Dietrich5 Tage

5 Tage

Prolog

Markus saß in seiner Wohnung, in seinem Arbeitszimmer, welches spärlich eingerichtet war, ein Computer mit einem großen Monitor auf einer einfachen Holzplatte welche auf zwei Holzböcken stand, so wie man es von diesem IKEA Modell kannte. Die Platte war schon stark abgenutzt. Er hatte mehrere Monitore aufgebaut, davor die Tastatur und natürlich eine Maus, ein fast voller Aschenbecher neben der halbleeren Kaffetasse rundete das Bild ab.

So saß Markus da, ganz ruhig, zurück gelehnt auf seinem Stuhl, drehte sich eine Zigarette und blickte auf den einen Bildschirm, wo man einen älteren Mann von hinten an einem Schreibtisch sitzen sah.

Er zündete sich seine Zigarette an, er war entspannt, ganz entspannt, sein Gemüt war ruhig, sein Gedankenkarussell, welches sich über Jahre drehte und drehte, ist jetzt zum Stillstand gekommen.

Sein Plan den er über Jahre ausgefeilt hatte hat nun endlich seinen Startpunkt gefunden.

Wie bei Domino Day hatte Markus Stein um Stein gesetzt, zu einem riesigen Dominobild, er hatte geprüft ob alle Steine fallen können, ob die Abstände passen, er war angespannt, weil er Angst hatte, dass er in einem unachtsamen Moment, mit einer unachtsamen Bewegung, mit nur einem fallenden Stein, alles zerstörte. Doch jetzt hatte Markus den letzten Stein den er gesetzt hatte angestoßen. Jetzt gab es nichts mehr zu tun, als nur zuzusehen, wie Stein auf Stein fällt, wie alles zusammen ein fantastisches Bild ergab, ein Kunstwerk. Markus hatte das Einzigartige geschaffen und konnte sich jetzt daran erfreuen Stein um Stein fallen zu sehen und damit auch den Mann, der ihm das alles angetan hat.

 

Noch 5 Tage

Ralf, Priester der Gemeinde St. Wolfshausen, ging an diesem Samstagabend in seine Kirche, wie jeden Samstag um diese Zeit vor der Sonntags-messe. Es ist der 10. März 2018, es war ein ganz normaler Tag, eine ganz normale Woche, soweit sogar ein ganz normales Jahr bisher. Hier und da ein paar Beerdigungen, ein paar tröstende Worte hier, Predigten schreiben, das Alltagsleben eines alten Priesters eben. In einer Woche würde Ralf seinen 67. Geburtstag feiern. Naja, wenn man von feiern sprechen kann, er wird da eben ein Jahr älter.

Als er zum Altar ging, fiel ihm etwas auf, ein Handy? Wer legt denn ein Handy auf den Altar, an einem Samstagabend? Auf dem Handy, ein Smartphone, kein neues Modell wohl, Samsung, darauf ein Post it Zettel mit 4 zahlen, 2003. Was soll das sein? Eine Jahreszahl? Der Pin? Ralf schaltete das Handy ein, bei der PIN Abfrage gab Ralf eben diese Zahlenfolge ein und das Handy startete…

Hinter dem Altar waren Stühle aufgestellt, in einem Halbkreis Richtung Kirchenschiff. Auf einem dieser Stühle setzte sich Ralf als er auf das Handy schaute. Was zur Hölle…? Das Hintergrundbild das erschien, zeigte ihn wie er eines der Kinder aus dem Heim missbrauchte, es war offensichtlich, alles war offensichtlich, es war sein Gesicht zu sehen, es war…, wie kann das sein?

Seit dem Ralf in diese Gemeinde kam, hat er auch das Hubertus Internat betreut, nun ja, es war ja nicht so, dass er es unbedingt wollte und darauf abgesehen hatte, im Gegenteil, er hat dagegen gekämpft, sein Leben lang hat er dagegen gekämpft. Mit spätestens 14 musste Ralf feststellen, dass er nicht auf Mädchen stand wie die anderen Jungs in seiner Klasse, ihm gefielen die Jungs. Wenn Schwimmen war und man gemeinsam duschen musste, schämte er sich einerseits sich vor den Anderen nackt zu zeigen, und andererseits blickte er verstohlen die anderen nackigen Jungs an, was ihn erregte.

