wie Pech und Schwefel. Es könne sogar so weit reichen, dass die eine den Schmerz der anderen spüren kann. Bei uns war das nicht der Fall. Meine Mutter erzählte mir immer, dass wir schon im Mutterleib kein gutes Verhältnis zueinander hatten. Hätte man die Föten nicht per Notkaiserschnitt auf die Welt gebracht, hätte sie mir wortwörtlich die Haare vom Kopf gefressen.

Auch wenn mir geistig an nichts fehlte, so war ich in meiner körperlichen Entwicklung doch immer der schwächere Zwilling. Das Beschützen von mir stand unseren Eltern somit immer an erster Stelle, was der Eifersucht immer mehr Futter gegeben hatte. Noch bevor wir unseren vierzehnten Geburtstag feiern konnten, war sie verschwunden. Die nächsten Monate waren geprägt von der Suche nach ihr. So hatte sie das, was sie ihr ganzes Leben begehrt hatte: die ungeteilte Aufmerksamkeit unserer Eltern.

Der Verlust eines Kindes kann Eltern entweder entzweien oder zusammenschweißen. Es schien zunächst so, als sei ihr Zusammenhalt stärker als je zuvor.

Auch wenn sie sie nie gefunden haben, nach Monaten fand sie uns wieder. Aber nicht, um zur Familie zurückzukehren. Nein. Sie wollte sehen, wie auch das letzte bisschen Leben aus uns herausfloss.

Auch wenn ich nicht zuhause war, als es passierte, als ich ins Haus trat, sah alles so aus wie immer, aber doch völlig anders. Ich schätze, dass mein Geruchssinn bereits mein Gehirn in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Als ich um die Ecke bog, sah ich dann die Bluttropfen auf der Treppe. Wie Brotkrumen ausgelegt wiesen sie mir den Weg nach oben bis hin zu ihrem Zimmer. Ich öffnete die Tür und fand unsere Eltern auf dem Boden, oder mehr das, was noch von Ihnen übrig war.

Wie leere Hüllen saßen sie aneinandergefesselt auf dem Boden.

Meine Schwester hatte eine ganze Wand mit Postern tapeziert, wie das eben so typisch war für dreizehnjährige Mädchen. Wenn man hereinkam blickte man geradeaus darauf und da war jetzt nichts mehr. Die Poster waren heruntergerissen und lagen zusammengeknüllt in der Ecke. Alles, was man noch sah, war rot.

Sie hatte sie ausbluten lassen, das Blut genommen und damit die Wand gestrichen.

Bis heute ist es mir ein Rätsel, warum. Anfangs habe ich viel Zeit damit verbracht, mich genau mit dieser Frage zu beschäftigen. Aber irgendwann fand ich Grund genug, dies nicht mehr zu tun.

Jetzt halte ich den braunen Umschlag in meinen Händen. Der braune Umschlag mit meinem neuen Leben. Darin fand ich neue Ausweisdokumente, Lebensläufe, ein Foto nachdem ich mein Aussehen zu verändern hätte und natürlich die Info über meine neue Heimat. Von einem Aufenthaltsort zu sprechen, wäre zu optimistisch gewesen. Denn die Ermittlungen hatten zahlreiche Kontakte ergeben, die meine Schwester aufgebaut hatte, um auch nur jeden aus ihrer Vergangenheit ausfindig zu machen und auszulöschen. Das Leben im braunen Umschlag war von Dauer.

Aber anscheinend ist nichts für immer. Jemand hat mich gefunden. Dabei war es auch egal, um wen es sich dabei handelt. Niemand ihrer Kontakte würde Gnade walten lassen. Killer durch und durch. Für viele von denen sei das Beenden eines Lebens nur ein Job hatte man mir gesagt. Anstatt auf den Button für das Senden einer E-Mail zu klicken, betätigte man den Abzug einer Pistole.

Eine E-Mail kann ebenso wenig zurückgenommen werden wie ein Schuss. Obwohl erschießen wohl noch die gnädigste Art zu sterben wäre. Ausbluten geht langsam. Man spürt, wie das Leben langsam aus einem heraussickert. Ein Schuss richtig platziert, da dauert Sterben nur einen Moment.

„Frau Münz?“, riss mich die Stimme meines Vorgesetzten aus meinen Gedanken. „Machen Sie mir doch bitte noch einen Espresso.

