andreasarzAuf die gute alte Zeit

„Jaaaa, verdammte Scheiße!“ ,schrie Mino seine Freude heraus, als er auf die Tafel mit den abschließenden Börsenkursen blickte. Die Aktie seines Unternehmens war durch die Decke geschossen und er um einige Millionen reicher. Seine Angestellten um ihn herum jubelten lautstark und beklatschten ihren Boss. Champagnerkorken knallten, Zigarren wurden ausgepackt. Es dauerte nicht lange, bis der große Büroraum dem Epizentrum einer Orgie glich. Mino kostete jede Sekunde seines Erfolges aus, schließlich hatte er diese Klitsche, wie er sie anfangs nannte, binnen kürzester Zeit an die Spitze des Marktes katapultiert. Er war der Held der Stunde. Dieser Erfolg strahlte aus jeder Pore seines Körpers und ließ ihn unwiderstehlich erscheinen. Mit seinen 36 Jahren zählte er den Superstars der Branche.

Mit zwei Frauen im Arm entfernte er sich von dem feiernden Pulk und verzog sich in seine privaten Büroräume. Immer noch elektrisiert, fing er an, die beiden Mitarbeiterinnen leidenschaftlich zu verschlingen. Während er eine von ihnen auf seinen Schreibtisch schob und den Slip unter ihrem kurzen Rock wegriss, verkrallte sich die andere von hinten in Minos Hemd und riss es ihm vom Leib. Sie verschmolzen zu einem bebenden Vulkan aus purer Lust, der jeden Moment zu explodieren drohte. Genauso zelebrierte Mino seine Erfolge am liebsten. Er stand im Mittelpunkt, egal auf welchem Spielfeld.

Zwei Stunden waren vergangen; draußen auf den Gängen und im großen Büroraum lichtete sich das Mitarbeiterfeld. Viele hatten sich binnen kürzester Zeit in ihrer Feierlaune die Lichter mit Alkohol und Koks ausgeknipst, andere suchten schon vorher aus Selbstschutz das Weite. Mino hatte seine Privatparty mit seinen zwei Gespielinnen beendet, stand anschließend mit einer Zigarre und einem Glas Scotch in der Hand allein in seinem Büro und genoss den Augenblick. Diese Momente waren keine Seltenheit. Ständig begleitete ihn Erfolg in seinen Projekten, der nicht zuletzt seinem großen Ehrgeiz geschuldet war. Doch hier und heute, hatte er sein Meisterstück abgeliefert. Mit dieser Tatsache beweihräucherte er sich selbst über alle Maßen und sah sich als König der Welt.

Für ihn sollte der Tag jetzt auf dem Höhepunkt ebenfalls enden. Er nahm das Telefon und rief den Pförtner am Eingang an.

„Hier Keller! Rufen Sie umgehend den Limousinen Service an und bestellen Sie meinen Wagen für in 15 Minuten!“

Der Pförtner antwortete ehrfürchtig: „Natürlich Herr Keller, wird umgehend erledigt!“

Mino sammelte seine zerrupfte Kleidung vom Boden auf. Das Hemd war nicht mehr zu gebrauchen. Sämtliche Knöpfe abgerissen und lagen im Raum verstreut. Kein Problem für den Manager. Für solche Fälle hielt er Ersatzhemden in seinem Büroschrank bereit. Mino zog sich an und verließ sein Büro in Richtung Fahrstuhl. Er fuhr runter in den Eingangsbereich, wo der Pförtner den Firmenboss erwartete.

„Ihr Wagen ist bereits vorgefahren Herr Keller.“

Mino ging wortlos nickend an seinem Angestellten vorbei und verließ das Firmengebäude. In der Auffahrt wartete die Limousine und der Chauffeur hielt ihm die Tür auf.

„Guten Abend Herr Keller“ ,begrüßte er Mino standesgemäß höflich.

Dieser nickte kurz und stieg ins Auto ein. Der Fahrer schloss die Tür, begab sich auf die Fahrerseite.

„Wo soll es hingehen Herr Keller?“ ,fragte der den mittlerweile müden Mino.

„Bringen Sie mich nach Hause – ohne große Umwege!“ ,erwiderte er in gebieterischem Ton.

Dabei fuhr er die automatische Zwischenwand hoch, welche die Rückbank vom Fahrerbereich trennte. Dem Chauffeur war es nur allzu Recht. Mino ließ eine höfliche und respektvolle Behandlung seinen kleineren Angestellten gegenüber häufig vermissen. Der Fahrstuhl des Erfolges hatte ihn auf eine Ebene gebracht, wo dies aus seiner Sicht nicht mehr nötig war.

