alexa.autorinAllein, ganz allein.

Allein, ganz allein.

 

»Haben Sie was?«, hört er seinen Kollegen aus einem anderen Zimmer rufen. Er verneint. Der Fotoapparat in seinen Händen ist alt. Er lag auf einer Truhe. Möglicherweise könnten sich auf dieser Kamera entscheidende Hinweise befinden. Hinweise zu dem Fall. Als er den Apparat einschaltet, ist alles plötzlich ganz verschwommen. Verpixelt wie sein Leben. Die Linse scheint kaputt zu sein, doch was ihn interessiert, ist, ob sich auf der Speicherkarte Aufnahmen befinden. Der Polizist drückt den entsprechenden Knopf, doch was er sieht, ist schlimmer als jedes Szenario, das er jemals ansehen musste.

»Ganz allein, ganz, ganz allein«, flüstert er. Sein Atem ist schwer, Schweißperlen rinnen über seine Stirn. Immer und immer wieder sagt er sich selbst dieselben zwei Worte. »Ganz allein.«

Er starrt auf das Bild. Die Kamera riecht rauchig, so, wie es damals gerochen hatte.

»Ganz allein«, sagt er abermals, diesmal etwas lauter, aber noch immer kaum hörbar.

Fremdes Blut hatte seine Hände gezeichnet, fremde Zeit zeichnete seine Strafe.

»Ist alles gut bei Ihnen?«, hört er die Stimme seines Kollegen.

»Ich -«, beginnt er, doch sein Gewissen hält ihn vor der sofortigen Vollendung seines Satzes ab. »Ja«, bringt er schließlich hervor und lässt den Fotoapparat in einen der Beutel sinken, die er mit sich hat. »Alles ist in bester Ordnung.«

Er entfernt sich einige Schritte von dem anderen Mann. Vor seinem inneren Auge sieht er konstant das Bild. Er.

In Gedanken versunken schlendert er durch das Haus, ohne auch nur darauf zu achten, Indizien für den Mord zu sichtigen. Sie würden keine finden. Ihm ist klar, in welchem Fall er aushelfen sollte. Er weiß jetzt, dass sie nichts übersehen, dass nichts hier ist, was den Täter überführt.

»Ganz allein«, flüstert er noch einmal, bevor er zu seinem Kollegen geht. »Es ist sinnlos«, sagt er. »Wir sollten aufbrechen.«

Der Kommissar nickt bloß stumm. Sie machen sich auf den Weg zum Polizeiwagen und unterdessen sein Kollege sich während der Fahrt zum Revier darüber auslässt, dass sie keinen Schritt weiter sind, schweigt er. Sein Kopf spricht immer und immer wieder stumm dieselben zwei Worte. Worte, die ihn nachts wachhalten und die ihn am Tage überwältigen.

Als sie auf der Wache ankommen wagt er nicht, zu sprechen. Den Fotoapparat immer bei sich tragend betritt er mit weichen Knien das Gebäude, in dem man sich sicherer fühlen sollte als überall sonst. Zwischen Gitterstäben und dicken Wänden sitzen die, die die Welt unsicher machen und er, der vermeintlich Gute, steht genau zwischen diesen Menschen.

»Guten Morgen«, begrüßt eine Dame ihn. Er kennt sie nicht, sie scheint neu zu sein. Er zuckt zusammen, hat sie ihn doch aus seinen Gedanken gerissen. Er nickt ihr kurz aufmerksam zu, bevor er weiter geht.

Er spürt, wie Blut an seiner linken Schläfe entlang rinnt, doch als er es wegzuwischen versucht, ist dort nichts. Nicht schon wieder, fleht er in seinen Gedanken. Plötzlich fällt ihm das Atmen unglaublich schwer. Er muss sich stützen, irgendwo, irgendwie, schaut um sich. Sieht eine Bank, auf der die Häftlinge sitzen, bevor er sie in die Zellen führt. Er, der – nein.

Langsam geht er zu den Räumen, in denen er die Gefangenen verhört, setzt sich auf seine Seite, auf die der Guten. Er lässt sich in seinen Sessel sinken, tief, noch tiefer. Sackt in sich zusammen und verliert seine Haltung. Mit jedem Millimeter kommt sein Doppelkinn immer deutlicher zum Vorschein. Sein zweites Kinn, sein zweites Gesicht.

Er nimmt den Fotoapparat aus der Plastiktüte und schaltet ihn einmal mehr an. Wieder offenbart sich ihm dasselbe Bild. Das Bild, darauf er. Er und ein Messer, er und Blut. Dass die Leute von seiner Wache die Aufnahmen nicht gesehen hatten – oder haben sie sie gesehen? Wurde ein Spiel mit ihm gespielt?

Plötzlich hört er ein Knacken hinter sich. Dreht sich blitzschnell herum, atmet auf, besinnt sich allerdings schnell darauf, dass es Einbildung war. Er tupft sich mit einem Taschentuch, das auf dem Schreibtisch liegt, den Schweiß von der Stirn. Die Feuchtigkeit auf dem Tempo scheint sich rot zu färben, denn auf einmal ist dort Blut. Ein metallischer Geruch steigt in seine Nase und auf seine Lippen legt sich ein Geschmack von Eisen. Plötzlich werden seine Fingerkuppen feucht und er spürt, dass er in einer Hand etwas hält. Etwas wie einen Stab, schwer und kalt, doch es ist ein Messer. Plötzlich weiß er, dass er da einen Dolch in seiner Obhut hat.

