Rike RauchMorsezeichen

1.

Ein schriller Ton drang in Katharinas Traum vor und riss sie brutal in die Realität zurück. Sie blinzelte und sah sich verwirrt um. Wo war sie? Es dauerte einen Augenblick, bis Katharina erkannte, dass sie auf dem Sofa ihrer kleinen Wohnung lag. Die Dämmerung brach bereits herein und der graue Häuserblock vor ihrem Fenster leuchtete nur noch schwach im verwaschenen Rot des Sonnenuntergangs. Sie musste nach der Arbeit eingeschlafen sein. Das kam in letzter Zeit öfter vor. Mühsam richtete Katharina sich auf, drückte ihren schmerzenden Rücken durch und versuchte den Ton zu lokalisieren. Das musste ihr Handy sein!

Noch schlaftrunken drückte sie sich hoch und folgte hinkend dem Klingeln bis zu der Küchenzeile. Ihr Kater Mo war auf die Ablage gesprungen und schaute Katharina vorwurfsvoll an, als sie in ihrer Handtasche nach dem Handy wühlte. „Na Mo, wer ruft uns denn an einem Freitagabend an?“ murmelte sie und bekam endlich das Telefon zu fassen. Es war ein altes Smartphone, das sie sich gebraucht gekauft hatte. Für eines dieser glänzenden dünnen Handys mit riesigem Bildschirm hatte das wenige Geld, das sie mit dem Aushilfsjob verdiente, nicht gereicht. 

Auf dem Display leuchtete der Name ihrer Kollegin Beate auf. Katharina seufzte. Sie hatte keine Kraft mehr, um heute noch eine Putzschicht zu schieben. Doch sie konnte jeden Cent gebrauchen. Mit einem Blick auf ihren leeren Kühlschrank nahm sie den Anruf entgegen. 

„Wie konntest du mir das verheimlichen?“ blaffte Beate. Katharina runzelte die Stirn und sah Mo fragend an. Doch der Kater drückte seine Stirn nur gegen ihre Handfläche und schnurrte leise. 

„Was meinst du damit?“ 

„Jetzt tu nicht so! Na das mit dir und Prinz Charming.“ 

Was meinte Beate nur? Nach einer Nachtschicht klang das zumindest nicht.

„Welcher Prinz Charming? Und was-?“

„Jetzt lüg mich nicht an! Ich dachte wir wären befreundet und würden uns alles erzählen!“ unterbrach Beate sie. „Stattdessen lese ich jetzt in der Affair! davon! Weißt du, ich höre mir deinen ganzen Psychokram an, aber du erzählst mir sowas nicht?“

„Psychokram?“ Katharina erstarrte in der Bewegung. „Du weißt genau, dass Leonie irgendwo da draußen ist. Und was meinst du verdammt?“ Jetzt war auch Katharina gereizt. 

Beate schnaubte in das Telefon. „Keine Ahnung, was in letzter Zeit mit dir abgeht! Aber so langsam wird es mir echt zu viel!“

Katharina wollte etwas erwidern, doch Beate hatte aufgelegt. 

Wütend starrte sie auf die Wand ihr gegenüber. Daran das große Foto ihrer kleinen Schwester Leonie. Und der Pinnwand mit den Spuren, die sie über die Jahre gesammelt und wieder verworfen hatte. Wie hatte Beate das nur „Psychokram“ nennen können? Katharina traten Tränen in die Augen. Beate wusste genau, dass Katharina jede freie Minute damit verbrachte nach Leonie zu suchen. Die Erinnerung an Leonie oft so sehr ihre Gedanken einnahm, dass sie ihre kleine Schwester vor sich spürte und alles um sich herum vergaß. Und was hatte Beate mit der Affair!gemeint? Sie hatte so rätselhaft geklungen, dass Katharina wissen wollte, was es damit auf sich hatte und warum ihre Kollegin so beleidigt war. Was hatte sie gesagt? Dass sie in der Affair! etwas über sie gelesen hatte? Das konnte gar nicht sein, warum sollte die Zeitschrift eine Geschichte über sie bringen? Dafür war Katharina viel zu belanglos. 

Doch dann überwiegte die Neugier und Katharina öffnete die Internetseite der Klatschzeitschrift auf ihrem Handy. Eine Überschrift kam zuerst zum Vorschein. „Erwischt! Betrügt der reiche Hotelerbe Leopold Bach seine Verlobte Tisha Han mit dieser Frau?“ Darunter ein Bild, das jedoch nur langsam lud.

Katharina sog die Luft ein. Das Bild war nun scharf und jeder Pixel stach hervor. 