Der Fahrer setzte den Wagen in Bewegung. Dieser rollte langsam durch die Frankfurter Straßen. Es war mittlerweile dunkel, die Straßenlaternen an, und der Verkehr hatte sich gemäßigt. Die Aufregungen des Tages erweckten in Mino eine große Müdigkeit, nicht zuletzt durch die körperlich anstrengende Zusammenkunft mit zwei seiner Mitarbeiterinnen. Langsam fielen ihm die Augen zu und schon bald glitt er in einen leichten Dämmerschlaf ab.

Plötzlich bremste der Chauffeur scharf, da ein Mann über eine rote Fußgängerampel rannte. Mino wurde hinten in den Gurt geworfen und war sofort wieder hellwach.

„Was soll das?“ ,brüllte er zum Fahrer nach vorne.

Dieser entschuldigte sich umgehend, obwohl er für die Leichtfertigkeit des Fußgängers überhaupt nichts konnte.

„Es tut mir Leid Herr Keller, ein Mann ist plötzlich über die …“

„Ist mir vollkommen egal, fahren Sie weiter!“ ,unterbrach Mino seinen Fahrer.

Dieser schnaufte kurz durch und setzte die Fahrt fort. Während sich Mino auf dem Rücksitz wieder sortierte, fiel ihm ein Smartphone auf, welches durch das scharfe Bremsen vom Sitz in den Fußraum gefallen war. Er hatte es vorher nicht wahrgenommen. Mino beugte sich nach vorne, nahm es auf und schaute es interessiert an. Mit dem Finger wischte er über das Display, um es zu aktivieren. Sofort erhellte sich das Handy und zeigte die verschiedenen Apps auf dem Gerät an. Es war nicht durch ein Passwort gesichert. Mino klickte auf den Mailbutton. Eventuell bekommt er dadurch einen Hinweis auf den Besitzer, dachte er bei sich. Es war allerdings keine Mailadresse hinterlegt und somit keine Nachrichten. Der Kontaktspeicher war ebenfalls leer. Mino klickte sich weiter durch das Gerät. Er öffnete den Bilderspeicher. Dieser war voll von Fotos. Er wischte sich durch die Aufnahmen und begann amüsiert zu schmunzeln. Es waren Bilder von nackten Frauen in eindeutigen Posen. Das gefiel ihm. Der Besitzer des Telefons war offensichtlich genau nach seinem Geschmack. Je weiter er durch die Fotos wischte, wurden die Bilder obszöner. Die Frauen erschienen in ihrer Mimik nicht mehr so lustvoll und erotisch, eher verängstigt, fast panisch. Seine anfängliche Begeisterung für die Bilder schwand zunehmend. Ein Unbehagen erfüllte mehr und mehr seinen Gemütszustand. Er wischte weiter, obwohl er es mit der Angst zu tun bekam, aber er wollte wissen, was folgte. Diese Gewissheit sollte auf den nächsten Bildern folgen und in ihm blankes Entsetzen hervorrufen. Die folgenden Aufnahmen zeigten einen blutgetränkten Schauplatz des Grauens. Die Frauen waren bestialisch zugerichtet und ermordet worden. Der Fotograf dokumentierte dies in detaillierten Nahaufnahmen. Minos Blut gefror in seinen Adern. So etwas Grauenvolles hatte er noch nie gesehen. Mino wischte wie von Sinnen weiter. Er konnte seine Augen nicht abwenden. Beim letzten Bild im Speicher stockte sein Atem. Es war unglaublich, was er dort sah. Der Fotograf lichtete sich selbst vor diesem Todesschauplatz ab und frönte seinem Werk. Mino schüttelte den Kopf, Schweißperlen rannten über seine Stirn. Er stammelte: „Nein … oh Gott nein.“

 Er war im Bild zu sehen, posierend vor all den blutüberströmten Frauenleichen.

„Was zur Hölle ist das?“ ,wisperte er vor sich hin, während er nervös auf dem Display hin und her wischte.

„Verdammt, was ist das?“ ,schrie er seine Panik heraus.

Der Chauffeur öffnete die Trennwand.

„Ist alles in Ordnung Herr Keller?“

Mino zitterte und fragte mit aufgeregter Stimme: „Woher kommt das Handy?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen“ ,antwortete der Fahrer und fuhr, „ein Päckchen wurde heute morgen bei uns hinterlegt, mit der Bitte es in Ihrem Wagen auf der Rückbank zu hinterlegen.“

„Was für ein Päckchen? ,fragte Mino aufgeregt.

