SaskiaBlinde Eifersucht

Blinde Eifersucht

Amelies Herz hämmerte in rasantem Tempo gegen ihre Brust. Erst nach Sekunden bemerkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte. Reflexartig sah sie sich in ihrer Wohnung um, um sich zu vergewissern, dass sie alleine war. Doch nun sehnte sie sich, mehr als je zuvor, nach Tims Nähe. Nach seiner Geborgenheit und Wärme, welche sie noch bis vor Kurzem schützend umgeben hatte. Sein Lächeln erschien vor ihrem Inneren und seine schimmernden, blauen Augen, die sie jedes Mal erneut in ihren Bann zogen. Amelie gab ihm einen innigen Kuss zum Abschied.

Hoffentlich nicht für immer, dachte sie und verdrängte diesen Gedanken.

Doch sie spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. Wäre sie nur bei ihm geblieben. Noch vor ein paar Minuten war sie zum ersten Mal so glücklich wie nie zuvor – zumindest seit ihrer Vergangenheit. Alles schien endlich vollkommen zu sein. 

Und nun saß sie hier, auf dem nackten Holzboden ihres Wohnzimmers, der ihr plötzlich vorkam wie Treibsand und sie unaufhaltsam in die erdrückende Tiefe zog, der sie gerade erst entkommen war. Vor ihr lag ein kleines Paket, das sie soeben geöffnet hatte. Jemand musste es, kurz bevor sie kam, vor ihre Haustür gelegt haben, denn sie hatte nur ein paar Stunden bei Tim verbracht. Sie wollte es erst gar nicht öffnen, so müde war sie. Aber jetzt war es zu spät. Sie blickte hinab und schaute auf das fremde Handy vor ihr, auf dessen Bildschirm sich seltsame Fotos abzeichneten. Fotos – in denen sie und Tim zu sehen war. Unweigerlich stellte sie fest, dass es nur eine Person gab, die dazu in der Lage war. Erneut schaltete sie das Display ein, um sich die Bilder anzusehen. Es waren so viele, dass er sie beinahe jede Sekunde – seit ihrer Trennung – verfolgt haben musste. Allein dieser Gedanke jagte Amelie eine Gänsehaut ein. Als sie mit ihrem Daumen weiter durch die Bilder scrollte und ihre Augen gar nicht so genau hinzusehen wagten, hielt ihre Hand schlagartig an.

Das ist unmöglich.

Das folgende Foto zeigte Amelie in ihrer Wohnung, während sie schlief. Wie hatte sie das nur nicht bemerken können? Sie zweifelte an ihren eigenen Augen, sah ein zweites Mal hin, und ihr wurde allmählich schlecht. Ihr leuchtete ein, dass sie ihn unterschätzt hatte. Was wollte er von ihr? Wusste er womöglich, was hinter ihrem Geheimnis steckt? Doch sie hatte es bis jetzt niemandem anvertraut. Es war leichter, es dabei zu belassen und zu hoffen, dass alles gut gehen würde. Aber in diesem Moment war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Amelie spürte, wie die aufwallende Panik zunehmend ihren Körper beherrschte, und versuchte verzweifelt, eine Lösung für sein Handeln zu finden, während sie vom grellen Piepton des Handys aus ihren Gedanken gerissen wurde. 

Eine Nachricht blitzte auf.

»Ich weiß, dass du mir etwas verheimlichst. Wenn du willst, dass Tim verschont bleibt, will ich die Wahrheit.« 

Ihre Wangen glühten, als sie die Worte las. Instinktiv wählte sie Tims Nummer, sehnte sich nach seiner sanften Stimme und dem Gefühl unendlicher Sicherheit – als eine zweite Nachricht auf dem Display erschien.

»Du gehörst mir.«

Amelie erstarrte. Mit zittrigen Fingern hielt sie das Handy in ihrer Hand, wusste nicht, was sie tun sollte. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie eifersüchtig er sich damals in manchen, bedeutungslosen Momenten verhalten hat. Trotzdem hätte sie sich nie ausmalen können, dass er jemals so verrückt werden würde. Und abgesehen davon, waren sie jetzt nicht mehr zusammen. Auch wenn er sie damals kaum gehen ließ, sagte er ihr am Ende, dass sie es verdiente, glücklich zu werden.

