Benjamin-FindeisenOlivia

Olivia öffnet Ihre Augen. Das Rattern der Züge der S-Bahn Berlin haben Sie einschlafen lassen. Außerhalb des Zuges ist es dunkel geworden. Sie schaut auf die Uhr und stellt fest, dass es bereits kurz nach Mitternacht ist. „S41 – Nächste Station: Westhafen“. Zwei Wochen ist es inzwischen her, dass sie aus dem Gefängnis entlassen wurde. Olivia hat ihr Leben noch nicht im Griff, frühere Freunde lassen sie nicht bei sich wohnen. Sie bezieht den Regelbedarf von Arbeitslosengeld II und schläft seitdem nachts fast täglich in den S-Bahn- und Tramzügen. Am heutigen Samstag hat sie sich die Ringbahn ausgewählt, da diese die ganze Nacht durchfährt. So kann sie ziellos im Kreis fahren und dann aussteigen, wenn sie möchte. Sie fühlt sich frei, der einzige Luxus in ihrem Leben. Die Chance auf etwas Besseres hat sie sich selbst verbaut. Das moderne Smartphone in ihrer Tasche hat sie von einer Freundin bekommen, welche sie im Gefängnis kennengelernt hat. Sie ist einen Monat vor ihr entlassen worden und heißt Michelle. Olivia zieht das Telefon aus ihrer Tasche und beginnt die sozialen Netzwerke durchzuscrollen. „Nur 14 Follower, mein Leben ist Dreck“, sagt sie vor sich hin.

„S41 – Nächste Station: Wedding“, tönt es durch den nicht gut gefüllten Zug, als das Licht ausfällt. Olivia schaut erschrocken um sich, als suche sie einen Lichtschalter oder wenigstens einen Schuldigen, der das Licht ausgemacht hat. Auch die anderen Fahrgäste waren kurz erschrocken, haben sich aber schnell an die neue Situation gewöhnt. Sie lehnt sich wieder an Ihren Sitz und hört ein Brummen. „Was ist das?“, denkt sie und schaut sich erneut um. „Da leuchtet was.“ Olivia steht von ihrem Sitz auf und blickt in den Waggon. Keiner der anderen Fahrgäste bemerkt das Brummen und das Leuchten. Sie geht zu dem Doppelsitz gegenüber und nimmt sich das Handy, das unter der Bank leuchtet und vibriert. „Nummer unbekannt“. Sie überwindet sich und geht ran, vielleicht kann sie eine gute Tat begehen, in dem sie dem Anrufer verkündet, dass Sie das Handy gefunden hat.
„Hallo?“, fragt sie in den Hörer. Man hört nur ein Knacken, ein Atmen und der Anrufer legt auf. Sie wiederholt ihr „Hallo?“, während das erste Mal das Besetzt-Zeichen ertönt und sie versteht, dass der Anrufer das Gespräch beendet hat. Sie nimmt das Handy vom Ohr und schaut es sich an. Es hat sich automatisch nach diesem Anruf entsperrt. Während sie das Menü durchschaut, stellt sie fest, dass nur ganz wenige Apps installiert sind.
Nach einem kurzen Moment hält sie inne, starrt auf den Bildschirm und pfeffert das Handy mit einem spitzen Schrei auf den Sitz ihr gegenüber. Sie sitzt da wie betäubt, zittert am ganzen Körper und schaut nochmal vorsichtig nach links, ob jemand diese Szene beobachtet hat. Wie paralysiert kann sie sich nicht bewegen und schaut auf das stumme Handy ihr gegenüber. „Das kann doch nicht sein“, sagt sie leise.