Und die Pixel summierten sich zu dem Bild einer jungen Frau, die hinter einem Fenster stand. Wie ein Geist. Und dieser Geist sah aus wie Katharina. Sie hielt sich den Bildschirm dicht vor die Augen. Das konnte doch nicht sein! Sie versuchte mehr zu erkennen, als das Foto hergab, doch die Scheibe hinter der Frau spiegelte und verzerrte die Gesichtszüge der Frau, als läge sie unter einer Wasseroberfläche. 

„Leonie!“ flüsterte Katharina. Natürlich! Wie hatte sie sie nicht gleich erkennen können. Angst und Erregung ballten sich in ihrem Magen zu einem dichten Klumpen zusammen. Ihre Schwester Leonie lebte! Katharina hielt sich den Bildschirm so dicht vor die Augen, dass ihre Nasenspitze das Gehäuse berührte. Doch ihre Finger begannen so stark zu zittern, dass sie nur bunte Schlieren wahrnahm. Aber für Katharina gab es keinen Zweifel. Die geisterhafte Frau hinter dem Fenster, die ihr so ähnlich sah wie ein eineiiger Zwilling, musste ihre Schwester sein. 

„Was haben Sie mit dir getan?“ flüsterte Katharina und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

 

2.

Katharina hörte dem Polizisten an, dass er am liebsten wieder aufgelegt hätte. „Ach Sie schon wieder.“ Murmelte er und im Hintergrund war ein dichtes Netz aus den murmelnden Stimmen seiner Kollegen und einer schlechten Radiobeschallung zu hören. Katharina erkannte die gedämpfte Stimme der Radiomoderatorin sofort. Beate drehte den Sender immer zum Putzen auf. Auch ohne die Chemikalien und die Klobürste in ihrer Hand bekam Katharina von der Stimme Kopfschmerzen. 

Und ihre Finger hatten noch immer nicht aufgehört zu zittern. Sie brauchte unbedingt eine Zigarette. So konnte sie sich nicht konzentrieren. Fahrig huschten ihre Gedanken wild umher, blieben kurz bei dem Foto auf ihrem Handy hängen, sprangen dann zu Mo, der ihr den Arm leckte, um dann durch ihre spärlich eingerichtete Wohnung zu rasen und schließlich in den Augen von Leonie hängen zu bleiben. In der Kinderversion von Leonie, dem Alter in dem sie für tot erklärt wurde, nach dem es keine Erinnerungen mehr von ihr gab. 

 

„Diesmal weiß ich es wirklich!“ flehte Katharina und verachtete sich selbst für den unterwürfigen Ton. Doch einer wie ihr glaubte man nicht. „Bitte!“

Der Polizist grummelte und Katharina lauschte mit pochendem Herzen dem Knistern, als er sich über den Bart fuhr. 

Diesmal ging es um alles. Diesmal war es nicht eine ihrer Visionen oder Träume. Sie hatte einen Beweis. Das Foto. Unentwegt tippte sie auf den Bildschirm, aus Angst, dass das Bild verschwinden würde.

„Und welche Spur haben Sie diesmal?“ fragte er träge.

„In dieser Zeitschrift, der Affair!, das ist diese Klatschzeitschrift…“

„Ich weiß, was das ist, kommen Sie bitte zum Punkt!“ wieder drang das Knistern aus ihrem Handy. Und Katharina war sich nicht mehr sicher, ob er sich wirklich über den Bart strich, oder gerade etwas aß. Die anfängliche Euphorie verwandelte sich in ein bitteres Sodbrennen. Er würde ihr nicht glauben. Wieso sollte es dieses Mal anders sein? Sie würden nichts unternehmen. Kein Spezialkommando in das Hotel schicken, um Leonie zu befreien. Denn darin war sich Katharina sicher, ihre kleine Schwester wurde gefangen gehalten. Das Handy rutschte ihr aus der zitternden Hand. Die Polizei würde nichts unternehmen. Und Leonie musste unter schrecklichen Qualen leiden. Wer wusste, ob sie überhaupt noch lebte? 

„Nein!“ flüsterte Katharina und rutschte neben dem Handy auf die aufgeplatzten Fliesen hinab. „Ich muss sie befreien!“

 

3.