Sein Vater, streng, cholerisch, furchteinflössend hatte dafür kein Verständnis, das wusste Ralf, das ist unumstößlich. Er wurde von ihm häufig wegen Kleinigkeiten angebrüllt und auch geschlagen, erniedrigt, ausgelacht, lächerlich gemacht. Ralf hasste seinen Vater und ging ihm weitest möglich aus dem Weg und wenn es nicht möglich war, dann musste Ralf die Erniedrigungen ertragen – oder die Prügel. Ein verdammtes Scheiß Leben! Ralf machte sein Abitur, gar nicht mal so schlecht, wenn man die Umstände betrachtet und er entschied sich Priester zu werden. Er war schon immer auf der Suche nach Gott, „warum kann Er so etwas zulassen? warum musste so viel Elend auf der Welt sein? Die Menschen sehnten sich nach Liebe, war es nicht so?“ Ralf war schon immer besonders feinfühlig und konnte Menschen verstehen, er glaubte an Gott und hatte so viele Fragen. Also, was liegt da näher als Priester zu werden.

Neben dem Theologistudium besuchte er das Priesterseminar, beides dauert ca. 4 Jahre, dann konnte er sich zum Priester weihen lassen. Sein Priester, der ihn leitete, unterrichtete und lehrte, sah alle Herausforderungen erfüllt, so dass er sich mit 25 Jahren zum Priester weihen lies.

Er tingelte durch viele Gemeinden, wie das so üblich ist. Mittlerweile hat sich Ralf damit abgefunden – könnte man sagen, dass er nicht nur auf Männer steht, sondern auf Jungs, er war ein Pädophiler. Stereotyp nach Lehrbuch, schwuler Priester der auf Knaben steht – entzückend. Ralf war da nicht stolz drauf, aber dieser Drang war mächtig, er suchte Kinderpornos und fand sie. In den ersten Jahren seiner Priesterschaft widerstand er den vielen Gelegenheiten die sich ihm boten um das Vertrauen der Kinder, welches er immer genoss, auszunutzen. Das blieb seiner Phantasie vorbehalten. Bis auf dieses erste Mal, welches dann auch nicht das letzte Mal bleiben sollte, bei einem Jugendzeltlager. Es war so üblich, dass der Priester der Gemeinde am ersten Sonntag zum Zeltlager dazu kam um da für die Kinder und Jugendlichen einen Gottesdienst abzuhalten, und es war auch so üblich, dass man eine Nacht auf dem Zeltplatz blieb. Er musste nicht, wie die Kinder, in einem Zelt schlafen, er durfte in der Gemeinschaftshütte schlafen, in einem Einzelzimmer. Hier befinden sich auch die Toiletten und Waschräume und die Küche.

Ralf genoss diese Zeit immer sehr, in der freien Natur, fern von den alten, „frommen“ Waschweibern, die vor üblem Tratsch trieften und die ihm echt zum Teil das Leben schwer machten. Nicht die, die ihn wohl nicht mochten, die hielten sich ja fern, sondern die, die ihn als die Inkarnation Gottes sehen wollten, oder sahen und um ihn herumschlawenzelten wie ein hungriger Kater um sein Herrchen. Immer wieder der neuste Tratsch, wer wen betrog, wer krank ist, wer wegziehen will und über die Kindergartenleitung, die laut geworden ist usw. Und immer musste er interessiert tun, lachen und mitmachen ohne wirklich mitzumachen, er war ja der Priester, es schickte sich nicht für einen Priester mitzutratschen, aber ein Priester muss immer zu hören.

Jedenfalls dieses Zeltlager sollte alles ändern. Wie auch immer es dazu kam, aber scheinbar wurde das bei diesem Zeltlager immer schon so gehandhabt und es war sein erstes Zeltlager in dieser Gemeinde, wurde ein Junge, der besonders brav war, oder etwas besonderes gemacht hat, oder bei einem Spiel gewonnen hat, ausgesucht, der die Ehre hatte beim Pfarrer mit in einem Zimmer zu schlafen. Das Zimmer hatte zwei Betten, das wäre also alles nicht das Problem gewesen. Problematisch wurde es eben durch das was Ralf antrieb und was für ihn das erste Mal sein wird – in diesem Zeltlager. Markus, ein hübscher, netter Junge, ruhig, eher introvertiert, nach diesem Zeltlager war er nicht mehr der, der er vorher war. Ralf hatte, und das war ihm durchaus bewusst, sein Leben verändert. Jedoch ahnte Ralf nicht wie sehr sich dieses junge Leben verändern wird, wie sehr sich der Hass langsam und immer tiefer in sein Herz bohren wird, bis in diesem ehemals unschuldigen Kind nur noch Hass und Wut lodern wird. Dessen einziger Lebensinhalt Rache werden wird. Rache, wie ein unstillbarer Durst, der gestillt werden will.