Es dauert wenige Minuten bis sie ihre Gedanken sortieren kann. Ein Mann kommt zu ihrer Sitzgruppe, schaut sie an und sagt: „Darf ich da sitzen oder ist der Platz für Ihr Handy reserviert?“
„Nein, nein, setzen Sie sich.“
Er übergibt ihr das Handy und sie drückt auf die Taste an der Seite. In diesem Moment erleuchtet das Handy und der Sperrbildschirm zeigt sich. Sie wischt über das Display und entsperrt damit das ungesicherte Smartphone. In diesem Moment erblickt sie erneut das Hintergrundbild. Man sieht die junge Frau, blond, schlank und gerade auf dem eigenen 18. Geburtstag. Daneben eine Freundin, welche zu der Feier eingeladen ist. Das Foto zeigt Olivia selbst und neben ihr Sarah, ihre Freundin, die diese Nacht aufgrund einer Überdosis Kokain nicht überlebt hat. Die beiden Freundinnen bilden mit den Fingern ein Herz, welches sie in die Polaroidkamera richten. Das Lachen der beiden wirkt unbeschwert und angeheitert.
Sie starrt das Foto regelrecht an. Es wurde abfotografiert. Vor elf Jahren gab es zwar bereits Handykameras, allerdings wurden auf dieser 90er-Jahre-Motto-Party Kameras benutzt, welche die Bilder direkt nach dem geschossenen Foto ausdrucken.

Olivia steigt an der Haltestelle „Landsberger Allee“ aus. Hier kennt sie sich aus, früher hat sie in unmittelbarer Nähe gewohnt, bevor sie aufgrund des Totschlags an ihrer Freundin und den Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz nach Jugendstrafrecht zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Sie hat das Handy weiterhin bei sich, während sie die Storkower Straße überquert und mit den zehn Euro in der Tasche zu dem Burger Laden an der Ecke geht. An der Theke bestellt sie einen Kaffee und einen Cheeseburger und nimmt in der hinteren Ecke Platz. So kann keiner aus dem Restaurant auf ihr Handy blicken, während sie die Fotogalerie öffnet und beginnt die Fotos durchzuscrollen.

„28“, sagt sie. Das ist die Anzahl der Fotos, welche in dem Ordner mit dem Titel „Kamera“ sind. Mit einem Klick auf diesen Ordner wird der Inhalt offenbart.

„Ich muss Michelle anrufen“, sagt sie sich. Sie nimmt ihr eigenes Handy, sucht den entsprechenden Kontakt aus und es beginnt zu wählen. Nach vier Rufzeichen hört man die verschlafene Frau ans Telefon gehen.
„Hey Süße, was gibt es?“
„Ich habe dir doch erzählt, warum ich im Knast gewesen bin.“
„Ja und?“
„Ich habe ein Telefon gefunden mit einem Bild von Sarah und mir als Hintergrundbild.“
„Bitte – was?“
„Und nicht nur das. In der Galerie sind 28 Fotos. Alle sind von mir aus den letzten beiden Wochen. Das erste Foto zeigt mich, wie ich aus dem Gefängnis komme und das letzte zeigt mich, wie ich heute in die Ringbahn steige bevor ich da drin eingeschlafen bin.“
„Hast du noch was gefunden?“
„Nein, es gab einen Anruf mit unterdrückter Nummer und sonst keine Kontakte, keine Nachrichten und kaum Apps.“
„Hast du den Anruf entgegengenommen?“
„Ja, da war nur ein Knacken und ein Atmen.“
„Willst du zu mir kommen? Da bist du erstmal sicher. Wo bist du denn jetzt eigentlich?“
„BK Landsberger Allee.“
„Na dann, ab in die M6, in 30 Minuten bist du bei mir. Ich bleibe so lange wach.“
„Danke Hase.“
„Pass auf dich auf.“
„Das sowieso.“

 

 

Es klingelt an der Tür von Michelle.
„Kannst hochkommen.“
Das Surren der elektrischen Türöffnung ertönt und sie beginnt in die zweite Etage zu gehen. Michelle trägt einen Bademantel. Sie ist etwas älter als Olivia, hat brünette Haare und Solarium-gebräunte Haut und French-Nails.
Sie umarmen sich zur Begrüßung. Olivia schaut, bevor sie die Tür schließt, noch einmal ins Treppenhaus.