Ich muss hier weg. Sofort. 

Ihre Müdigkeit wurde blitzartig vom Adrenalin verschluckt, ebenso wie ihre Gedanken, und Amelie sprang hektisch vom Boden auf. Sie rannte zur Tür, griff nach der Klinke, doch es tat sich nichts. Mehrmals versuchte sie, die Tür aufzudrücken – dachte dabei, all ihre Kräfte hätten sich ihr entzogen – bis sie realisierte, dass sie eingesperrt war. Gefangen in ihren eigenen Wänden. Einem Psychopathen ausgeliefert, der gleichzeitig ihr Ex-Freund war. Fassungslos sank sie an der Tür zu Boden. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen. Dann dachte sie an ihr Handy, es war ihre letzte Chance. Nervös griff sie in die Seitentasche ihres Mantels, nestelte mit der rechten Hand in der merkwürdigen Leere, als sie bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Kein Mobiltelefon. Nur ein gefaltetes Taschentuch. 

Wo zum Teufel ist mein Handy? Ich hatte es doch vor zehn Minuten noch in der Hand. 

Sie ließ ihren Blick durch die aufgeräumte Wohnung schweifen und sah anschließend noch einmal vergeblich in ihrer Handtasche nach. In dem paradoxen Glauben, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde, sobald sie mit Tim sprach, nahm sie ein letztes Mal das fremde Telefon in die Hand. Tims Nummer war nicht nur in ihrer Kontaktliste abgespeichert, sondern glücklicherweise auch in ihrem Gedächtnis. In hastiger Geschwindigkeit tippte sie die Ziffern ein und wollte schon auf den grünen Hörer drücken, da erblickte sie die verschwommenen Symbole in der oberen Leiste. In dieser Sekunde zerplatzte ihre letzte Hoffnung wie eine kurzlebige Seifenblase. Eine Mischung aus Verzweiflung und Hilflosigkeit breitete sich in Amelies Körper aus, bis sie nichts mehr fühlte und von der Dunkelheit erlöst wurde.

Als sie blinzelnd versuchte, die Augen zu öffnen, war es noch immer dunkel. Sie war sich im ersten Moment nicht sicher, ob sie bei Bewusstsein war. Doch ihr Verstand schien sich langsam von dem Nebel zu lösen, welcher ihren Körper in Besitz genommen hatte, und ihr dämmerte, was geschehen ist. Fast schon wünschte sie sich, die eben noch so friedliche Dunkelheit hätte sie weiterhin von ihm ferngehalten. 

Sie war allein. Noch …, schoss es ihr gleichzeitig wie ein Blitz durch den Körper, der ihre von der Kälte verursachte Gänsehaut weiter verstärkte. Aber wo war sie? Amelie vernahm den Geruch von kühler Feuchtigkeit. Sie sah sich um und konnte nach und nach einzelne Konturen erkennen. Um sie herum baute sich ein kleiner Raum auf, gestützt von festen Betonwänden, und sie merkte, dass sie sich kaum bewegen konnte. Als sie an ihrem Körper hinunter sah, erschreckte sie sich für einen Moment vor sich selbst. Bis auf ihre dünne Unterhose war ihre nackte Haut zu sehen und erst jetzt spürte sie, dass ihr Körper vor Kälte zitterte. Wenigstens fielen ihre langen, braunen Haare in voller Pracht nach vorne und verdeckten schützend ihre Brüste. Ihr schmaler Körper lehnte an der grauen Wand. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken mit einem rauen Strick umwickelt und an zwei Heizungsrohren befestigt, die direkt neben ihr fest an der Wand verankert waren. Der Schmerz wollte sie warnen, umso mehr sie sich zu bewegen vermochte und ihr Versuch, sich zu befreien, hinterließ unsanfte Spuren in ihrer zarten Haut. Dennoch zerrte sie alle paar Sekunden an ihren Fesseln, in der Hoffnung, sie würden sich irgendwann aufwickeln. Aber es nützte nichts. Sie musste sich beruhigen und ihre Kräfte aufheben, wer weiß, wofür sie diese noch brauchte. 