„Es müsste auf der Rückbank liegen, vielleicht ist alles bei der Vollbremsung runtergefallen.“

Mino schaute sofort in den Fußraum. Unter dem Beifahrersitz lag eine Schachtel mit einem Briefumschlag daneben. Er griff sofort nach dem Kuvert, musterte es mit ein paar flüchtigen Blicken und öffnete es. Er zog eine Karte heraus. Es stand nur ein Satz darauf. „Auf die gute, alte Zeit!“ Darunter: „Dein Tom!“

„Brauchen Sie Hilfe Herr Keller?“ ,fragte der besorgte Fahrer.

„Nein, fahren Sie mich schnell nach Hause!“ ,entgegnete Mino.

Der Chauffeur folgte der Anweisung und fuhr seinen Boss auf direktem Wege in sein Haus am Frankfurter Stadtrand. Mino sprang aus dem Auto und knallte die Autotür hinter sich zu. Mit zitternder Hand kramte er seine Schlüssel heraus, stocherte nach dem Schloss und öffnete die Tür. Er betrat seinen Hausflur, warf die Tür hinter sich zu und versuchte sich zu sammeln. Ständig wiederholten sich Fragen in seinem Kopf. Wie komme ich auf das Bild? Was hat es damit auf sich? Wer ist Tom?

Mino kam langsam wieder zur Ruhe. Er fokussierte sich auf die Fakten, setzte seinen messerscharfen Verstand ein. Jemand versuchte, ihm zu schaden. Er konnte das nicht auf dem Bild. Es musste eine verflucht gute Fotomontage sein. Es war klar, dass es etwas mit seiner Vergangenheit zu tun hatte, wie der Satz auf der Karte andeutete. Diese hatte er immer vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Offiziell gab er vor, aus einer wohlhabenden Familie zu stammen. Diese war seine Zugangsberechtigung zur Upper Class der Gesellschaft. In Wahrheit war er ein Waisenkind, wuchs in einem Hamburger Waisenhaus auf, bis er als Stipendiat an die Universität Frankfurt kam und ab diesem Zeitpunkt eine Senkrechtstarter Karriere hinlegte. Es gab weiterhin einen Teil in seiner Vergangenheit, der selbst ihm verborgen war. Mit 16 Jahren überlebte er als einziger einen Brand in dem Waisenhaus und wurde mit einer schweren Kopfverletzung aus den Trümmern geborgen. Alle Geschehnisse vor diesem Zeitpunkt fielen einer, der Verletzung geschuldeten, Amnesie zum Opfer, die bis heute anhielt.

Mino hatte keine Ahnung, wie er mit der Situation weiter umgehen sollte, er entschied sich ins Bett zu gehen und eine Nacht darüber zu schlafen. Er konnte heute Abend eh nichts mehr tun und wusste zudem überhaupt nicht, wo er ansetzen sollte. Er ging ins Wohnzimmer und fiel auf seine übergroße Couch. Schnell übermannte ihn wieder die Müdigkeit und ließ in tief und fest einschlafen.

Mit den ersten Sonnenstrahlen, die durch das große Wohnzimmerfenster strahlten, wachte Mino langsam auf. Er fühlte sich wie erschlagen. Dieser mentale Stress ließ ihn den größten Unsinn träumen. Er richtete sich nach vorne und rieb seine Augen. Als er die Hände wegnahm, fiel sein Blick auf den gegenüberliegenden Sessel. Er erschrak, hielt die Luft an und blickte entsetzt auf ein blutverschmiertes Messer, das mit der Spitze nach unten in dem Sessel stand. Daneben wieder ein Brief. Mino zitterte. Das durfte alles nicht wahr sein. Befand er sich in einem nicht enden wollenden Alptraum? Zögerlich bewegte er sich von der Couch zum Sessel hin. Sein Blick fokussierte das Messer, während er nach dem Briefkuvert griff. Mit zitternder Hand öffnete er es, zog wieder eine Karte heraus. Auf dieser stand in blutroter Schrift geschrieben: „Du hast mich alleingelassen und ein Leben im Überfluss geführt. Jetzt bin ich an der Reihe! Dein Tom.“

Mino versuchte, diese Zeilen zu begreifen. Wer zur Hölle war Tom? Er strengte seinen Kopf an. Versuchte, in seinem Kopf irgendeinen Hinweis zu finden.

Plötzlich klingelte es an der Haustür und riss Mino aus seinen Gedanken. Panisch schaute er Richtung Tür und anschließend auf das blutverschmierte Messer. Er entschied sich, das Klingeln zu ignorieren. Es hörte allerdings nicht auf. Dann hallte es durch die Tür: „Herr Keller, sind Sie zu Hause? Hier ist die Polizei, bitte öffnen Sie!“

Mino erstarrte. Was sollte er tun, fragte er sich. Die Polizisten vor der Tür klingelten penetrant weiter. Er rief aus dem Wohnzimmer: „Einen Moment bitte, ich komme gleich!“

Panisch überlegte er, was er mit dem blutverschmierten Messer machen sollte. Er griff es kurzerhand und beförderte es in seinen Barschrank. Daraufhin atmete Mino mehrfach tief durch und schritt langsam zu Tür. Er öffnete.