Markus versuchte damit klar zu kommen, ging in Therapie, hatte Einzelsitzungen. Er ließ wirklich nichts unversucht zu vergessen. Er stürzte ab in Alkohol, Depressionen. Sein Leben war nur noch Finsternis und Traurigkeit, lähmende Traurigkeit. Markus fühlte sich, wie in einer Blase aus Teer zu leben, dunkel und zäh. So verdammt zäh. Er hatte studiert, Informatik, hat einen guten Abschluss gemacht und war erfolgreich in seinem Job, also mehr oder weniger. Er war einfach gut, auch wenn er nicht einzigartig war. Er bemühte sich auch „normal“ zu sein. Aber er bemühte sich nicht nett oder sozial zu sein. Das machte ihn zu einem typischen Einzelgänger. Sein Chef mochte ihn wohl nicht besonders, aber er machte seine Arbeit gut. So beschloss wohl Michael Carstens, ihn einfach in Ruhe zu lassen. Als Chef musste man ja nicht Freund sein mit seinen Mitarbeitern, sie sollten geführt und geleitet werden und das tun wofür sie bezahlt werden. Und genau das tat Markus, er tat genau das wofür er bezahlt wird.

Vor 10 Jahren, vor fast genau 10 Jahren, fasste Markus einen Entschluss, er war es leid zu saufen, in Selbstmitleid zu zerfließen, sich immer wieder den Bildern hinzugeben, die Bilder die ihn zerstört haben, er roch diesen besonderen Geruch aus diesem Zimmer immer noch, nach Bohnerwachs, Lagerfeuerrauch, Natur, dieser feuchte Waldbodengeruch. Alles Gerüche die an schöne Zeiten erinnern könnten, wäre da nicht dieser Ralf…
Markus würde Rache nehmen. Er begann zu planen, wie er es ihm heimzahlen könnte. Schmiedete einen Plan nach dem anderen. Am Anfang, also zu Beginn seiner Planungsphase waren es stumpfe Gewaltpläne, entführen, foltern, töten. Später hatte er die Idee ihn zu vergiften, aber dieser Plan währte nur kurz. Frauen wenden Gift an, das ist für Männer unwürdig und diesen Tot hatte Ralf nicht verdient. Nein, es sollte ein besonders perfider Plan sein. Vor ca. 8 Jahren hatte er einen Geistesblitz, bestimmt hatte Ralf nicht nur ein Opfer…

Ralf saß Leichenblass auf seinem Stuhl, in „seiner“ Kirche mit dem Handy in der Hand. Das war genau der Horror, der Albtraum den er schon immer befürchtet hat, dass er einmal „erwischt“ werden würde, dass damit sein Leben aus den Fugen geraten würde. Und jetzt war es soweit. Dieses Foto könnte sein Leben zerstören und das war es wohl was geschehen sollte, warum sonst dieses Handy, dieses Foto. Minuten vergingen, bis eine Kurznachricht einging: „noch 5 Tage!“

Super, wie eindeutig. In 5 Tagen wird Markus also dieses Foto wohl veröffentlicht, sein Leben wird nicht mehr so sein wie es war, von jetzt auf nachher. Aber genau so muss es wohl auch für seine Kinder, seine Opfer gewesen sein, denn auch ihr Leben war danach nicht mehr wie vorher.

Und Markus blieb nicht der Einzige, viele weitere folgten, auch hier in dieser Gemeinde, in dem Kinderheim. Nein, Ralf war da nicht stolz drauf, aber mit Markus damals ist der Damm gebrochen. Und in seiner Funktion als Priester hatte er nun einmal diesen Vertrauensbonus der es ihm leichter machte das zu tun was er tat. Nein, er hasste sich dafür, schämte sich.

Er drückte die „Aus“ Taste vom Handy, steckte es in seine Hosentasche und ging rüber in seine Wohnung, schaltete den Computer ein, löschte alles Material, was ihn kompromittieren könnte und blieb kraftlos in seinem Bürostuhl sitzen, als das Handy – nicht sein Handy – vibrierte. Er holte es heraus und las auf dem Bildschirm, ohne es öffnen zu müssen „Dafür ist es jetzt zu spät!“

Ralf erschrak, wie kann das sein? Wird er etwa beobachtet? Ist hier eine Kamera, wie man es aus den schlechten Filmen kennt? Das kann nicht sein! Die Kamera von seinem Computer? Er schaute genau hin, „Sollte da nicht ein Licht brennen wenn die Kamera aktiviert ist?“ Ralfs Herz raste. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Welt schien sich um ihn zu drehen.