Die Bestätigung will mir einfach nicht über die Lippen kommen.

„Frau Münz?“

„Ja, aber natürlich…Chef. Sie haben ihn in einer Minute auf dem Tisch.“, stammele ich leise vor mich hin.

Münz. Linda Münz rief man mich jetzt.

Es blieb damals keine Zeit, sich erst daran zu gewöhnen. Ich musste ihn sofort annehmen, ob es mir nun gefiel oder nicht. So hatte ich gar nicht erst die Chance, mich an ihn zu gewöhnen. Aber ich sollte mich nicht beschweren. Ich lebe als diese Frau das perfekte Leben.

Auch wenn er nicht in den braunen Umschlag gepasst hat, aber zum Inhalt gehörte ebenfalls ein Ehemann. Dabei dient er nur als meine Wache. Mein „Mister Bodyguard“, wie ich ihn nenne. Wir leben in einer Wohnung mitten in der Innenstadt. Alibi-Kinder haben wir keine. Offiziell, weil uns beiden die Karriere natürlich vorgeht. Aber im Zeugenschutzprogramm baut man keine Kontakte auf. Man nimmt das, was einem zur Seite gestellt wird. Den Bodyguard.

Wir haben uns über die Jahre aneinander gewöhnt, er ist wie ein Freund von der Arbeit. Und Freundschaften am Arbeitsplatz machen diesen erträglicher.

„Ihr Espresso.“

Schnell husche ich zurück an meinen Schreibtisch. Der Hackordnung habe natürlich auch ich mich unterzuordnen. Die besagt aber auch, dass ich nun weiterarbeiten muss, was bedeutet, ich muss mich wieder dem zuwenden, wovon ich mich einfach nur abwenden möchte. Denn jetzt komme ich zu dem Teil, der von mir als am wichtigsten erachtet. Der, der über die Persönlichkeit informiert. Der, in dem, wenn man zwischen den Zeilen liest, aus dem man erfährt, wer die Person ist. Ich drehe die Seite herum und schaue mir zuerst an, ob ein Absender angegeben wurde. Eine Adresse könnte ich melden und ich hätte für eine kurze Zeit die Hoffnung, dass meine Schwester dort ist, sie wieder verhaftet wird und ich einfach ein neues Leben ganz woanders beginne. Schon wieder.

Mira Zimmer

Hauptstraße 27

07367 Pusemuckel

Wie Glas, was auf den Boden fällt, zerbricht auch nun mein letzter Hoffnungsschimmer. Sie ist es. Natürlich ist sie so dreist und gibt zwar ihren richtigen Namen, aber eine nullachtfünfzehn Adresse an. Unnötig auch nur in Google Maps zu prüfen, ob es diesen Ort nicht vielleicht doch gibt. Wie damals wird keiner sie finden. Sie findet mich.

Wenn ich unheilbar krank wäre, nur noch der Tod auf mich warten würde, um mich zu holen. Was lähmt mich mehr? Die Ungewissheit Tag für Tag zu leben, aber mit dem Gedanken, den nächsten womöglich nicht mehr zu erleben oder das Wissen über mein Todesurteil? Im Endeffekt ist es egal. Die Zeit, in der man den Ausgang hätte beeinflussen können, ist ohnehin verstrichen. Also, was hat Mira mir zu sagen?

Sehr geehrte Frau Münz,

hiermit bewerbe ich mich auf die Stelle als mordlustige Verrückte. Da ich immer das beende, was ich angefangen habe, hat Ihr Dasein und das damit verbundene Aggressionspotenzial mein Interesse an dieser Stelle geweckt.

In meiner Ausbildung zur Fachkraft für Tötungsmethoden habe ich die Bereiche des Ausblutens ausführlich kennengelernt. Auch künstlerische und handwerkliche Aspekte wie das Streichen von Wänden kam dabei nicht zu kurz.

Okay, Spaß beiseite, Sarah. An deinen richtigen Namen wirst du dich ja wohl noch erinnern.

Man kann eine Sache immer von zwei Seiten betrachten. Deine Version der Geschichte hat mein Leben die letzten zwei Jahrzehnte bestimmt. Es ist Zeit, dass meine Geschichte gehört wird. Oder in diesem Fall gelesen.