„Hey Olivia, ich hab das alles überdacht. Du hast mir erzählt, dass du damals deine Freundin mit der Überdosis getötet hast. Sie war damals wie alt?“
„17! Drei Wochen vor ihrem 18. Geburtstag“, sagt Olivia.
„Und sie hatte doch einen Freund.“
„Ja, Phil. Sie waren seit einem halben Jahr zusammen und er hat ihr und mir dazu geraten, keine Drogen zu nehmen. Aber wir waren jung und der Stoff war bereits für die Feier gekauft. Sie wollte dann nicht mehr wegen Phil, da hab ich es ihr in den Drink gemacht. Leider zu viel. Sie wurde dadurch nicht locker. Sie fiel zu Boden und der Schaum trat ihr aus dem Mund. Phil war gerade auf der Toilette und als er wieder kam, lag sie auf dem Boden. Er hat sofort den Notarzt und die Polizei gerufen. Der Notarzt stellte den Tod fest und die Polizei hat mich direkt festgenommen.“
„Könnte es Phil sein, der dich nun verfolgt?“
„Ich weiß es nicht. Ich denke nicht. Der ist glaub ich weggezogen.“
„Kann ich die Fotos mal sehen?“
„Klar, hier.“

Sie schauen sich gemeinsam die Fotos an.
„Ist dir denn in den letzten beiden Wochen irgendjemand aufgefallen, der dich verfolgt haben könnte?“
„In einer Stadt wie Berlin? Wo täglich tausende Menschen auf der Straße unterwegs sind? Ganz sicher nicht.“
„Am besten wir schlafen darüber und denken morgen früh über weitere Schritte nach.“
Olivia nickt den Vorschlag ab, Michelle zeigt auf das Sofa, gibt ihr ein Kissen und eine Sofadecke und geht zurück ins Schlafzimmer. Die Gedanken im Kopf lassen Olivia zuerst nicht einschlafen und dann später im Traum verarbeitet sie die Zugfahrt und den ersten Blick auf das Handy. Mit dem Unterschied, dass im Traum nicht die lachende Sarah zu sehen war, sondern die tote Sarah mit dem Schaum, welchen sie mit den letzten Atemzügen ausgehustet hat.

„Guten Morgen, hier ein Kaffee für dich Olivia.“
Sie öffnet langsam die verschlafenen Augen. Olivia ist durchgeschwitzt und ihre Augen brennen.
„Du hast im Schlaf laut geschrien und geweint“, sagt Michelle.
„Wie spät ist es?“
„Gleich 12.“
„Danke für den Kaffee. Ich hatte furchtbare Träume.“

Michelle setzt sich mit einer Tasse Kaffee zu ihr.
„Und was willst du machen? Gehst du damit zur Polizei?“
„Nein erstmal nicht. Ich werde herauskriegen wo Phil wohnt oder wie ich ihn erreichen kann, dann werde ihn kontaktieren und ihm sagen, dass das Scheiße ist und ich die Strafe für damals abgesessen habe.“
„Und wenn er es nicht gewesen ist?“
„Wer dann?“
„Keine Ahnung Michelle. Aber hey, wieso hast du eigentlich im Gefängnis gesessen? Das wolltest du mir im Gefängnis ja nicht erzählen. Du wirkst doch sonst wie eine ehrliche Haut.“
„Rache. Das trifft es ganz gut. Ich habe einen Typen betäubt, entführt und dann gefoltert. Es war schwere Körperverletzung und Freiheitsberaubung, gab insgesamt 8 Jahre und 9 Monate.“
„Was ist denn vorher passiert?“
„Darüber möchte ich nicht mehr reden. Das war mein altes Leben.“
„Verstehe.“