„Guten Morgen, Hauptkommissar Kramer mein Name“ ,eröffnete einer der Polizisten und sagte weiter, „sind Sie Herr Mino Keller?“

„Das bin ich, was kann ich für Sie tun?“ ,fragte Mino beherrscht.

„Nun wir hätten da ein paar Fragen“ ,sagte der Kommissar und fuhr fort, „vorgestern gab es einen Dreifachmord in einem Bordell im Bahnhofsviertel.“

Mino schockiert: „Oh großer Gott, davon habe ich gar nichts gehört.“

Der Beamte erwiderte: „Es stand auch noch nichts in der Presse davon. Es war ein sehr brutaler Mord und der Tatort nicht wirklich etwas für schwache Nerven.“

Mino versuchte Haltung zu bewahren und sich keine Nervosität anmerken zu lassen. Kooperierend fragte er: „Wie kann ich Ihnen denn in dieser Angelegenheit behilflich sein?“

Der Polizist griff in seine Tasche und holte eine blutverschmierte Visitenkarte in einem kleinen Cellophanbeutel heraus. Mino erkannte diese sofort. Es war eine von seinen Visitenkarten.

„Erkennen Sie die Karte?“

„Natürlich“ ,erwiderte Mino, „das ist eine von meinen Visitenkarten. Wo haben Sie die gefunden?“

Die Antwort auf diese Frage war Mino glasklar und die Blutflecken an der Karte hätten die Frage außerdem erübrigt.

„Was denken Sie?“ ,fragte der Polizist etwas provozierend.

Mino roch den Braten, dachte sich schon, dass ihn die Polizisten verunsichern wollten. Selbstbewusst antwortete er: „Ich gehe davon aus, dass diese am Tatort aufgefunden wurde. Das Blut und Ihr Erscheinen hier, sprechen eine deutliche Sprache.“

„Können Sie sich vorstellen, wie die Karte dort hingelangt ist?“ ,wollte der Polizist wissen.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich verteile viele von diesen Karten an meine Geschäftspartner. Ich selbst würde meine eigene Visitenkarte nicht unbedingt an einem Mordtatort liegen lassen“ ,sagte Mino und schaffte es mit der Aussage etwas die Oberhand in dem Verhör zu bekommen.

Der Beamte räumte ein: „Das ist einleuchtend.“ Er zog eine von seinen Visitenkarten aus der Tasche und reichte sie Mino.

Er forderte ihn auf: „Bitte prüfen Sie alle Ihre Geschäftskontakte in der letzten Zeit, speziell jene, denen Sie eine Karte gegeben haben. Bitte stellen Sie uns eine Liste zusammen und rufen uns an.“

Mino nahm die Karte an, nickte mit dem Kopf und antwortete: „Natürlich, ich werde meine Sekretärin gleich anweisen, Ihnen eine Aufstellung meiner letzten Termine zu übermitteln.“

Der Polizist nickte dankend mit dem Kopf. Mino ergriff wieder das Wort: „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss mich fertig machen und in meine Firma fahren. Es wartet heute viel Arbeit auf mich.“

Die Polizisten verabschiedeten sich höflich und Mino schloss die Tür. Sofort drehte er sich um und ging durch abfallende Anspannung in die Knie. Es war schwierig, sich nichts anmerken zu lassen. Er fragte sich, ob er die Beamten hätte einweihen sollen. Aber wie zum Teufel sollte er ein Tatortfoto von ihm und ein blutiges Messer erklären? Er verschwendete keinen Gedanken mehr daran. Es galt jetzt herausfinden, was es mit dem Foto auf sich hat und wer in der Nacht, während er schlief, in sein Haus eingebrochen war und das blutige Messer auf dem Sessel platzierte. Um Zeit zu gewinnen rief er seine Sekretärin an und gab ihr die Anweisung, Auszüge seines Terminkalenders an die Polizei zu schicken. Somit hatten diese genug damit zu tun seine unzähligen Geschäftskontakte abzuklappern, während er versuchte herauszufinden, wer ihm einen Mord anzuhängen versuchte.