Am meisten schockierte sie jedoch nicht der Ort, an dem sie gefangen war oder die Tatsache, dass ihr Ex-Freund sie entführt hatte. Nein, was sie am meisten schockierte, waren die riesigen Porträts von ihr selbst, welche die kahlen Wände, in monströser Größe, ringsherum verzierten. Es waren sicherlich die schönsten Bilder, die es von ihr gab und er war zweifellos ein guter Fotograf. Doch sie passten nicht hierher. Die Fotos sahen sie ausdruckslos an und strahlten seine unverhohlene Besessenheit aus. Sie erschauerte bei dem Gedanken, dieser Person jemals nähergestanden zu haben.

Die Stille verwandelte sich in bedrohliche Geräusche: Dumpf hallende, sich nähernde Schritte. Amelie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Erneut schloss sie ihre Augen und hoffte auf die wiederkehrende Dunkelheit, bis er plötzlich ganz dicht vor ihr stand. Sein Atem berührte ihr kaltes Gesicht. 

Ich kann ihn riechen. 

Als sie seinen vertrauten Geruch wahrnahm, spürte sie unmittelbar ihren Fluchtinstinkt, welcher ihre Glieder vibrieren ließ, und ein Gefühl des Ekels überkam sie.

»Schau mich an, Süße.« Flüsterte Matteo fordernd. 

Amelie sah widerwillig in sein viel zu nahes Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn deutlich vor sich sah. Seine dunkelbraunen Augen waren gefüllt mit Liebe und Hass zugleich. 

»Was möchtest du von mir?« Brachte sie, stoßweise und mit zittriger Stimme, hervor.

»Ich denke, das weißt du besser als ich.« Er ließ seinen durchdringenden Blick über ihren nahezu unverhüllten Körper gleiten. »Keine Sorge, du bist hier sicher«, ein triumphierendes Lächeln umspielte augenblicklich seine Lippen. 

Amelie verzog schmerzhaft das Gesicht und versuchte seine unerträgliche Nähe auszublenden. Erinnerungen, die sie glaubte, schon seit langem verarbeitet zu haben, wurden auf einmal wieder lebendig. Er war der Einzige, der bisher über ihr Geheimnis Bescheid wusste – ihre damalige Entführung – wenn auch nur ansatzweise. Doch er hat so sehr darunter gelitten. Warum tat er ihr ausgerechnet dasselbe an? War es wirklich nur Eifersucht?

Bevor Matteo weitersprach, hielt er ihr unverhofft ein Glas Wasser hin. Sie trank es hastig aus und fühlte sich tatsächlich ein wenig besser. Ihre hämmernden Kopfschmerzen ließen langsam nach und Amelie spürte, wie sich ihre verkrampften Muskeln etwas entspannten.

»Was hast du mir verschwiegen?«, fuhr er fort und holte tief Luft. »Du hast dich verändert. Ich weiß, dass du mehr Abstand wolltest damals und es fiel mir nicht leicht, auch wenn ich alles für dich getan hätte. Doch stattdessen hast du dich mit Tim getroffen und mit mir Schluss gemacht. Seine Nähe konntest du ertragen und unsere jahrelange Beziehung hast du einfach weggeschmissen. Denkst du ich weiß nicht, was du abgezogen hast?« Er hielt kurz inne, und versuchte sich zu beruhigen. »Du hast mich mit ihm betrogen, wolltest mich die ganze Zeit nur hinhalten, während ich verzweifelt überlegte, was ich falsch mache. Ist es so?« Matteo sah sie erwartungsvoll an und strich ihr dabei behutsam eine braune, wellige Strähne aus dem Gesicht, als hoffte er, es gäbe dafür eine andere Erklärung.