Michelle stellt ihr zur Recherche den eigenen Laptop zur Verfügung. Olivia öffnet ein soziales Netzwerk, dessen Seite in dezentem Blau gehalten wird.
„Phil Jerokowski“ tippt sie in die Suchmaske ein. Michelle kommt dazu und schaut sich das Profil an, welches Olivia gerade geöffnet hat und fragt: „Ist er das?“
„Ja, das könnte er sein. Nun sehen wir mal, was du über dich preisgibst, Phil?“
Sie scrollt nach unten und stellt fest, dass der Wohnort sich vor einem Monat geändert hat.
„Er wohnt wieder in Berlin“, sagt Olivia aufgeregt.
Er hat kürzlich ein Album hinzugefügt mit dem Titel „Umzug nach Berlin“. Auf diesen Fotos sieht man auch eine Frau und ein Kind, welche beim Kistentragen helfen. Auf einem weiteren Foto sieht man, wie sie mit dem Umzugswagen am Ortsausgangsschild „Greifswald“ gehalten haben, um gemeinsam der Stadt und dem Einkaufszentrum im Bild ein letztes Mal zuzuwinken.
„Phil hat am 4. März begonnen hier zu arbeiten: Amt für Handysoftware“, sagt Michelle.
„Das ist der Grund, warum sie hierher gezogen sind. Er arbeitet wieder in Berlin.“
„Vielleicht bist du auch der Grund, Olivia. Er wusste, dass die Zeit im Knast rum ist und kommt, um sich zu rächen. Und ganz nebenbei, der kennt sich mit Handys aus. Die reparieren dein Handy innerhalb weniger Stunden und können sogar verlorene Software retten.“
„Er bringt seine ganze Familie dazu mit, um sich zu rächen? Egal, ich schreibe den an.“
„Das brauchst du nicht. Fahr einfach hin.“
„Wo wohnt er denn?“
„Schau dir das vorletzte Foto an, da stehen sie vor dem Haus, in welches sie wahrscheinlich eingezogen sind. Und ganz zufällig erkenne ich die Straße. Da hat ganz früher mein erster Freund Torben gewohnt. Das ist direkt am Eastgate.“
„Kommst du mit?“
„Nein, danke, will ins Solarium.“
„Dann nicht.“

Olivia trinkt ihren Kaffee aus, geht noch einmal zur Toilette, zieht ihren Mantel an und begibt sich auf den Weg zu Phil. Vor der Tür stellt sie fest, dass es ein ziemlich sonniger und warmer April-Sonntag ist und, dass der Mantel zu warm sein wird.

Mit der M6 benötigt sie nicht mal 20 Minuten und ist direkt am Eastgate. Das große Einkaufszentrum, welches im Dunkeln rot beleuchtet ist, war im Hintergrund auf dem Foto zu sehen. Michelle hat ihr die Straße notiert und sie versucht anhand einer App namens „Maps“ den Weg zu ihm zu finden. In diesem Moment klingelt das fremde Handy und eine SMS wird angezeigt. Auch hier ist wieder keine Nummer ersichtlich.
„Bist du mir auf der Spur? Ja? Dann komm und ich töte dich!“

Ihr läuft es eiskalt den Rücken herunter. Sie bekommt Gänsehaut und überlegt, ob es klug ist weitere Schritte in Richtung des Wohnhauses zu machen. Sie liest die SMS wieder und wieder. Sie versucht mit „Wer bist du?“ zu antworten, aber da keine Nummer mitgesendet wurde, kann die SMS keinem Empfänger zugeordnet und demnach auch nicht zugestellt werden.
An der Tür des Mietshauses mit der Nummer 13 angekommen, sucht sie am Klingelschild nach Jerokowski und wird fündig. An einer Klingel in der fünften Reihe von unten steht „Jerokowski/Meyer“. Das muss er sein.