Das Hotel erhob sich illuminiert aus dem Schwarz der Nacht heraus. Vom Haupthaus streckten sich zwei lange Flügel auf dem weitläufigen Grundstück aus, zu dessen Seiten kunstvolle Buchsbaumskulpturen aufgereiht waren. Durch die Lücke in der dichten Hecke konnte Katharina nur einen eingeschränkten Blick auf dem Protz hinter den Hotelfenstern erhaschen. Doch sie wusste, wer sich dahinter befinden musste. Georg Bach. Sie hatte bis zum Anbruch der Nacht alles über das Hotel und seinen reichen Eigentümer gelesen, was das Internet hergab. Bach war ein wohlhabender Geschäftsmann Mitte Fünfzig, der nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern vor zwanzig Jahren das Hotel geerbt und zu einem erfolgreichen Luxusresort transformiert hatte, in dem laut Werbeslogan alle Wünsche erfüllt würden. Die Fotos von ihm hatten Katharina an einen Geier erinnert. Seine Augen lugten kaum unter den dichten Augenbrauen hervor und der Nasenrücken ragte steil dazwischen heraus, nur um sich dann zu einem Höcker zu krümmen. Doch in den Artikeln wurde Bach in den höchsten Tönen gelobt. Er galt als Wohltäter und veranstaltete regelmäßige Benefizveranstaltungen und Feiern für Heimkinder. Noch mehr Trubel als um Georg Bach gab es nur um seinen Sohn Leopold, seit dieser mit dem international erfolgreichen Model Tisha Han zusammengekommen war. Für dessen Affäre die Paparazzi Leonie gehalten haben mussten. Und nicht für die Gefangene, die sie eigentlich war. Leopold schwamm sichtlich im Geld seines Vaters und posierte auf seinem Social-Media-Kanal mit Armbrüsten neben erlegten Raubkatzen, die den Fehler begangen hatten auf Safaris seinen Weg zu kreuzen. Auf einem anderen schnitt er ein Steak an, das von einer dünnen Schicht Gold bedeckt war. Katharina fühlte sich bei den Fotos, als würde sie durch eine Glaskugel in eine andere Welt blicken. So fern war all das für sie. Und die Dekadenz von Leopold widerte sie an. Katharina würde niemals in ihrem Leben auch nur ansatzweise so reich und überheblich sein wie er. Und unbeschwert skrupellos. 

 

Vor ihr knisterte leise der elektrisch durchzogene Gitterzaun, dahinter die dichte Hecke. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und starrte auf die obere Kante mit dem dichten Stacheldraht.

„Hier komme ich niemals rein.“ Dachte Katharina. „Erst recht nicht mit meinem Bein.“ Sie streckte mit angehaltenem Atem einen Finger nach den Gitterstäben aus. 

Obwohl sie damit gerechnet hatte, traf der Stromschlag sie unerwartet. 

„Autsch!“ Katharina zuckte zurück. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Wenn sie schon das Grundstück so sehr sicherten, dann mussten sie dort drinnen mehr zu verbergen haben als reiche Hotelgäste, die nicht in ihrer Privatsphäre gestört werden wollten. Katharina versuchte erneut durch das Loch in der Hecke zu blicken, doch alles was sie sah, war nur das verlockend funkelnde Licht hinter den großen Fenstern. „Ich hole dich da raus!“ flüsterte sie. Das Bild von Leonie vor ihrem inneren Auge. In der Ferne bellte ein Hund. Aggressiv, aber gedämpft. Ob auch auf dem Grundstück Hunde auf sie lauern würden? Katharinas Hände verkrampften sich bei dem Gedanken. „Konzentrier dich auf Leonie!“ flüsterte sie. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Das Bellen vermischte sich mit dem Rauschen. Und es kam näher. „Leonie!“

Waren die Gesichtszüge von Leonie auf dem Foto in der Affair! schmerzvoll verkrampft gewesen? Wurde ihr jetzt gerade Gewalt angetan? Das Bild von Leopold mit seiner Armbrust schob sich vor ihr inneres Auge. Was, wenn es ihn langweilte nur noch Tiere zu jagen? Katharina wurde schlecht bei dem Gedanken. Schnell streifte sie sich ihre dicken grünen Gummihandschuhe über. Dann atmete sie ein letztes Mal tief ein. 

 

Der Knall war Ohrenbetäubend. Sie hatte es noch nicht einmal bis zur Hälfte des Zauns geschafft. Der elektrische Schlag schleuderte sie brutal auf den Boden. Katharina fühlte sich, als wäre sie in einen Grill geraten, während sich ihre Gliedmaßen verkrampften. Ihr Schrei und das Rasen ihres Herzens waren das letzte, was sie noch wahrnahm. Dann wurde es schwarz.

 

4.

„Es tut mir so leid.“ Sagte eine Frauenstimme leise. „Sie hat den Tod von Leonie nie verkraftet.“ 

Katharina schlug blinzelnd ihre Augen auf. Sie spürte eine Bank unter sich. Über ihr flackerte eine Leuchtstoffröhre. Die Haare klebten ihr nass an den Schläfen. Dann erkannte sie die Stimme ihrer Mutter. Katharina presste ihre Augen wieder fest aufeinander.