Es vergingen drei Tage. Um keinen Verdacht zu erzeugen, veränderte Mino nichts an seinem Alltag. Er fuhr morgens in Büro und vergrub sich in Arbeit. Allerdings kümmerte er sich keineswegs um das Tagesgeschäft. Er kramte in seiner Vergangenheit, versuchte alles, um etwas über diesen ominösen Tom zu erfahren. Mino war sich sicher, dass er ihn vor dem schlimmen Brand im Waisenhaus gekannt haben musste. Dieser Typ hatte ihn jetzt wieder erkannt und es übel genommen, dass er den gesellschaftlichen Aufstieg schaffte, im Gegensatz zu ihm.

Das Telefon klingelte. Seine Sekretärin war am Apparat: „Herr Keller, hier ist ein Kommissar Kramer, er möchte mit Ihnen sprechen.“

Mino schluckte und schwieg einen Moment.

„Herr Keller, sind Sie noch dran?“ ,fragte die Sekretärin.

Mino fasste sich und antwortete: „Ja ja, stellen Sie durch.“

Es klickte und er übernahm den Anruf. Er bemühte sich, direkt wieder selbstbewusst zu klingen.

„Guten Morgen Herr Kommissar, was kann ich für Sie tun?“

„Morgen Herr Keller, entschuldigen Sie die Störung. Der Vollständigkeit halber müssten wir noch wissen, wo Sie sich in der Mordnacht von Dienstag zu Mittwoch letzter Woche aufgehalten haben?“

Nino überlegte. Diese Frage kam ihm komisch vor. Dies hätten die Beamten doch schon bei ihm zu Hause fragen können. Er bat den Kommissar, sich einen Moment zu gedulden, dass er in seinem Kalender nachschauen konnte. Er blätterte auf den Tag zurück und fand keinen Eintrag. Er erinnerte sich. Es war sein erster freier Abend seit längerer Zeit. Er verbrachte diesen zu Hause und ging nach einem guten Glas schottischen Whiskey früh schlafen. Dies wurde ihm sofort unheimlich. Diese ganze Geschichte musste verdammt gut geplant sein, um ihn in eine Falle zu locken. Es passte alles zusammen, um ihn als perfekten Verdächtigen hinzustellen. Das Bild, das Messer, kein Alibi.

Er antwortete auf die Frage: „Da war ich in einer größeren Runde unterwegs.“

Mino wusste, dass sich Dienstag Abend immer viele seiner Kunden und Partner in Frankfurter Clubs treffen. Socializing nannten sie diesen gesellschaftlichen Anlass auf Neudeutsch. Es war allerdings nur ein weiterer Vorwand sich mit jeder Menge Alkohol selbst zu feiern. Da er sonst häufig Teil dieser Runden war, sollte es kein Problem sein, dies für den betreffenden Abend zu behaupten. So besoffen, wie die meisten an diesen Abenden waren, würden ihn viele vermeintlich gesehen haben.

Kommissar Kramer fragte nach: „Wer könnte das bezeugen?“

Sofort nannte Mino einige Geschäftsfreunde, von denen er wusste, dass diese ohne weiteres angeben würden, ihn an dem Abend getroffen zu haben.

Kommissar Kramer nahm die Namen auf und beendete das Gespräch. Mino legte den Hörer auf und musste jetzt schnell handeln. Ihm war klar, dass dieses Lügengebilde nicht lange standhalten würde. Sein Gegner hat mit Sicherheit dafür gesorgt, dass weitere Verdachtsmomente auf ihn fallen, sonst hätte der Kommissar sicher nicht angerufen und nach seinem Alibi gefragt. Mino musste seiner Vergangenheit auf den Grund gehen. Er ließ seine Sekretärin umgehend einen Flug nach Hamburg buchen. Er plante in seinem alten Waisenhaus die Vergangenheit zu ergründen.

In der Hansestadt angekommen, machte er sich sofort auf den Weg zu dem Platz, an den er die letzten Erinnerungen an seine Jugend hatte. Mit einem Taxi fuhr er vor. Er blickte aus dem Fenster und sah den kalten Neubau, der auf den Grundmauern des abgebrannten Hauses errichtet wurden. Er schritt durch das Eingangstor auf den Vorplatz. Ein Messingschild an der Mauer erinnerte an den verehrenden Brand vor vielen Jahren und gedachte deren Opfern. An der Pforte stellte er sich vor.

„Guten Tag, mein Name ist Mino Keller. Ich bin hier aufgewachen und hätte ein paar Fragen.“

Die Dame am Empfang blickte ernst und antwortete kühl: „Wenn Sie Einsicht in alte Akte wünschen, müssen Sie dies schriftlich beantragen. Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.“

Mino erwiderte etwas angestochen von der förmlichen Abfuhr. „Hören Sie, ich möchte keine Akteneinsicht. Gibt es hier jemanden, der was über den Brand von vor 20 Jahren weiß? Ich war der einzige Überlebende und muss dringend einige Dinge in Erfahrung bringen.“

Die ältere Dame schaute auf. „Wie sagten Sie war Ihr Name?“ ,fragte sie.

