autorin225 Tage

Tag 1

Nein. NEIN! Wie war das möglich? Schlagartig fühlte sich das Smartphone in ihrer Hand wie ein Eisblock an, ein tonnenschwerer Eisblock, der drohte, sie jeden Moment zu zermalmen. Obwohl ihr das Workout wie immer ordentlich eingeheizt hatte, kroch lähmende Kälte durch ihren Körper und ein leichtes Zittern signalisierte ihr, dass sie sich besser schnell auf die schmale Holzbank neben ihrem Spind setzen sollte. Diese Augen, dieses Lächeln! Mark war tot, seit drei Jahren schon. Wie kam sein Bild auf dieses Smartphone, und auch noch ausgerechnet als Hintergrund? Im warmen, gedimmten Licht der Umkleide erhellte es ihr Gesicht, wie eine übernatürliche Erscheinung aus dem Jenseits, die aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht war, halb Trugbild, halb Erinnerung. Dabei war es ihr erst vor wenigen Monaten gelungen, mit dem Kapitel Mark abzuschließen. Mark, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben in den aufregendsten Städten und an den schönsten Stränden der Welt ausgemalt hatte. Ihre große Liebe, die so unerwartet wie endgültig aus ihrem Leben verschwunden war und nur eine große, kalte, schmerzhafte Leere hinterlassen hatte.

Während sich das Bild in ihre Netzhaut und Gedanken brannte, scannte sie jedes einzelne Pixel. Neben den Standard-Icons des Smartphones gab es dort einen Ordner, direkt auf Marks Wange. Und er trug ihren Namen. Wie ferngesteuert berührte sie das Icon. Bilddateien. 10, 20, so genau konnte sie das auf den ersten Blick nicht erkennen. Die Kälte, die von ihr Besitz genommen hatte, ließ ihre Finger beinahe steif werden. Schockgefrostet, dachte sie, als sie das erste Bild zum Vergrößern antippte. Wieder Mark, lächelnd, auf dem Wochenmarkt. Moment, er hasste Märkte, niemals hätte er freiwillig einen besucht! Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. War das ein schräger Witz? Spielte ihr hier irgendjemand einen makabren Streich? Auf der Suche nach Antworten studierte Jenny das Bild. Eindeutig, der Wochenmarkt. Neben Mark ihr Lieblings-Obststand, dahinter der Gemüsestand und der kleine Stand mit den Bio-Eiern direkt vom Bauernhof. Und sie. Ihr Herz setzt aus, eine Sekunde, zwei, eine kleine Ewigkeit. Wie kam sie auf dieses Bild? Und Mark? Auf dieses Smartphone? Und wie kam das hierher, ausgerechnet? Schwindel erfasste sie, sie schloss die Augen, lehnte sich an ihren Spind, das Smartphone umklammert.

„Jenny? Hey, alles in Ordnung? Brauchst du was?“

Die Stimme ihrer Trainerin zwang sie, ihre Augen zu öffnen.

„Was ist los? Du bist ja leichenblass! War’s zu intensiv heute?“

„Könnte man so sagen“, flüsterte Jenny. „Alles in Ordnung, keine Sorge. Ich trink’ was, dann bin ich sicher gleich wieder fit.“

„Sicher? Ich kann dich nach Hause bringen, wenn du magst. Ist kein Problem, ich wohn’ ja in der Nähe. Wirklich alles o.k.?“