„Hallo?“, meldet sich eine tiefe, männliche Stimme.
„Phil?“
„Ja. Wer ist da?“
„Olivia.“
„Wer?“
„Olivia. Die damalige Freundin von Sarah.“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen öffnet er die Tür des Mietshauses. Anhand der Anordnung auf dem Klingelschild geht sie davon aus, dass sie mit dem Fahrstuhl in die fünfte Etage fahren muss. Sie verlässt den Fahrstuhl und geht mit langsamen Schritten auf die bereits geöffnete Wohnungstür zu. Durch den geöffneten Spalt schaut ein dunkelhaariger Mann, welcher in den letzten zehn Jahren kaum gealtert zu sein scheint.
„Was willst du hier?“
„Mit dir sprechen. Ich glaube, du bist hinter mir her.“
„Ich bin was? Komm rein.“
Er schließt die Tür, entfernt die Kette und öffnet sie wieder. Olivia sieht, dass Phil ein Glasauge trägt, im Gegenzeug zu früher. Er bittet sie herein. In einem Raum, der direkt neben der Wohnungstür vom Flur abgeht, stehen noch befüllte Umzugskartons.
„Also was bin ich? Hinter dir her?“
„Ja, du hast das schon verstanden. Und du weißt das.“
„Dazu habe ich keine Zeit.“
Erst jetzt bemerkt Olivia, dass er eine Hand die ganze Zeit hinter dem Rücken hält.
„Was hast du da?“
„Ein Messer. Falls du mich auch versuchst zu töten wie Sarah damals. Ich habe jetzt eine Frau und ein Kind, wir sind glücklich, gerade nach Berlin gezogen und ich habe die ganze Woche beruflich im neuen Job zu tun.“
„Leg das Messer weg!“
„Vergiss es. Erst sagst du mir, was du hier willst.“
„Rein zufällig bist du genau zwei Wochen vor meiner Entlassung aus dem Gefängnis nach Berlin zurückgezogen und rein zufällig finde ich ein Handy in der S-Bahn mit einem Hintergrundbild von Sarah und mir auf der Feier damals. Der Fall liegt auf der Hand. Du willst dich an mir rächen. Deshalb legst du das Messer weg oder ich rufe die Polizei. Ich bereue meine Tat und habe sie abgesessen. Ich habe keine Ahnung, wie ich mein neues Leben beginnen soll und finde, dass ich die Chance darauf verdient habe.“
„Zeig mir das Handy.“
„Leg das Messer weg!“
„Zeig es mir!“, schreit er sie an und hebt das Messer vor ihre Augen. Sie greift in die Tasche und legt das Handy auf den Tisch. Er nimmt sich das Handy, entsperrt es und schaut sich das Bild an. Es schießen ihm direkt Tränen in die Augen.
„Meine Sarah.“ Er legt das Messer hinter sich auf die Küchenzeile und reißt sich ein Blatt von der Küchenrolle ab, um sich die Tränen wegzuwischen.
„Jetzt tu nicht so. Ich weiß, dass du dich rächen willst.“
Er versucht sich zu beruhigen, während er weiter das Handy anstarrt, die weiteren Inhalte anschaut, etwas tippt und beginnt mit brüchiger Stimme zu sprechen: „Du kommst hier vorbei, reißt mich aus meinem neuen Leben, wirfst mich in mein altes Leben, welches ich erst vor wenigen Jahren mit dem ersten Treffen meiner jetzigen Frau annähernd verarbeitet habe und hältst mir vor, dass ich mich an dir rächen will. Ja, ich bin damals durch die Hölle gegangen, erst die Trauer, dann die Wut und am Ende die Entführung, weil jemand dachte, dass ich es gewesen bin und es dir nur in die Schuhe geschoben habe. Alle Freunde haben damals gesagt, dass ich es gewesen sein muss und nicht du. Ich hätte ja von Beginn an einen schlechten Einfluss auf Sarah gehabt. Ich wollte sie von ihrer Drogenkarriere abbringen und ihr nicht dabei helfen, sich selbst zu zerstören.“
„Entführung?“
„Ja, einmal wurde ich niedergeschlagen und mit einem Sack auf dem Kopf in ein Auto verfrachtet. Als ich aufgewacht bin, roch es überall nach Benzin und Öl und ich dachte schon, dass man mich übergossen hat und mich anzünden will. Es muss eine Autowerkstatt gewesen sein. Jedenfalls hat man damals mit einer Rohrzange auf mich eingeschlagen. Mein Auge habe ich an diesem Tag verloren! Sieh es dir an! Immer wieder schrie jemand: ‚Gib zu, dass du Sarah getötet hast‘, allerdings hatte ich das nicht und gab es auch nicht zu. Die Entführung fand circa sechs Wochen nach der Partynacht statt. Ich dachte, man tötet mich da, aber das war mir egal. Nach ihrem Tod sah ich keinen Sinn mehr in meinem Leben. Ich habe nur erzählt, wie es wirklich war und irgendwann hörte ich die Schreie der Polizisten, welche mich dann letztlich auch befreit haben. Die Polizei muss zufällig in der Nähe gewesen sein oder ein Nachbar hat etwas gesagt. Als sie mich befreiten, sah ich nur, wie man jemanden auf den Rücksitz des Polizeiwagens drückte und die Tür hinter der Person schloss. Ich weiß bis heute nicht, wer es war. Ich habe keine Anzeige erstattet, habe meinen Kram eingepackt und bin abgehauen. Erst zu einem Freund nach Greifswald. Wo ich ein neues Leben aufbauen wollte. Und nun schlägt es mich beruflich hierhin zurück und ich werde direkt mit dieser Geschichte von früher konfrontiert. Olivia, schreib dir das jetzt auf. Ich war es nicht.“
Sie sieht ihn in diesem Moment an. Sie spürt, dass er sich das nicht auf die Schnelle ausgedacht haben kann.
„Geh jetzt bitte und lass mich in Ruhe.“