Nur noch bis 70 wollte er „arbeiten“ und dann wäre doch alles in trockenen Tüchern gewesen, oder etwa nicht? Er lief im Zimmer auf und ab, bis er sich entschied eine Runde spazieren zu gehen. Stundenlang, über die Felder, durch dünnbesiedelte Gegenden, er wollte jetzt nicht gesehen werden. Bis er, tief in der Nacht, nach Hause kam und sich ins Bett legte und bis morgens die Decke anstarrte.

 

Noch 4 Tage

Unkonzentriert und stammelnd hielt er vor seiner zahlreich versammelten Gemeinde seine Predigt ab, er verpasste die von ihm zu setzenden Intonationen… es war eine entsetzliche Vorstellung von einem Gottesdienst. Ihm war bewusst, dass seine Waschweiber daraufhin geradezu ausflippen und sich überschlagen würden. Seine innere Unruhe, seine Scham, sie muss doch offensichtlich sein, sogar für den dümmsten und blindesten Idioten in dieser Gemeinde – Gottfried Niedermayer, der Bürgermeister.

Kurz vor Ende des Gottesdienstes vibrierte das Handy, er holte es verstohlen hervor: „Noch 4 Tage!“ Er blickte sich nervös um, war er etwa hier unter den Zuschauern? Er musste sich setzen, kein Handeschütteln nach dem Gottesdienst, er ließ sich vom „Ältesten“ entschuldigen, ihm sei nicht wohl, hat er gesagt – was ja auch stimmte.

Und so verging auch dieser Tag, in Unruhe, innerer Zerrissenheit, Scham, Schuld und Selbstmitleid, das sein tolles Leben jetzt so enden muss. Er sah sich schon im Gefängnis, vor Gericht und alle möglichen Bilder zeigten sich vor seinem inneren Auge.

Eine weitere schlaflose Nacht, von kurzem Schlummer unterbrochen.

Noch 3 Tage

Schließlich musste er dann doch tiefer eingeschlafen sein, denn er wurde von dem vibrierenden Handy geweckt, eine Nachricht die er erwartet hatte zeigt sich ihm: „noch 3 Tage!“.

Ralf hatte zum ersten Mal die Idee sich das Handy genauer anzusehen. Er entsperrte das Handy mit dem Code und schaute was alles drauf ist. Er öffnete die Bildergalerie, die einzige App die am Startbildschirm verankert war. Ihm fiel das Handy aus der Hand, mit nur einem Blick erkannte er was darauf zu sehen war – und das war nicht gut, gar nicht gut.

Was für Alternativen hatte er, was sollte er tun, gibt es eine Möglichkeit, kann er sich vielleicht doch irgendwie herauswinden, wie in Heudorf, hier gab es übelste Anschuldigungen, die natürlich alle stimmten, wie er wusste, er aber leugnete und schließlich wurde er versetzt. Das war ein Warnschuss für ihn und er war seitdem deutlich vorsichtiger geworden, aber wohl nicht vorsichtig genug, wie die Fotos zeigten, denn es waren allesamt neuere Fotos.

Er könnte zur Polizei gehen, aber was dann? Er könnte herausfinden von wem das Handy stammt, das wäre doch eine Idee.

Das erste wäre doch mal die Nummer herauszufinden, er war jetzt technisch nicht so sehr begabt, also wählte er seine Rufnummer, sein Handy klingelte und er konnte die Nummer ablesen. Google suche, Nummernrückverfolgung, er gab die Nummer ein – das Erwartete geschah, kein Treffer.

Das Handy vibrierte: „Markus Diendorfer! Ich bin mir sicher, Du erinnerst Dich?“ Ralf sank in sich zusammen. Markus Diendorfer, Zeltlager, das ist doch schon so lange her. Er fasste sich an die Stirn und war zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig.