Den besorgen Blicken ihrer Trainerin ausweichend stand Jenny auf, eine Absage murmelnd. So schnell es ihre steifen Finger erlaubten, zog sie sich um. Nur raus aus dieser Umkleide. Aus dem Studio. Frische Luft, ja, das brauchte sie jetzt! Nur ein paar Meter, dann rein ins Auto und die Scheibe runter. Mit einem tiefen Atemzug sank Jenny in den Fahrersitz. Das Bild. Mark. Sie, im Hintergrund. Das alles ergab keinen Sinn. Ihre noch immer klammen Finger tasteten nach dem fremden Smartphone, das einfach so vor ihrem Spind gelegen hatte und das sie beim Umziehen eilig in ihre Jackentasche hatte gleiten lassen. Kein Code nötig, ein kleines Tippen und da war es wieder, das schmerzhaft-schöne Mark-Lächeln. Der Ordner hatte mehrere Bilddateien enthalten, oder? Unruhe erfasste sie, als sie das Icon erneut berührte. Unbenannte Bilddateien. Sie öffnete die zweite Datei. Ein Selfi von Mark, lächelnd, am Fluss. Und sie im Hintergrund. Nein! Was sollte das! Nächstes Bild. Ein Mark-Selfie, diesmal in einer Bar. Im Hintergrund sie. Nächstes Bild: Dasselbe, Mark im Vordergrund, sie im Hintergrund. Nächstes Bild! Nächstes! NÄCHSTES! Der Bildschirm leuchtete auf. Was war das? Hatte das Ding jetzt ein Eigenleben? Mit rasendem Herzen schloss Jenny den Ordner, der ihren Namen trug. Sie SOLLTE diese Bilder sehen, so viel war klar. Auch ohne Journalisten-Ausbildung hätte sie diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Das Nachrichten-Icon. Eine neue Nachricht. Irgendjemand spielte hier ein Spiel, das ihr ganz und gar nicht gefiel. Vielleicht erfuhr sie jetzt zumindest die Spielregeln? Die Nachricht war knapp. Ein Bild von ihr, in der Umkleide, vor ein paar Minuten aufgenommen. Darunter ein Text. 5 Tage. War das eine Drohung? Eine Warnung? Ihre Gedanken rasten so schnell wie ihr Puls. Warum? Wer? Was sollte das? Sie musste nach Hause. Weg hier, wo sie von irgendjemandem beobachtet wurde, verfolgt, bedroht. Nur weg! Sie gab Gas, fuhr viel zu schnell, scheiß auf den Blitzer, nur nach Hause. Lisa würde sie später anrufen und ihr absagen. Ihre beste Freundin war zwar immer und jederzeit für sie da, aber das hier, DAS HIER, das musste sie erstmal selbst verstehen.

Tag 2

Jenny gähnte. Den ganzen Abend, die halbe Nacht hatte sie sich das Hirn zermartert. Was hatte es mit diesen Fotos und dieser seltsamen Nachricht auf sich? Dass all das vielleicht wirklich mit Mark zu tun hatte, war ihr klar geworden, als ihr Blick den Kalender in der Küche gestreift hatte. Irgendwann zwischen dem zweiten und dritten Glas Wein, irgendwann nach Mitternacht. Marks Geburtstag. Gestern war Marks Geburtstag. Seinen 30. hätte er sicher groß gefeiert, Geburtstage liebte er, wie ein Kind. Besonders seine eigenen. Dass er ihn nicht mehr erlebte, hatte er selbst so entschieden. Noch immer krampfte es Jenny Herz und Magen zusammen, wenn sie daran dachte, wie sie Mark gefunden hatte, an einem Kabel von der Decke baumelnd, wie eine makabre Marionette. Auch wenn es seine Entscheidung gewesen war, hatte sie doch dazu beigetragen. Schließlich war sie es… Schluss! Keine Schuldgefühle, nicht heute. Der Tag gestern war seltsam genug gewesen. Das letzte, was sie jetzt brauchte, war die Erinnerung daran, wie sie ihre große Liebe unwissentlich in den Freitod getrieben hatte.

Das Vibrieren ihres Smartphones riss Jenny aus ihren Gedanken. Sicher war das Lisa, die unbedingt wissen wollte, was gestern so viel wichtiger als sie gewesen war. Lächelnd fischte sie das Gerät aus ihrer Tasche. Eine Nachricht, unbekannte Mobilfunknummer. Vielleicht irgendjemand, der sie wegen ihrer neuesten Recherche kontaktierte? Fotos. Fünf Fotos. Sie beim Verlassen ihres Hauses. Sie bei ihrem Lieblings-Barista. Sie in der S-Bahn, auf der Straße, durchs Fenster im Büro. Ein Stalker? Der Text darunter ließ keinen Zweifel. 4 Tage. Wer immer ihr gestern diesen üblen Scherz mit dem Smartphone gespielt hatte, meinte es ernst. Und traute sich heute einen Schritt weiter. Was war der nächste Schritt? Was passierte in vier Tagen? Jenny versuchte, die Angst herunterzuschlucken. Schaute sich im menschenleeren Büro um. Spähte unsicher aus dem Fenster auf die Straße. Lisa. Ich mach hier Schluss und ruf’ Lisa an. Mit rasendem Puls schnappte sie ihre Sachen und stürmte aus dem Büro.

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