Amelie hörte die Enttäuschung in seiner Stimme mitschwingen und aus einem ihr nicht erklärlichen Grund empfand sie auf einmal Mitleid für ihn. Sie war nicht die Frau, die jemanden grundlos hinterging, aber die Wahrheit würde er nicht verkraften. Sie wusste, dass es nicht fair war und doch hatte sie zu große Angst vor seiner Reaktion. Mühsam überlegte Amelie, was sie ihm sagen konnte, ohne dabei zu lügen.

»Es tut mir Leid.«, sie probierte, ihrer Stimme Halt zu geben. »Ich habe versucht all die Dinge zu verarbeiten, nachdem du mich aus dem Keller befreit hast. Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich.« Amelie sammelte sich kurz, bevor sie die nächsten Sätze aussprach, und wandte den Blick dabei von ihm ab. »Tim war der Einzige, der mich zu dem Zeitpunkt aufbauen konnte, ohne dass ich mich zu sehr bedrängt fühlte. Wir haben uns stundenlang unterhalten und ich merkte, dass ich mit der Zeit wieder mehr am Leben teilnehmen konnte, ohne jeden Moment von meinen Erinnerungen eingeholt zu werden.« Ihre Stimme wurde zunehmend leiser und sie räusperte sich verlegen. »Aber wir waren nur befreundet. Du weißt selber, dass er ein guter Therapeut ist. Er hätte es nicht gewagt …«, sie verzichtete auf weitere Details und brach ab, als sie ihren Blick hob und kühler Neid sich in seinen Augen widerspiegelte. Sie hoffte, dass er ihren Worten Glauben schenkte. Sie war immer ehrlich – jedenfalls in dieser Hinsicht.

Doch Matteo kam überraschend schnell auf sie zu, presste ihren schlanken Körper gegen die harte Betonwand und flüsterte ihr etwas ins Ohr, dass sie kaum verstand. Er zückte ein Messer, legte die Klinge mit der flachen Seite auf ihre seidenglatte Haut und fuhr beinahe jeden Zentimeter ab. Amelies Atem stockte. Sie spürte, wie sich der Boden unter ihren Füßen entzog, und rechnete jede Sekunde damit, dass die Klinge sich in ihre Haut bohren würde. Sie wartete darauf, sehnte sich regelrecht nach dem Schmerz, sodass es endlich vorbei war. Gänzlich unerwartet verließ das Gefühl von kaltem Stahl ihre Haut. Kurz sog er ihren unwiderstehlichen Duft ein und begutachtete sie noch einmal von oben bis unten. Amelie wagte es nicht, in irgendeiner Weise zu reagieren. Nur ihr Puls entschleunigte sich schleichend, als er einen Schritt zurückwich. 

»Du hast Glück, dass du so überragend schön bist.« Damit wandte er sich ab und verließ den Raum.

»Bitte…«, flehte sie. »Lass es mich erklären. Das kannst du mir nicht antun. Bitte…« Amelie brach in Tränen aus. Sie schrie und sie weinte, bis sie verstummte. Denn sie wusste, dass keiner sie hören konnte, und ihre Kräfte waren erloschen.

Sie musste weggenickt sein, als sie versuchte, ihre müden Augenlider aufzuhalten und der brennende Schmerz ihrer Handgelenke mit einer außerordentlichen Wucht durch ihren gesamten Körper schoss. Ihr Mund war trocken. Sie wusste nicht, wie spät es war. Sie konnte ohnehin nicht mehr klar denken. Nur seine Worte hallten wieder und immer wieder in ihrem Kopf nach.

»Ich will die Wahrheit, die ganze Wahrheit. Leider weiß ich nur zu gut, wie dein Gesicht aussieht, wenn du mir etwas verschweigst. Du hast bis morgen Zeit. Wenn dir Tim noch etwas bedeutet, musst du dich entscheiden.« 

Eine einzelne Träne kullerte über ihr Gesicht. Verdammt, was tue ich jetzt? Solange sie auch überlegte, sie fand keine Antwort, die ihn zufriedenstellen würde. Doch sie spürte die Last der Vergangenheit auf sich ruhen. Sie musste die Sache ein für alle Mal klären, um endlich damit abschließen zu können. Daher gab es nur eine Antwort.