Stunden später googelte er Markus Diendorfer und fand nicht viel, ein Facebook Profil, keine öffentlichen Posts, er fand nichts zu diesem Markus. Nichts.
Eine 1 erschien neben seinem Mailicon, eine Mail, er schüttelte den Kopf, jetzt nicht. Was soll das schon sein, was ist jetzt überhaupt noch wichtig. Er stand und wollte sich etwas zu trinken zu holen, als das Handy auf dem Schreibtisch wieder vibrierte. Dort stand „öffne die Mail!“ Was zum Teufel, schrie Ralf, was zum Teufel ist hier los – verdammt. Er holte sich ungeachtet der Textnachricht etwas zu trinken, ein kleiner Akt der Rebellion. Irgendwie wurde er beobachtet, er öffnete die Mail und laß und weinte, er weinte wie er noch nie in seinem Leben geweint hat, schluchzte und schluchzte. Er legte sich auf sein Bett und schlief ein. Auf dem Bildschirm ein Countdown 2 Tage, 3 Stunden. Auf Minuten und Sekunden wurde bei dem Countdown verzichtet – so genau dann doch nicht oder was?

Er wachte auf, mitten in der Nacht, er blickte auf sein Handy 2:25. Er ging in sein Arbeitszimmer um auf DAS Handy zu schauen, gab es eine neue Nachricht? Und die gab es:

„Noch 2 Tage!“

„Hallo Kai, hier ist Ralf, könntest Du mir die Beichte abnehmen?“ Es ist nicht unüblich, dass ein Priesterkollege die Beichte abnimmt, aber normalerweise geschieht das um die hohen Feiertage herum, wie Ostern. „was ist denn mit Dir los, Du klingst ja furchtbar?“ „ja, das trifft es ganz gut, also, wann?“ „Dir scheint es ja ganz schön eilig damit zu sein, heute Mittag um 15:00 Uhr?“ „prima, bis nachher.“ Meinte Ralf nur abwesend und kurz angebunden und legte auf.

Die Zeit schien nicht zu vergehen, zäh wie Honig zerflossen die Sekunden, 30min. vorher fuhr Ralf los, es waren ca. 15 min. zu fahren, aber er wollte noch etwas für sich sein bevor er bei Kai klingelte.

„Willst Du es klassisch im Beichtstuhl haben oder in meinem Büro?“ fragte Kai lapidar. Ralf bevorzugte den Beichtstuhl. Und so gingen sie in die Kirche und Ralf beichtete alles, komplett alles. Zunächst wollten die Worte nicht recht kommen, aber dann sprudelte es nur so aus ihm heraus.“

„Kai, Du wirst doch nichts sagen, das hast Du versprochen und so sind die Regeln im Beichtstuhl, nichts verlässt den Beichtstuhl, nichts, oder?“ „Nein, das Beichtgeheimnis ist uns heilig, aber Du erwartest jetzt nicht von mir das Sakrament der Sündenvergebung, ich muss das jetzt auch erst mal für mich sacken lassen. Ich wünschte Du könntest Frieden finden. Ich muss jetzt…“

Und so stand Ralf wieder alleine da, er ging noch etwas spazieren um ruhiger zu werden, er fühlte sich etwas erleichtert, es tat gut sich befreien zu dürfen, Licht in die Leichenkammern der Seele zu bringen. Das Handy vibrierte: „da geht der Beichtvater zum beichten, süß irgendwie…“ Ralf schaute sich panisch um, verdammt, wie kann das sein, hat dieser verdammte Penner nichts anderes zu tun als mich zu stalken.

Auch heute aß Ralf nur eine Kleinigkeit, hörte etwas Musik und ging schlafen.

Noch 1 Tag

Irgendwie fühlte sich Ralf heute besser, das Beichten scheint auch für „echte“ Sünder wie ihn Befreiung zu bieten. Jesus liebt auch die Sünder, aber niemals so Jemanden wie mich.

Es klingelte an der Tür, Ralf hatte keine Lust zu öffnen. Das Handy vibrierte, ein fast schon vertrautes in dieser komischen Zeit. „öffne die Tür“.

„Bin ich eigentlich bescheuert?!“ rief Ralf aus, aber er dachte es sei besser zu gehorchen.

Ein DHL Bote, da Ralf nichts bestellt hatte war klar, von wem das Paket wirklich war, er nahm es entgegen, verabschiedete sich und ging hinein.
Als er drin war, öffnete er das Paket, darin ein Seil, besser gesagt ein Galgen.

Ralf nahm das Handy und das erste Mal, seitdem ihm das „Handy begegnet“ ist hatte er den Impuls zu Antworten „Was willst Du von mir?“. Minuten lang blieb das Handy stumm, Ralf betrachtete das Seil, das Handy, wieder das Seil. Das Handy vibrierte: „Du weißt was zu tun ist.“

Ja, das wusste Ralf, es gab keinen Ausweg, er war in einer Sackgasse, er konnte nicht damit leben, dass diese seine Schandtaten öffentlich werden. Er würde es tun, er würde das Unglaubliche, unfassbare tun, er würde sich erhängen, er würde diesem Markus tatsächlich diesen Gefallen tun und sich erhängen. Männer vergiften sich nicht, am ehesten erhängen sie sich, also warum nicht.