Natürlich glaubst du, dass unsere Eltern unschuldig waren. Du warst ihr Liebling. Du wurdest beschützt. Dir hat man die Welt zu Füßen gelegt. Mir nicht. Ich wurde immer klein gehalten. Man hatte ja so eine Panik, ich könne dir schaden. Aber hat sich jemals auch nur einer darum gesorgt, wie es mit geht? Nein! Denn es war nur wichtig, dich zu retten. Dafür wurde mein Leid in Kauf genommen.

Ich habe mir erlaubt, ein wenig zu recherchieren. Du hattest Leukämie als Baby. Eine Knochenmarkspende war nötig um dein Leben zu retten. Mich als deine Zwillingsschwester hat man also als geeigneten Spender auserkoren und eine riesige Nadel in meinen Beckenkamm gerammt. Aber trotz der großen Übereinstimmung war es nicht mit einer einmaligen Prozedur getan. Sieben Eingriffe musste ich über mich ergehen lassen. Und gesorgt hat man sich nur um dich. Denn ich musste ja nicht genesen. Ich musste nur am Leben erhalten werden. Denn als dann deine Leber zu versagen begann, wurde ein Stück meiner genommen und bevor ich es vergesse, eine meiner Nieren hast du auch bekommen. Ich war nur dein Ersatzteillager. Davon weißt du natürlich nichts. Man hat dir verkauft, dass du einfach immer Glück hattest, so schnell wieder ein Spenderorgan bekommen zu haben. Dabei wurdest du erst gar nicht darauf gesetzt!

Du hast dich erholt. Körperlich geht es mir auch gut. Aber hast du auch nur eine Ahnung wie es ist, jeden Tag auf die Narben zu blicken und nur zu sehen, dass du nicht mehr für deine Eltern warst, als ein Organspender?

Im Prinzip kann ich dir keinen Vorwurf machen, denn du hättest das genauso wenig verhindern können wie ich. Aber dennoch möchte ich zurück haben, was mir gehört. Natürlich brauche ich mir nichts mehr einzupflanzen. Aber wenn man nach zwanzig Jahren aus dem Knast kommt, ist man knapp bei Kasse. Da du für meine Verhaftung verantwortlich bist, ist es nicht zu viel verlangt, wenn du jetzt deinen Beitrag leistest.

Für weitere Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung und würde mich freuen, diese bei einem persönlichen Gespräch beantworten zu dürfen.

Ich verbleibe mit tödlichen Grüßen!

Mira Zimmer

Nichts müssen wir, nur sterben. Jeder weiß, dass niemand ewig lebt. Doch würden wir uns jeden Tag unseres Lebens damit beschäftigen, hätten wir bereits lange richtig zu leben aufgehört, bevor unser Herz aufhört zu schlagen. Also versucht man das Beste aus seinem Leben herauszuholen. Ich musste also auch aus meiner Situation das Beste machen.

Ich musste ich mir etwas suchen, was mich fühlen ließ. Etwas, was mich atmen ließ. Etwas, was mich spüren ließ, dass ich lebe. Vor allem nachdem ich vor Jahren herausgefunden habe, dass das, was Mira in ihrem Anschreiben anprangert, die Wahrheit ist. Ich fühle mich schuldig, dass ihr das meinetwegen widerfahren ist. Darum musste ich jeden einzelnen Tag, an dem ich fühlen, atmen und leben konnte, dankbar sein.

Damit ist nun der Tag gekommen. Ich habe nicht mehr auf den Feierabend gewartet. Ob ich morgen noch einen Job habe oder nicht, tut jetzt sowieso nichts mehr zur Sache. Auf halber Strecke zwischen meinem Arbeitsplatz und meiner Wohnung stelle ich meinen Wagen am Waldrand ab. Nicht die vereinbarte Strecke, denn sie liegt etwas abseits. Aber es ist der richtige Ort.

Hier gibt es ein altes Baumhaus mitten im Wald. Es ist natürlich nicht für jemanden wie mich gedacht, sondern sollte bestimmt einmal ein Ort sein, wo Kinder ihrer Fantasie für Abenteuer freien Lauf lassen konnten. Aber hier kann man fühlen wie alles atmet und lebt.

Ein guter Ort, zu sterben.