Seine Schritte wurden deutlicher. Matteo war erneut auf dem Weg zu ihr. Es müssen inzwischen ein paar Stunden vergangen sein. Doch in der kalten, düsteren Stille hatte Amelie ihr Zeitgefühl verloren. Sie fühlte sich nur noch wie eine leblose Hülle, welche die Ereignisse von außen beobachtete und sie hatte schon fast aufgegeben. 

Jetzt stand er wieder direkt vor ihr. Sie sah in seine dunklen, furchtlosen Augen und konnte erahnen, dass sich hinter seiner starken, unsichtbaren Barriere auch ein Schimmer von Traurigkeit verbarg, welche er nicht an die Oberfläche lassen wollte. Oder war es Hoffnung? 

»Es ist soweit.«, seine tiefe Stimme klang diesmal friedlicher. Matteo strich mit seiner Hand geduldig über ihr Gesicht, bis hin zu ihren Lippen. Amelie hielt den Atem an, als könnte sie damit ihre hochkommenden Erinnerungen ersticken. Qualvoll langsam fuhr er mit den Fingern über ihren Mund und sie spürte, wie ihre Unterlippe auf seiner Haut zitterte.

»Sprich die Wahrheit«, hauchte er ihr entgegen.

Amelie atmete tief durch, versuchte, ihre Angst zu unterdrücken, und nahm schließlich all ihren Mut zusammen. Sie hob den Kopf und sah ihn aus feucht glänzenden Augen an.

»Ich …  bin Amelie«, sagte sie so leise und undeutlich, dass sie nicht sicher war, ob er überhaupt ein Wort verstanden hatte. Matteos Blick veränderte sich kaum merklich. Doch nach ein paar Sekunden wurden seine Augen größer. Sie konnte ihm seine Verwirrung deutlich im Gesicht ablesen. Er schien angespannt darüber nachzudenken, was sie ihm eben gesagt hatte.

»Nein«, brachte er nur hervor, während ein unnatürliches Lachen aus seiner Kehle rang. »Das kann nicht sein … ich habe dich da raus geholt und deine Schwester«, er stockte kurz, »Amelie war tot. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«

»Aber wie konntest du dir so sicher sein?«, erwiderte sie atemlos, gefasst auf jede mögliche Reaktion. »Du dachtest ich sei Sophia. Die ganze Zeit.« Der Schmerz der Erinnerung und die Bilder ihrer Schwester ließen ihr Herz schwer werden. »Ihr kanntet euch so lange.«

Sein lauter Atem verdrängte daraufhin die Stille des Raums. »Du hast ihren Ring getragen, als ich dich gefunden habe. Und alles an dir ist, war   korrigierte er sich – , wie bei Sophia. Wie kann das sein?«, obwohl er ihr nicht glauben wollte, musste er im nächsten Moment realisiert haben, was das bedeutete, wenn sie Recht hatte. Wut, Trauer und Enttäuschung machten sich in ihm breit. Sie wusste nicht, was er als Nächstes tun würde, so unberechenbar wie er war. Er ging ein paar Schritte zurück und lehnte sich an die gegenüberliegende Wand, um sein abrupt verlorenes Gleichgewicht abzufangen.

»Das hast du mir all die Jahre verschwiegen?«

Bevor er den Verstand verlieren würde, musste Amelie versuchen, es ihm zu erklären. Niemals wäre sie imstande gewesen, so etwas bewusst zu beabsichtigen. »Ich wollte das nicht. Du musst mir glauben, auch wenn du mir nicht verzeihen wirst«, ihre Stimme klang besorgt. »Es tut mir so Leid. Als du mich gefunden hast, war ich traumatisiert. Erst nach einigen Tagen habe ich begriffen, was wirklich geschehen ist. Und du warst so glücklich und erleichtert, dass ich bei dir war.« Amelies Tränen bahnten sich unaufhaltsam einen Weg über ihr Gesicht. »Ich konnte es dir einfach nicht sagen«, ihre Stimme bebte und sie hoffte, dass er sie auch nur annähernd verstehen konnte. 