Er schrieb einen Abschiedsbrief, er setzte sich und schrieb, nicht viel, aber es viel im schwer und er schien Ewigkeiten dafür zu brauchen. Zerriss Zettel um Zettel, bis ihn das Ergebnis zufrieden stellte.

Morgen werde ich es tun.

Ralf räumte seine Wohnung auf, kaufte noch etwas leckeres ein, dass er morgen kochen wollte – vorher. Alles was nicht in seiner Wohnung sein sollte schmiss er weg, verbrannte private Schriften in einer Metallschüssel, duschte und ging schlafen. Auch wenn er nicht schlafen konnte. Er wälzte sich in seinem Bett und konnte keine Ruhe finden.

Der Tag

Ralf wusste, dies war kein gewöhnlicher Tag, es würde sein letzter auf dieser Erde sein, ein Leben, auf das er nicht stolz sein konnte, ein Leben, dass es nicht wert war weitergelebt zu werden. Er duschte sich, trocknete die Dusche ab, warf das Handtuch in die Wäsche, rasierte sich. Er suchte sich seine feineren Klamotten raus, weißes Hemd, schwarzes Hose. Er legte sogar After Shave auf, er musste, trotz allem, kurz auflachen, da will sich Ralf erhängen und macht sich After Shafe auf die frisch rasierte Haut. Wie bescheuert kann man den sein. Er richtete seine Haare, kämmte sie mit Frisiergel nach hinten, wie er es immer tat. Er wollte schon einigermaßen akzeptabel aussehen, wenn man ihn da hängen sehen wird.

Nachdem er eine Runde spazieren war kochte er sich noch sein Lieblingsgericht, Gulasch mit Spätzle und, auch wenn es komisch klingt, es tat gut zu kochen, es war schön etwas gewohntes zu tun, auch wenn das Leben gleich sein Ende finden würde. Er hörte Musik dabei, Talk Talk, The Laughing Stock, Myrrhman, welch Ironie, dass genau dieses Lied einen Suizid schildert.

Ralf aß sein Essen in aller Ruhe, erstaunlich wie er so ruhig sein konnte. Das Seil hing schon in seinem Arbeitszimmer, es gab eigentlich in der ganzen Wohnung nur einen Platz wo er dieses Seil platzieren konnte, an einen von den beiden Haken, an dem er mal eine Sitzschaukel installiert hatte. Damals fand Ralf, dass es eine gute Idee war, aber es sah dann doch etwas arg albern aus, in einem Arbeitszimmer eines Priesters, also hat er die Schaukel wieder entfernt, aber die Haken dringelassen.

Ralf nahm sich aus dem Schrank noch seinen Lieblingswhiskey, schenkte sich etwas davon ein und trank das Glas in kleinen Schlucken, während er seinen Brief auf dem Schreibtisch platzierte und die Haustür abgeschlossen hat. Er brachte das Glas in die Küche, nahm einen Stuhl aus der Küche, brachte ihn ins Arbeitszimmer unter den Strick. Er stieg hinauf, platzierte die Schleife um seinen Hals und stieß den Stuhl weg.

Markus sah dies alles von zu Hause, er hatte schon vor Wochen die Kameras in Ralfs Wohnung installiert, hatte herausgefunden, dass es nur eine Möglichkeit gab den Strick aufzuhängen. Jetzt beobachtete er, wie Ralf den Stuhl hinstellt und sich seinem Ende näherte.

„Na wie findet ihr das?“ fragte Markus, „das ist doch genau das was wir wollten! Ein zerbrochener Priester, zerbrochen an seiner Schuld, zerbrochen an all dem was er uns angetan hat“ Ralf sah auf seinen Bildschirm und sah all die Opfer die er aufspüren konnte, einige haben wohl Suizid begangen, aber die meisten sind irgendwie damit klar gekommen und Zeuge dieser Show. 34 Opfer sind per Videokonferenz mit Markus verbunden. Es hat so viel Zeit gekostet all das vorzubereiten, alle zu finden, den Plan auszuarbeiten und nun – endlich endlich – dieses Scheusal baumeln zu sehen…

Aber Ralf sollte nur kurz baumeln, die Polizei ist informiert und weiß, dass hier ein angeblicher Suizid stattfindet, Markus hatte schon vor einigen Minuten angerufen. Sollte die Polizei nicht kommen, stand Olaf bereit, Olaf wollte das nicht mit ansehen und er hatte auch vorgeschlagen, dass Ralf nicht einfach die Chance haben sollte selbst zu entscheiden wann sein Leben endet. Also war es doch logisch, das Olaf darüber wachte um – falls die Polizei nicht kommen sollte – in die Wohnung zu gehen um Ralf abzuhängen. Markus überwachte alles von zu Hause aus.