Olivia steht vor dem Haus, aus welchem sie gerade herausgetreten ist und will Michelle anrufen. Als plötzlich das fremde Handy erneut eine SMS empfängt: „Hinter dem Kaufpark Eiche bei den Garagen, 15 Uhr. Nur du und ich. Komm und stirb!“

Wieder beginnt sie zu zittern. Sie denkt in diesem Moment das erste Mal darüber nach einfach abzuhauen.
„Ich stelle mich der Situation, für Sarah“, sagt sie zu sich.
Michelle ist telefonisch nicht erreichbar und daher schreibt sie ihr eine SMS, in der sie erklärt, dass es Phil sicherlich nicht war und der Tatsache, dass sie 15 Uhr alleine zum Showdown kommen soll. Ihre letzten Worte der SMS sind: „Ich tue das für Sarah.“

Die Zeit vergeht nur sehr langsam während sie den Weg vom Eastgate zu Fuß zum Kaufpark antritt. Sie hat zwei Stunden Zeit bis sie da sein soll und benötigt für den Weg maximal eine Stunde. Aus diesem Grund setzt sie sich auf eine Parkbank und durchforstet ihr eigenes Handy nach Kontakten und sichtet die 14 Follower, wer ihr helfen könnte oder noch besser, wer ihr schaden wollen würde.
Sie kann diesen Sachverhalt aber nicht anhand dieser Personen lösen.

Es ist genau 15 Uhr als sie vor den sechs Reihen von riesigen Garagen steht, die direkt hinter dem Kaufpark liegen. Während sie die Garagen der Reihe nach abläuft, wird sie von hinten gepackt, eine Tüte wird ihr über den Kopf gestülpt und sie wird in eine der Garagen gezerrt. Sie versucht zu schreien, aber jemand hält ihr den Mund zu. In diesem Augenblick hört sie wie das Garagentor heruntergelassen wird und es scheint kein Licht mehr durch die Tüte. Als sie ihr vom Kopf gerissen wird, müssen sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Es dauert maximal eine Minute, was sich für sie als Ewigkeit anfühlt, bis ihr jemand genau ins Gesicht leuchtet. Sie kneift ihre Augen zusammen und versucht jemanden zu erkennen, doch es gelingt ihr nicht. Sie ist zu sehr vom Licht geblendet.

„Da ist sie ja“, hört sie eine Stimme sagen. Sie kommt ihr bekannt vor, auch wenn diese verstellt wird. Als sie beginnt Umrisse zu erkennen, sieht sie eine maskierte Person vor sich sitzen. Die Beine sind übereinander geschlagen. Sie sitzt so nah an ihr dran, dass sich die Zehen berühren, dann erkennt sie, dass die Person eine Rohrzange in der Hand hat.