„Mino Keller!“

„Warten Sie einen Moment!“ ,erwiderte die Empfangsdame, schob ein Brett vor die Sprechluke und verschwand durch eine Tür. Mino wusste die Reaktion nicht einzuschätzen. Nervosität durchzog sein Gemüt. Ihm war bewusst, dass die Polizei in Frankfurt mit Sicherheit mittlerweile neue Beweise hat und sein konstruiertes Alibi aufgeflogen war. Er musste Erfolg bei seinen Recherchen haben.

Plötzlich öffnete sich die Heimtür und ein älterer Mann im Anzug trat in Erscheinung. Mino erkannte ihn. Es war der Heimleiter Dr. Reibeck. Dieser übernahm die Leitung des Hauses, nachdem es wieder aufgebaut worden war. Die letzten Monate seiner Waisenhauszeit verbrachte Mino unter seiner Obhut.

„Guten Tag Herr Keller. Erkennen Sie mich noch? Ich bin Dr. Reibeck, der Heimleiter.“

Mino antwortete höflich: „Natürlich erkenne Sie, es freut mich Sie wiederzusehen.“

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Wie kann ich Ihnen dienlich sein?“ ,fragte Dr. Reinbeck.

„Die Umstände erfordern es, dass ich etwas über die Zeit vor dem Brand erfahren muss. Gibt es irgendwo Aufzeichnungen, die ich einsehen kann?“

Dr. Reinbeck zuckte mit den Achseln und antwortete Mino: „Leider nicht. Das Feuer hatte alles mit sich genommen. Sämtliche Unterlagen der Kinder und Heimorganisation wurden zerstört.“

Mino wurde ungeduldig, versuchte mehr zu erfahren: „Das kann doch nicht sein, irgendwo muss es doch was geben. Was ist denn in dieser Zeit passiert, was führte zu dem Brand?“

Dr. Reinbeck wurde sehr ernst und erinnerte sich: „Es war eine furchtbare Zeit. Ein Feuerteufel zog durch Hamburg und legte wahllos Brände. Viele Menschen starben. Mit dem Waisenhaus endete die Brandserie. Die Polizei vermutete, dass der Täter bei diesem Brand selbst ums Leben kam, da das Feuer derart außer Kontrolle geriet und alles in seiner Nähe verschlungen hatte. Fast alles.“

Mino senkte den Kopf andächtig und sagte: „Ja, bis auf mich halt.“

Dr. Reinbeck erwiderte: „Nicht ganz.“ Mino wurde hellhörig. Der Heimleiter fuhr fort: „Eine Betreuungsschwester hatte ebenfalls überlebt. Dies war wenig bekannt. Sie kam mit schwersten Verbrennungen ins Krankenhaus. Es dauerte Monate, bis Sie aus dem Koma erwachte und dann drei weitere Jahre, bis sie des Sprechens wieder mächtig war.“

„Konnte sie irgendetwas sagen?“ ,fragte Mino aufgeregt.

„Zuerst ging die Polizei davon aus, dass sie etwas über den Täter wusste. Denn sie sprach immer wieder von einem Teufel. Das ganze wurde aber dann als Nonsens abgetan, nachdem sie auch von einem Engel zu sprechen begann.“

„Wo ist Sie?“ ,wollte Mino wissen.

„Sie lebt in einem betreuten Wohnen, nicht weit von hier. Ich kann Ihnen die Adresse geben. Es ist ein Ableger von unserer Heimgesellschaft“ ,antwortete Dr. Reinbeck und gab Mino die Anschrift. Dieser verabschiedete sich geschwind und eilte zu der Adresse.

Am Eingang erkundigte er sich nach der Schwester. Anders als im Waisenhaus, freute sich die Empfangsdame über den Besucher. Die Alten bekamen selten Besuch und somit leitete sie Mino bereitwillig zum Zimmer der Schwester. Vorsichtig klopfte er an und öffnete einen Spalt die Tür. Er erblickte eine alte Frau, die in einem Schaukelstuhl saß und aus dem Fenster blickte.

Die Betreuerin kündigte ihn vorsichtig an: „Schwester Margarethe, Sie haben Besuch!“ Sie zeigte in ihre Richtung und schickte Mino vor.