Sollte die Polizei nicht gleich da sein, wird Olaf in die Wohnung gehen um den armen, armen Ralf abzuhängen – bevor er stirbt. Die Haustürschlüssel hatte Markus schon vor Wochen nachgemacht. Ja, Markus war stolz auf sich, nichts, wirklich nichts dem Zufall zu überlassen.

Blaulicht, 2 Polizeiwägen, Krankenwagen, das volle Paket. Die Polizisten stürmen aus dem Wagen und rennen auf die Haustüre zu, kurzes Klingeln, niemand öffnet, die Polizisten treten die Tür ein, rennen von Zimmer zu Zimmer, finden Ralf am Galgen im Arbeitszimmer. „Ein Messer, schnell!“ Sein Kollege gibt ihm das Messer mit dem er den Mann von dem Galgen abschneidet. Der Notarzt und die Sanis vom Krankenwagen stürmen in das Arbeitszimmer, schaffen sich Platz in dem sie die Stühle wegschieben. Ralf keuchte, er sah entsetzlich aus, aber er lebte. Die Sanis packten ihn auf die Transportliege und brachten ihn mit dem Krankentransporter ins Krankenhaus. Die Polizisten sahen den Brief und überflogen ihn. Da steckt wohl mehr dahinter, sagte Carsten zu seinem Kollegen. Wir sollten uns einen Durchsuchungsbefehl organisieren und mal genauer schauen, was hier eigentlich los ist.

Währenddessen lehnte sich Markus in seinem Bürostuhl in seinem kärglich eingerichteten Zimmer zurück. Nein, es war nicht so wie sich Markus das vorstellte, sein halbes Leben arbeitete Markus auf diesen Punkt zu, eigentlich sollte er sich doch freuen. Aber das tat er nicht. Im Gegenteil, dieser erbärmliche Anblick, etwas zerbrach in ihm, als er Ralf da baumeln sah, an diesem Galgen über dem umgefallenen Stuhl. Er sagte kein Wort als er die Videokonferenz mit einem Knopfdruck auf seinem Laptop beendete. Er vergrub seinen Kopf in seinen Händen die auf dem Schreibtisch stützen und weinte, schluchzte, so wie er noch nie in seinem Leben geweint hatte.

Alle 35 Opfer die Markus aufspüren konnte gingen zu den Polizeidienststellen in ihren jeweiligen Wohnorten um ihre Aussage zu machen. Sie waren ja vorbereitet und haben alle relevanten Details zu Protokoll geben können, alle, wirklich alle, auch Olaf, erklärten sich bereit auch vor Gericht auszusagen. Markus lieferte einen Löwenteil an beweisen, auch die aktuelleren Fälle der kleinen Kinder. Durch die vielen Zeugen konnte auf Ihre Aussage verzichtet werden. Das war Markus wichtig, dass die Kinder verschont bleiben sollten von dem amtlichen, unpersönlichen Akt der Befragungen und das Wiederdurchleben des kürzlich Erlebten.

Nach wenigen Stunden im Krankenhaus konnte die Polizei Ralf in Gewahrsam nehmen. Da sie ja Ralf vor einem Suizid bewahrt hatten, war es klar, dass man diesen Häftling besonders behandeln würde, ihn beobachten würde, um sicherzustellen dass er keine Gelegenheit eines weiteren Suizides finden würde.

Ralf würde den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen, das nennt man dann Lebenslänglich mit anschließender Sicherheitsverwahrung.

2 Jahre später

Ralf saß in seiner Zelle, jeden Monat, jeden verdammten Monat, seit seiner Verurteilung, seit dem er rechtskräftig seine Strafe absitzt, jeden dieser verdammten Monate, erhielt er am 15.en eines jeden Monats einen Brief, jedes mal von einem anderen seiner Opfer. Jeder schrieb wie schlimm es war und dass Ralf dessen Leben zerstört hat und welche Auswirkungen es hatte… Es war für Ralf unfassbar schwer das alles zu fassen, zu lesen, es erschütterte ihn jedes mal. Aber er sah es fast schon als seine Pflicht an diese Briefe zu lesen – und nicht nur das, er antwortete jedem dieser seiner Schreiber und bat, flehte um Entschuldigung, die er nicht erwarten konnte, wieviele von diesen verdammten Briefen würden noch kommen, wieviel unfassbares Leid hatte er in seinem kümmerlichen Leben angerichtet…

Trost, ist den Opfern vorbehalten, den Unschuldigen

Ralf fielen die Seligpreisungen ein, selig sind eigentlich alle, nur die Täter nicht. Für Täter gibt es keinen Segen – nur Verdammnis.