»Ganz allein«, flüstert er. »Ganz, ganz allein.«

Er richtet sich auf, schaut um sich, ob irgendwo jemand ist. Fest umklammert er die Waffe in seiner Hand und geht langsam hinaus aus dem Zimmer, auf den Gang, läuft zu den Zellen. »Sieben, ganz allein.« Seine Stimme zittert ein wenig. Sie ist rau und kratzig. »Ganz allein«, wiederholt er noch einmal, als er vor der Zimmertüre mit der Nummer sieben angekommen ist. Er schaut nicht hinunter auf seine Hände, streichelt blind die scharfe Klinge des Messers, spürt nicht, wie sie in seinen Finger schneidet, denn er ist taub. Der Schmerz an seiner Schläfe, aus der unablässig Blut rinnt, lässt alle anderen Wahrnehmungen verschwinden, sie zu kleinen, unbedeutenden Existenzen inmitten seiner Realität werden.

Sein Doppelkinn ist verschwunden, als er die Klinke langsam nach unten drückt. Der Fotoapparat baumelt um seinen Hals, als er die Türe nach innen öffnet. Er fährt einmal mit seiner Zunge über seine Lippen, um das Blut von ihnen zu lecken.

»Guten Abend, Sir«, hört er die verächtliche Stimme des Häftlings aus dem Inneren des Raumes dringen. Wie in Trance dringt er in sein Revier ein.

»Guten Abend«, antwortet er. Er weiß, wer vor ihm sitzt, doch wagt nicht, aufzusehen. Er weiß, dass dieser Mann nun seit Wochen in dieser Zelle schmort. Dass diesem Mann der Fotoapparat gehört.

Das Blut rinnt langsam über seine Wangen, es hüllt sein ganzes Gesicht in einen roten Schleier.

»Sie kommen allein.« Die Stimme des Häftlings ist kristallklar.

»Allein, ganz allein«, sagt er selbst leise und schließt die Türe hinter sich.

»Ja.« Der Mann ihm gegenüber ist kalt. Er zeigt keine Emotionen, keine Reue, nicht einmal Schadenfreude.

Er erkennt schon an der Stimme, dass es dem Sträfling nicht leidtut. Er bezahlt für seine Tat.

Er streichelt noch einmal über die scharfen Kanten des Dolchs in seiner Hand, presst die Klinge in das Fleisch seiner Finger und ist noch immer nicht fähig, den erlösenden Schmerz, der ihn aus seiner Trance befreien könnte, zu spüren.

»Sie sind allein. Ganz allein.« Der Häftling räuspert sich. Der Polizist wusste, dass er auf den Fotoapparat um seinen Hals blickte, während er diese Worte aussprach.

»Nein!«, schreit er auf einmal, als er realisiert, was diese Worte zu bedeuten haben. »Justus!« Er brüllt den Namen seines Mannes, ehe er versucht, sich seinen Dolch ins Herz zu rammen. Doch wo ist er hin? Wo ist dieser Dolch?

»Nein!«, schreit er noch einmal. Macht auf dem Absatz kehrt und rennt nach draußen, stürmt durch sein Revier.

 Mit schnellen Schritten, um seines Aussehens wegen keine Aufruhe zu erzeugen, verlässt er das Gebäude. Geht die wenigen Meter zu sich nach Hause, er lebt nicht weit entfernt von der Wache. Reißt die Tür auf und ruft nach seinem Ehemann. Er ruft, schreit, doch bekommt keine Antwort.

»Wo bist du?«, brüllt er verzweifelt in die Leere. »Wo bist du hin?«

Er poltert die Treppe hinauf, stürmt über den Flur bis hin zum Badezimmer, reißt den Vorhang der Badewanne auf.

Seine Eifersucht hatte ihn betäubt, ihn bis heute in Trance versetzt, doch wie sollte er ein Leben leben, in dem er durch diesen Schmerz wieder zu Gefühlen verdammt war?

Er sieht Blut, er riecht Blut, doch halluziniert er noch, oder ist es real?

»Justus!«, schreit er und rüttelt an dem Körper, der da vor ihm in der Badewanne liegt. Die Gedärme seines Mannes quillen aus dessen Körper heraus. Das Blut ist überall. Tränen brennen in seinen Augen, Schweiß auf seiner Haut. Es ist dasselbe Szenario wie das, das auf dem Fotoapparat um seinen Hals abgelichtet wurde. Nur, dass diesmal nicht er der Mörder ist. Das war er nur damals, damals, als er davonkam. Damals, als es als Gattenmord gegolten hatte, da man hierfür einige Hinweise hatte finden können. Damals, als er sich so sehr gewünscht hatte, nicht er selbst sein zu müssen, jemand anders zu sein. Und dann doch glücklich gewesen war, in seiner scheinbar unschuldigen Haut zu stecken.

Mit einem schwarzen, dicken Stift ist etwas auf den Oberkörper seines Mannes geschrieben:

»Allein. Nun sind auch Sie allein, ganz allein, Sir.«

Darunter eine große Sieben.

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