Aber das konnte er nicht. Vielmehr überkam ihn die hoffnungslose Realität und schlug ihm mit voller Wucht in sein Bewusstsein. Sie hatte ihm alles genommen. Mit einem Mal.

»Hast du den geringsten Schimmer, was du mir angetan hast?« Seine Stimme hallte wutentbrannt durch den Raum und er setzte sich entschlossen in Bewegung. 

»Ich kann dich nicht gehen lassen«, sagte er schließlich und ein ironisches Lächeln legte sich auf seine Lippen, das Amelie nur zu gut deuten konnte.

Ihre Gedanken flogen sofort zu Tim und ihr Herz setzte für eine Sekunde aus. 

Nein. Bitte nicht. 

»Tim hat nichts getan. Ich habe dir die Wahrheit gesagt. Und mir ist klar, dass du etwas anderes erwartest hast. Mach mit mir, was du willst. Aber lass ihn in Ruhe!«, sie schrie sich ihre ganze Verzweiflung vom Leib. Das konnte er nicht tun. Dennoch drehte er sich im nächsten Moment um, als hätte er keines ihrer Worte verstanden. Kurz darauf war er verschwunden. 

Amelie schrie mit krächzender Stimme um Hilfe, rüttelte mit voller Kraft an ihren Fesseln und ignorierte dabei den glühenden Schmerz ihrer Hände, der in diesem Augenblick nicht annähernd so grausam war wie der ihres Herzens. Sie musste ihn retten. Auch wenn sie nun mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen hatte, fühlte sie sich keineswegs erleichtert und ihr eigenes Leben schien ihr mit einem Mal wertlos.

Sie versuchte, ihren Verstand zu sortieren. Amelie wusste, dass er es genauso gewollt hatte. Er hätte sie einfach umbringen oder alles andere mit ihr machen können. Doch Tims Leben war ihr weitaus wichtiger und er wollte ihr wehtun – so wie sie ihm wehgetan hatte. Er wollte sich rächen.

Als sich alle möglichen Szenarien in Amelies Kopf abgespielt hatten, fühlte sie in ihren Körper hinein. Neben dem anhaltenden Schmerz, der auf körperlicher und seelischer Ebene monoton pulsierte, realisierte sie erst einige Augenblicke später, dass sich ihr linker Arm mittlerweile etwas leichter bewegen ließ und ihre Versuche, sich von den Fesseln zu lösen, sich doch nicht als reine Kraftverschwendung enthüllten. Diese plötzliche Erkenntnis erweckte gerade noch rechtzeitig ihre Lebensgeister, die bereits kurz davor waren, in einen resignierten Dauerschlaf zu verfallen.

Ich muss zu Tim. 

Ihren Gedanken folgend, auf der Suche nach einem Ausweg, fiel Amelies Blick daraufhin auf etwas Glänzendes am Boden. Sie fokussierte ihre müden Augen auf den Gegenstand, um diesen in der relativ dunklen Umgebung zu erkennen. 

Das Messer. Es ist ihm vorhin aus der Hose gerutscht, als er sich gegen die Wand gelehnt hat. 

Ein kleiner Funke Hoffnung erreichte Amelies Herz. Sie musste irgendwie an das Messer gelangen. Der Raum war nicht sonderlich groß, jedoch lag es ungefähr zwei Meter von ihr entfernt und es war ihr kaum möglich, sich von der Stelle zu bewegen. Dennoch war es ihre letzte Chance.

Mit Bedacht glitt sie an der Wand entlang Richtung Boden und versuchte dabei, ihre Hände möglichst ruhig zu halten. Der raue Knoten um ihre Pulsadern bahnte sich gleichzeitig seinen Weg an den Heizungsrohren hinab, sodass sie es schaffte, sich langsam hinzusetzen. Doch sie nahm so eine unnatürliche Haltung ein, dass sie glaubte, sich jeden Moment alle Muskeln und Gelenke ihres Körpers zu verzerren. 

Ich muss es schaffen. 