Dieser näherte sich vorsichtig. Mit leiser Stimme machte er auf sich aufmerksam: „Hallo, mein Name ist Mino Keller.“

Die alte Dame registrierte ihn nicht und summte leise ein Lied vor sich hin. Dabei wippte sie leicht in ihrem Schaukelstuhl. Mino versuchte es erneut. Schaffte es jedoch wieder nicht, zu ihr durchzudringen. Er schüttelte den Kopf und resignierte. Hier konnte er wohl nichts erreichen. Mino drehte sich um und wollte das Zimmer verlassen. Doch dann beendete die Schwester ihr Summen und begann mit sanfter Stimme zu sprechen: „Wer besucht mich hier nach so vielen Jahren?“

Mino drehte sich sofort wieder um und ging zurück: „Mein Name ist Mino Keller. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit.“

„Ist das so, wer bist du?“ ,fragte die alte Frau.

Auf Mino machte sie einen verwirrten Eindruck, doch er versuchte es weiter.

„Wir waren zusammen in einem Waisenhaus vor über 20 Jahren, bis dieses abgebrannt ist.“

Daraufhin murmelte die Schwester: „Oh ja, das war furchtbar. Viel Leid und Schmerz hat dies gebracht.“

Mino wurde etwas euphorisch, erhoffte sich jetzt doch Erkenntnisse von der alten Frau. Er fragte weiter: „Erinnern Sie sich an die Kinder vor dem Brand? War dort ein Tom dabei?“

Die Schwester verzog die Mundwinkel, wurde ernst und begann leicht zu zittern: „Einen Tom gab es.“

Mino wurde energischer: „Wer war er? Hat er den Brand vielleicht auch überlebt?“

Die Anspannung bei der alten Frau wurde immer deutlicher. Diese Vergangenheit beängstigte sie zutiefst. Sie erwiderte: „Die Flammen holten den einen, den anderen verschonten sie. Ich weiß nicht, welcher den Trümmern entkam.“

Mino schreckte auf. Es gab offensichtlich einen Tom. Er musste mehr wissen. Mit einer schnellen Bewegung ging er um den Stuhl herum und blickte der Schwester direkt ins Gesicht. Er fragte energisch: „Wer war er, sagen Sie mir was Sie wissen!“

In dem Moment, als die Schwester in Minos Gesicht blickte, fuhr sie erschrocken zusammen. Sie zitterte am ganzen Körper, die Augen weit aufgerissen, der Mund geöffnet. Sie hechelte nach Luft. Mit angsterfüllter Stimme fragte: „Wer bis Du? Der Engel oder der Teufel?“

Im gleichen Moment stürmte eine Betreuerin ins Zimmer, zog Mino von der Frau weg.

„Was haben Sie ihr gesagt? In jedem Fall ist es genug!“ ,fauchte die erzürnte Betreuerin.

Mino zog sich zurück aus dem Zimmer. Blickte erschrocken und nachdenklich. Gedanken wanderten durch seinen Kopf, versuchten die bruchstückenhaften Informationen in ein sinngebendes Bild zusammenzusetzen. Es gab einen Tom. Die Schwester kannte ihn, und als Sie Mino anblickte, erkannte sie ihn und gleichermaßen Tom. Er blickte auf. Eine erschreckende Erkenntnis bildete sich vor seinem inneren Auge. Das Foto vom Mordtatort war keine Fälschung. Es zeigte Tom, der ihm wie ein Ei dem anderen glich. Er hatte einen Zwillingsbruder!

Mino entschied, umgehend nach Frankfurt zurückzukehren. Er war entschlossen, den Kampf anzunehmen. Zudem gab es keine weitere Option. Wenn sein vermeintlicher Zwillingsbruder nach 20 Jahren sich auf einen Rachefeldzug gegen ihn begeben hatte und dabei über Leichen ging, musste er sich dieser Situation stellen.

Am nächsten Morgen landete Mino auf dem Frankfurter Flughafen. Nach Verlassen des Gates wählte er sofort die Nummer von Kommissar Kramer an. Dieser war erstaunt über den Anruf und teilte Mino umgehend mit, dass er mit ihm über sein Alibi sprechen müsste. Mino war klar, dass seine Angaben sich als unwahr herausstellten. Er gestand dem Kommissar am Telefon umgehend seine Notlüge und berichtete ihm flüchtig von den Ereignissen. Mino bat den Polizisten, ihn zu Hause aufzusuchen, damit er ihm im Detail die Lage erklären könne. Kommissar Kramer war leicht irritiert von der abenteuerlichen Geschichte des Geschäftsmannes, stimmte aber zu.