Mira,

ich wusste, dass der Tag kommen würde, an dem du diesen Brief erhalten musst. Ich habe diese Zeilen lange vorher geschrieben, wohl wissend, dass ich an jenem Tag nicht die Nerven dafür haben werde, geschweige denn die Zeit. Außerdem gab es danach kein Zurück mehr. Denn du hast mich gefunden. Aber auch für mich brauchte ich diesen Brief. Er ist zwar kein notariell beglaubigtes Dokument, aber für mich hat er die tiefere Bedeutung. Er besiegelt mein Vorhaben. Aber erst einmal möchte ich mich bei dir entschuldigen. Zum einen dafür, was dir als Baby passiert ist. So etwas hätte niemals passieren dürfen. Aber daran kann ich nichts mehr ändern und nichts kann das wieder gut machen. Dennoch möchte ich das geben, was ich geben kann. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die es verdient haben, zu leben. Nicht, das einer von uns das nicht hätte. Aber ich hänge nicht an meinem Leben. Es gibt niemanden mehr, den ich zurücklassen würde. Darum wirst nicht nur du mich finden, mit diesem Brief in der Hand und einen Zugang im Arm, über den mein Blut abgezapft wird. Na, siehst du nun auch rot?

Es ist heutzutage so einfach, alles nötige zu besorgen. Online-Shopping macht´s möglich! Nach und nach werde ich mir immer mehr Blut entnehmen und in Infusionsbeutel laufen lassen, damit es später gespendet werden kann.

Ich weiß, was du dich jetzt fragst. Ist die dumm? Wie soll das denn überhaupt jemand finden? Aber die Tatsache, dass du diesen Brief in deinen Händen hältst, ist der Beweis, dass mein Plan aufgegangen ist. Kurz bevor ich das Bewusstsein verliere, werde ich den Notruf absenden, der umgehend meinen genauen Standort den richtigen Personen zukommen lässt. Mister Bodyguard, wie ich meinen Scheinehemann am liebsten nenne, wird mich finden. Ihm wurden genaue Anweisungen hinterlassen. Er wird mir weiter Blut abzapfen, bis es zu Atem- und Herzstillstand kommt. Wenn mein Hirn einige Minuten keinen Sauerstoff bekommen hat, wird er Wiederbelebungsmaßnahmen durchführen. Aber nicht, um mein Leben zu retten. Mein restliches Blut muss nur so lange zirkulieren, bis die Rettungskräfte eintreffen und mich an Maschinen anschließen. Da ich bis dahin Hirntod sein werde, ist es ausgeschlossen, mich zurückzuholen und meine noch brauchbaren Organe, sowie das abgezapfte Blut können gespendet werden. Du denkst jetzt vielleicht, dass ich dir hätte was zurückgeben sollen. Aber warum sollte ich das tun? Du wolltest sie aus reiner Gier. So warst du schon immer, gierig nach allem, egal was. Ich gebe dir dafür nicht die Schuld. Der Mensch ist darauf aus, immer das Beste für sich zu wollen. Sonst wären wir in der Nahrungskette nicht so weit oben. Aber mittlerweile spüre ich, dass die Menschheit das Gefühl dafür verloren hat, wann sie zu weit geht. So wie auch du. Aus reiner Gier wird diese Welt zu Grunde gehen. Es wird wohl nicht ganz so dramatisch sein wie in den zahlreichen Katastrophenfilmen, die es mittlerweile gibt. Aber die Natur wird zurückschlagen, auf welche Weise auch immer und sei es mit einer Pandemie, um das anzugreifen, was das ganze Unheil erst verursacht.

Auf den kläglichen Rest unseres Lebens!

Sarah

P. S.: Die wichtigste Anweisung an Mister Bodyguard wird dafür sorgen, dass auch du etwas dieser Welt zurückgibst. Dreh´ dich nur um!

One thought on “Lichtbild

  1. Die Idee deiner Geschichte finde ich toll. Auch, dass du die aktuelle situation mit eingebaut hast, hat mir gut gefallen.
    Allerdings hat mir irgendwo der Zauber gefehlt, um dir ein Herz da zu lassen. Vielleicht, in einer deiner nächsten Geschichten, begegne ich auch deinem Zauber. Ich freu mich drauf! Denn deine Ideen sind wirklich gut!
    Lg Lia

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