Als sie am Boden saß, streckte sie ihre Beine, so weit wie möglich, nach vorne aus. Sie stöhnte. Ein paar Zentimeter fehlten noch. Amelie atmete tief durch und versuchte, nicht vollends zu verzweifeln. Sie sah Tims Gesicht deutlich vor ihren Augen, es kam ihr beinahe so vor, als stünde er tatsächlich vor ihr. Mit allerletzter Kraft schob sie sich schließlich so weit nach vorne, dass sie die Klinge mit ihren Fußspitzen erreichen konnte. Dabei gab sie einen fremdartig klingenden Schrei von sich, der eine Mischung aus Erleichterung und Erschöpfung zum Ausdruck brachte. Ihre Augen tränten. Sie zog das Messer zu sich heran und verschnaufte einen Augenblick. 

Amelie hatte gar nicht daran gedacht, vorher ihre linke Hand aus dem Seil zu lösen, welches sie nur noch mühsam über ihre Fingerknöchel streifen musste. Diese Verletzung würde sie auch noch ertragen können. Schließlich benötigte sie eine freie Hand, um damit die andere befreien zu können und endlich der Hölle zu entkommen.

Schlimmer kann es nicht werden, dachte sie sich. 

Doch als sie daraufhin ihre von offenen Wunden übersäte Hand vor sich sah, hielt sie kurz inne. Ihr eiskalter Körper zitterte, wie schockiert, in rhythmischen Schüben. Sie griff mit ihrer linken Hand nach dem kleinen Messer und führte es hinter ihren Rücken. Kraftzehrend sägte sie den mehrfach umwickelten Strick durch und befreite somit ihre andere Hand. Sie sah nicht deutlich besser aus, aber das spielte keine Rolle. 

Der kleine Keller, in dem sie sich befand, führte direkt in einen dunklen, langen Gang, welcher das wenige, restliche Licht vollständig verschluckte. Amelie hatte nicht viele Ängste, aber die Dunkelheit war neben ihrer Angst vor Insekten, ihre größte Phobie. Und sie wusste nicht, wohin der Gang letztendlich führte. Zuversichtlich redete sie sich ein, dass sie alleine hier unten war und der Weg, den sie zurücklegen würde, um das Tageslicht zu erblicken, nicht all zu weit sein durfte. Es blieb ihr nicht viel Zeit. Aus dem Grund war es ihr nicht möglich, ausgiebig darüber nachzudenken. Entschlossen setzte sie sich vom Boden auf und stützte sich mit ihren Händen an der rauen Wand ab. Flackernde Lichter tanzten vor ihrem Sichtfeld, die sich nur langsam wieder entfernten. Ihr Kreislauf war völlig zusammengebrochen. Der ganze Körper tat ihr weh und sie hatte unheimlichen Durst. Noch nie fühlte Amelie sich so schrecklich wie in diesem Augenblick. 

Nachdem sie bereits ein paar Meter zurückgelegt hatte, spitzte sie aufmerksam all ihre Sinne. Um sie herum herrschte weiterhin Stille. Sie hörte lediglich ihren vibrierenden Atem, verbunden mit ihrem lauten, unkontrollierbaren Herzschlag. 

Reiß dich zusammen. Es sind nur ein paar Meter. 

Amelie konnte sich in der unendlichen Schwärze nur langsam vorantasten und blieb dabei immer in Kontakt mit der kühlen und gleichzeitig ihr wegweisenden Wand, um die Orientierung nicht zu verlieren. Ein nasser und modriger Geruch lag in der Luft, der hier noch intensiver zur Geltung kam als zuvor und unerbittlich an ihren Erinnerungen zerrte. Sie versuchte, es abzuschütteln. Als ihre Augen sich nach und nach an die vollkommene Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie den Weg schemenhaft vor sich. An den Wänden waren, in kurzen Abständen, mehrere schmale Einbuchtungen zu sehen und sie hatte längst nicht die Hälfte zurückgelegt. 

Verdammt. Ich muss mich beeilen. 

Amelie glaubte daraufhin, in der Ferne unbewegte Konturen erahnen zu können, die nach unten hin von leichten Lichtstrahlen bedeckt wurden.