Zwei Stunden später standen beide in Minos Wohnzimmer. Der Kommissar bat Mino, seine Ausführungen vom Telefon zu präzisieren. Dieser erzählte von seiner Reise nach Hamburg, seiner Vergangenheit als Waisenjunge, dem Brand und dass er offensichtlich einen Zwillingsbruder hatte, der ihm nach Rache trachte, da Mino ein privilegiertes Leben führen durfte und er nicht. Der Kommissar nahm die Geschichte in Ruhe auf. Als Mino fertig war, schwieg er. Dies machte ihn nervös.

Er fragte energisch: „Was sagen Sie denn dazu? Helfen Sie mir meinen Bruder zu finden?“

Der Kommissar zog die Augenbrauen hoch und erwiderte: „Das würden wir gerne tun Herr Keller, aber da gibt es ein kleines Problem.“

„Was für ein Problem?“ ,wollte Mino wissen.

„Auf der Visitenkarte, die wir am Tatort gefunden hatten, sind Ihre Fingerabdrücke. Wir waren so frei und haben von Ihrer Türklinke Referenzabdrücke genommen.“

Mino schüttelte den Kopf und verteidigte sich: „Natürlich waren auf der Visitenkarte meine Fingerabdrücke. Ich habe diese schließich irgendjemanden gegeben.“

Kommissar Kramer nickte: „Das ist korrekt“ ,trat dann einen Schritt näher an Mino heran und sagte energisch, „diese Fingerabdrücke befanden sich allerdings nach gründlicher Obduktion auch auf den Leichen, wie erklären Sie sich das?“

Mino zuckte zusammen. Er spürte, wie sein Blut zu kochen begann und erwiderte ungläubig: „Das kann nicht sein!“

Dabei zog er das gefundene Handy aus seiner Tasche, öffnete die letzte Aufnahme mit seinem Ebenbild und schaute darauf. Er fing an zu zittern, sein Atem wurde immer schneller.

Kommissar Kramer legte nach: „Wissen Sie was ich denke? Ich denke, Sie waren nach Ihrem tollen Socializing so besoffen und zugestopft mit Koks, dass Sie sich im Bahnhofsviertel vergnügen wollten und das Vögeln von Nutten hatte wohl nicht mehr gereicht für den finalen Kick.“

Mino zitterte stärker, griff sich an den Kopf und hielt ihn immer fester. Kramer erhöhte den Druck, war sich sicher, dass Mino jeden Moment zusammenbrach und gestand. Doch mit einem Mal hörte das Zittern auf. Mit tiefer Ruhe schaute er zu Kommissar Kramer auf und lächelte.

Entspannt sagte er dem verwunderten Polizisten: „Interessante These.“ Dabei drehte er sich um und bewegte sich zu dem Barschrank im Wohnzimmer.

„Wo wollen Sie hin? Bleiben Sie stehen!“ ,forderte der Kommissar Mino auf.

Dieser ging unbeirrt weiter zu seinem Barschrank, öffnete diesen und fragte Kramer: „Wie wäre es mit einem Drink?“

Der Kommissar folgte Mino ein paar Schritte hinterher und brüllte fordernd: „Nein, ich möchte keinen Drink. Schließen Sie den Schrank und kommen Sie mit auf das Revier Herr Keller!“

Mino drehte sich langsam um, lächelte und jagte mit einem schnellen Hieb dem überraschten Kommissar das blutverschmierte Messer aus dem Schrank in den Bauch. Dieser riss die Augen weit auf und schaute in Schockstarre in Minos Gesicht. Der trieb mit einem teuflischen Lächeln auf Lippen die Klinge weiter in die Eingeweide des Kommissars und flüsterte dabei in sein Ohr: „Nennen Sie mich doch bitte Tom!“

Kramer verzog das schmerzerfüllt das Gesicht und brach sterbend in sich zusammen. Dabei glitt das Messer aus seinem Bauch.

Tom warf es zu ihm auf den Boden und blickte verachtend auf den toten Polizisten. Anschließend nahm er sich einen Drink aus der Bar und setzte sich gemütlich in den Sessel. Er hob das Glas und brachte einen Toast aus: „Auf dich Mino! Ich hatte uns so schöne Feuer gemacht, und du wolltest uns in den Flammen sterben lassen. Jetzt zahlst du den Preis und erfährst, wie sich ein Gefängnis von innen anfühlt. Und auf Schwester Margarete, die es nicht schaffte dir den Teufel auszutreiben!“

One thought on “Auf die gute alte Zeit

  1. Tolle Story! Spannender Erzählstil, das Ende war für mich überraschend.
    Ich finde besonders am Anfang toll wie du Mino eher durch seine Handlungen beschreibst und der Leser so seinen Charakter kennen lernt.
    Liebe Grüße
    Nathalie (Zwischen Liebe und Leichen)

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