Und so fürchtete Ralf das Leben, er war des Lebens müde, aber noch mehr fürchtete er den Tod…

Epilog

Wieder saß Markus in seinem Arbeitszimmer in seiner Wohnung. Die Detektei, die er, nach seinem Rachefeldzug, gegründet hatte lief sehr gut. Man schätzte Markus, wegen seiner pragmatischen Ansätze, seiner ruhigen Art und natürlich den Ergebnissen die er lieferte. Nein, Markus war nicht billig, aber er war gut, verdammt gut und das wussten seine Kunden und dafür waren sie auch bereit ein höheres Honorar zu zahlen.

Markus hatte leider immernoch nicht den Trost gefunden den er sich von seiner Rache erhofft hatte. Es war gut zu wissen, dass alle noch lebenden Opfer sich abgesprochen haben wann wer den nächsten Brief abschicken würde, und das Ralf auch keine Ruhe finden konnte.

Markus hatte mal diese oder jene Affäre, aber eine echte Beziehung – das wollte ihm immernoch nicht gelingen. Keine Therapie konnte ihm helfen – denn letztlich, und das war Markus auch klar, konnte letztlich nur er sich selbst helfen.

Die Zeit heilt alle Wunden heißt es. Das mag wohl sein, doch zurück bleiben Narben, große oder kleine Narben, und es sind die großen Narben, die zwar die Wunden und Blutungen stillten und verschlossen, aber doch immer wieder aufreißen, pochend um pulsierend ihren Schmerz kundzutun.

Also blieb Markus nur das Eine, im Wissen, dass sich seine und die Welt da draußen weiterdrehen würde, ein weiteres Glas Whiskey einzuschenken um seine Narben nicht etwa zu heilen, und auch nicht den Schmerz zu lindern, sondern, um den fortwährenden Gedankenstrom, der dunkel in seinem Geist strömte, ununterbrochen strömte, zu verlangsamen. Seinen Geist zu betäuben, taub zu machen vor den nicht aufhören wollenden Stimmen, die ihm immer wieder zuriefen, was für ein armseliges Leben er lebte.

Eines Tages, und es wird nicht lange dauern müssen, wird auch Markus in seinen Gedanken den Frieden finden, nachdem er sich so sehr sehnt.

2 thoughts on “5 Tage

  1. Moin Dietrich,

    eine tolle Geschichte die du dir für den Wettbewerb ausgedacht hast.

    Kommentare sind so wichtig und deswegen möchte ich der erste sein, der dir einen schenkt.

    PUH, hartes Thema! Kindesmissbrauch bei Schutzbefohlenen. Ich muss gestehen, wenn ich so etwas lese, möchte ich das es ganz schnell vorbei ist mit dem Kerl. Das Thema ist sehr aktuell und allgegenwärtig.

    Du hast es geschafft damit eine tolle Geschichte zu erzählen. Dein Schreibstil wirkte auf mich unaufgeregt und locker. Es gab schwache Momente, aber auch richtig gute Momente so wie das hier:

    „Die Zeit heilt alle Wunden heißt es. Das mag wohl sein, doch zurück bleiben Narben, große oder kleine Narben, und es sind die großen Narben, die zwar die Wunden und Blutungen stillten und verschlossen, aber doch immer wieder aufreißen, pochend um pulsierend ihren Schmerz kundzutun.“

    Das ist wunderbar geschrieben. Bitte mehr davon. Deine erste Geschichte?

    Deinen Epilog hätte die Geschichte gar nicht gebraucht. Mit dem einliefern ins Gefängnis oder das beenden der Video Konferenz, hättest du den Leser mit ein paar Fragen zurück lassen können, so wie für Kurzgeschichten üblich. Nicht alles muß erklärt werden. Fragen, starten das eigene Kopfkino.

    Für den Mut an diesem Wettbewerb teilgenommen zu haben und dafür das du deine Geschichte mit uns geteilt hast, erhältst du von mir ein Like und ich wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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