„Ich habe damals erfahren, dass du meine Schwester umgebracht hast. Heute sollst du dafür bezahlen.“
In diesem Moment holt die Person aus und schlägt ihr mit der Rohrzange gegen den Kopf. Da Olivia angebunden ist, kann sie nicht zu Boden gehen. Sie schreit dabei wie am Spieß. Sie spürt, wie aus einer klaffenden Wunde an der Schläfe Blut austritt und ihr über die Wange läuft.
„Keine Sorge, du stirbst bald. Zwei, drei Schläge und du sitzt tot auf diesem Stuhl.“

In diesem Moment schaltet der Angreifer wieder das Licht aus und Olivia hört das Zerdrücken von Plastik. Auf ihrem Schoß landet die Maske.
„Du musst mir schon ins Gesicht blicken, wenn ich dein Lebenslicht auslösche.“
Plötzlich startet der kleine Elektromotor des Tors und das Tageslicht beginnt die Garage zu fluten.
„Michelle!“ Als sie diesen Namen laut ausspricht, wird sie ein zweites Mal im Gesicht, dieses Mal auf den Kiefer getroffen. Olivia beginnt Blut zu spucken und dabei auch zwei Zähne.
„Wer denn sonst du Dummchen? Ich wurde damals eingeknastet, weil ich diesen Halbversager gefoltert habe und die mich dabei erwischt haben. Der Besitzer der Garage wohnte nebenan, sah meinen Lieferwagen auf seinem Hinterhof stehen und hat die Polizei gerufen. Klassischer Anfängerfehler. Dann hast du mir im Knast erzählt, dass du es warst und von da an hatte ich den Plan, mich an dir zu rächen. Allerdings erst nach dem Gefängnis. Ich begann dich zu verfolgen. Und da ich weiß, dass du am Wochenende häufig Ringbahn fährst, wusste ich, wo ich in deiner Nähe das Handy platzieren kann.“

Michelles Augen waren rot vor Wut, sie fixiert nur Olivia. Sie bemerkt dabei nicht, wie jemand von hinten an sie durch das offene Garagentor herantritt.

„Sag deine letzten Worte!“, befiehlt Michelle ihrer ehemals vertrauten Freundin.
In diesem Moment spürt Michelle wie die Spitze eines Messers langsam an ihren Nacken gedrückt wird.
„Tu das nicht“, sagte die männliche Stimme hinter ihr, die gerade aus dem eigenen Schatten heraustritt und nun auch für Olivia sichtbar wird.
„Phil!“, ruft Olivia erneut erstaunt. In diesem Moment holt Michelle ein drittes Mal aus. Phil tut genau das gleiche, ist jedoch schneller und sticht Michelle das Messer mit voller Wucht in den Rücken. Diese geht sofort zu Boden. Der letzte Schlag von ihr geht ins Leere.

„Ich rufe die Polizei“, sagt Phil.
„Wie hast du mich gefunden?“, will Olivia wissen.
„Amt für Handysoftware. Du hast mir das Handy in die Hand gedrückt, ich habe über unseren Browser eine geschützte Datei heruntergeladen, somit konnte ich dein Handy nicht nur tracken, sondern auch die SMS mitlesen. Zum Glück hat sie die Garagentür geöffnet. Deine Schreie habe ich gehört, allerdings wusste ich erst nicht wie ich reinkommen soll. Ich finde, dass du nun nach der verbüßten Strafe auch eine zweite Chance verdient hast.“

Wenige Minuten später fahren die Polizei und zwei Krankenwagen vor. Die verletzten Personen werden in die Krankenwagen gebracht, die Personalien werden noch am Ort des Geschehens aufgenommen. Als Phil den Polizisten die Lage erklärt, sagt der Ranghöhere: „Es war Notwehr. Keine weiteren Ermittlungen dazu. Notieren Sie das bitte.“

Die erste Krankenwagentür wird geschlossen, Olivia schaut raus und sieht Phil an. Der Fahrer will auch die zweite Tür schließen, während Phil ihren Blick erwidert und sagt: „Jetzt lässt du mich aber bitte wirklich in Ruhe.“

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