Es sieht aus wie ein Weg nach oben. Vielleicht eine Treppe? Hauptsache es gibt einen Weg aus diesem verfluchten Keller, dachte sie. Auch wenn ihre Sicht derartig verschwommen war, marschierte sie mutig weiter und versuchte dabei in gleichmäßigem Rhythmus zu atmen, um ihren Kreislauf aufrecht zu erhalten. Der Weg kam ihr endlos vor, doch sie hatte es gleich geschafft. Die sanften Lichtstrahlen nahmen mit jedem Schritt an Intensität zu und sie beschleunigte zuversichtlich ihren Gang.

Im nächsten Moment jedoch erstarrte sie. Blitzschnell sprang sie hinter die kleine Einbuchtung neben ihr, bevor ihr Verstand begreifen konnte, was los war. Ihr Atemreflex setzte kurzzeitig aus, und sie versuchte, ihren zitternden Körper still zu halten. 

Jemand ist hier unten. 

Sie trat auf etwas Spitzes, das sich knirschend leise in ihre Fußsohle bohrte. Amelie schluckte und biss sich widerwillig auf die Unterlippe, um den höllischen Schmerz lautlos ertragen zu können. Sie wagte es nicht, sich einen Millimeter zu bewegen, und hoffte darauf, dass die Person gleich wieder verschwand. 

Ist er schon zurück? Ist es zu spät? Ihre Gedanken überschlugen sich in einer kaum zu verarbeitenden Geschwindigkeit.

Danach glaubte sie bereits tot zu sein. Denn das, was ihre Ohren erreichte, konnte unmöglich die Realität sein. Hörte sie schon Stimmen? Ist sie völlig paranoid geworden? Erneut hallte dieselbe Stimme durch die Dunkelheit. Deutlich, verzweifelt und doch so vertraut. Sie rief nach ihr und ertönte aus unmittelbarer Nähe. Amelie hätte sich ohnehin nicht länger verstecken können und trat instinktiv einen Schritt zur Seite. Sie blieb abrupt stehen und ihr Körper erstarrte augenblicklich. Hatte sie jetzt etwa noch Halluzinationen? Sie traute ihren Augen nicht. Amelie wollte sich freuen, doch etwas hielt sie davon ab. Denn sie dachte, sie hätte endgültig den Verstand verloren.

»Amelie!«, ihre Schwester kam erleichtert und dennoch vorsichtig, auf sie zu. Die Andeutung eines Lächelns lag auf ihrem Gesicht. Als sie Amelie direkt gegenüberstand, spürte diese den entsetzten Blick auf ihrem Körper ruhen und ihr wurde bewusst, dass sie schrecklich aussehen musste. Amelie sah ihr in die Augen und spürte, dass Sophia sich gleichzeitig dafür verantwortlich fühlte. Sie stand weiterhin reglos da. 

Wie kann das sein?, fragte sie sich selbst und schaffte es nicht, die Worte mit ihren Lippen zu formen.

Sophia deutete ihren misstrauischen Blick und sah sie voller Mitgefühl an. »Es tut mir Leid, Amelie. Ich bin es wirklich, deine Schwester. Ich werde dir alles erklären, aber wir müssen hier weg. Komm!«, die Verzweiflung in Sophias Stimme war unüberhörbar.

Bevor Amelie etwas erwidern konnte, musterte sie ihre Schwester eindringlich und berührte sie dabei zaghaft am Arm, als wollte sie sichergehen, dass ihr Kopf ihr keinen Streich spielte. 

Dann schien sie es zu begreifen. Sie sah auf Sophias blutbemalten Hände und ihre helle Bluse, die nun mehr rot war als weiß. Es war zu viel auf einmal. Ihr wurde schummerig und sie hatte Angst, jeden Moment kraftlos auf den Boden zu fallen. 

»Wo ist Tim?«, war das Einzige, dass sie von sich geben konnte. Das Einzige, was zählte.

»Er ist in Sicherheit. Komm, Ami«, sie griff nach Amelies Hand und sie folgten den Lichtstrahlen, welche nun direkt vor ihnen die dunklen Stufen erleuchteten. 

Ende

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