„Sie müssen wissen, dass es nicht das erste Mal ist, dass sie sich in so einen Wahn hereinsteigert.“ Ihre Mutter seufzte. Ob ihr Vater auch dabei war? Oder war er aus Scham zu Hause geblieben? 

„Sie ist einmal in ein Haus eingebrochen, weil sie davon überzeugt war, Leonies Stimme aus dem Keller zu hören.“

„Und…“ Katharina erkannte die Stimme des Polizisten mit dem kratzigen Bart wieder. „Ihre andere Tochter ist vor zwanzig Jahren verschwunden?“

Jetzt stieß ihre Mutter ein leises Wimmern aus. „Es ist so schrecklich. Katharina hat sich immer die Schuld für Leonies Tod gegeben und hat ihn dadurch irgendwann verdrängt. Diese Schübe und Halluzinationen sind jetzt erst in den letzten Jahren aufgekommen.“

Katharina lag steif auf der Bank. Und mit einem Mal strömten wieder die Bilder auf sie ein. Leonie, die ihre kleine weiche Hand nach ihr ausstreckte. Leonie, die sie überredete, dass sie im Wald spielen gingen. Also schlichen sie sich aus dem Haus. Katharina war schließlich schon acht. Sie konnte auf ihre kleine Schwester aufpassen. Der Wald war eine kühle Abwechslung in der Sommerhitze. Nur wenige Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die Blätter und kleine Zweige knackten leise unter ihren Füßen. Ihr Kichern wurde von den dichten Bäumen verschluckt und Leonies Zöpfe hüpften mit jedem Schritt auf und ab. Es waren nur wenige andere Menschen in diesem Wald unterwegs. Und dem schmalen Pfad in Richtung Wald war ihnen diesmal nur ein Mann entgegengekommen, der mit seiner moosgrünen Lodenjacke aussah wie ein Jäger. Katharina hatte Leonie zu ihrer Lieblingsstelle gezogen. Einer kleinen Lichtung an einem Fluss, hier hatten sie schon oft ihr Spiel gespielt. Eine Variation von Topfschlagen. Leonie versteckte sich und sobald Katharina zu suchen begann, klopfte Leonie ihren Code auf den Stamm. Dreimal schnell hintereinander, eine kurze Pause, dann zwei weitere Schläge. Ihre Version von „Heiß“ und „Kalt“. Und Katharina versuchte dem Geräusch zu seinem Ursprung zu folgen. Vor Aufregung kribbelten ihre Finger und wenn sie so aufgeregt war wie bei diesem Spiel, spürte sie auch kaum die Schmerzen in ihrem steifen Bein. 

Sie hielt sich die Augen zu und zählte laut herunter. Leonie kicherte leise neben ihr, dann raschelte es nur noch, während Leonie sich im Unterholz versteckte. 

Katharina öffnete die Augen. 

Ihre Mutter starrte sie an. Neben ihr der Polizist, ebenfalls mit weit aufgerissenen Augen. 

„Es ist alles gut!“ sagte ihre Mutter und strich Katharina über die eiskalte Stirn. „Du hast geschrien.“ Sie musterte sie traurig. 

„Wissen Sie, wo Sie sind?“ fragte der Polizist. Er klang alles andere als freundlich. Und zwirbelte sich an seinem beeindruckenden Schnurrbart herum. „Aha! Daher kommt also das Knistern!“ schoss es Katharina in den Kopf. Dann nickte sie. „Und Sie wissen auch, warum Sie hier sind?“ in der Hand hielt er ein Klemmbrett. 

„Sie haben Hausfriedensbruch begangen.“ Kam er einer Antwort zuvor. Katharinas Mutter sog scharf die Luft ein. „Muss man es denn so bezeichnen?“ fragte sie. „Katharina ist verwirrt. Sie kommt kaum alleine im Alltag zurecht. Und seit sie diese Halluzinationen hat…“

„Leonie wird von ihm gefangen gehalten!“ platzte es aus Katharina heraus. Ihre Mutter schluchzte erneut und strich Katharina zitternd über die Handfläche. Der Polizist hob wissend eine Augenbraue. „Ah ja? Vielleicht kann Herr Bach sich ja selbst dazu äußern. Und uns dann auch darüber in Kenntnis setzen, ob er Anzeige gegen Sie erstatten möchte.“ 

„Er ist hier?“ Katharina richtete sich so schnell auf, dass ihr Kopf schmerzhaft pulsierte und ihre Mutter hinter einem dichten Flimmerfilm verborgen wurde. 

Der Polizist öffnete eine Tür. Katharina sah panisch zwischen ihm und ihrer Mutter hin und her. 

„Mama nicht!“ ihre Stimme klang schrill. „er hat Leonie. Und die Armbrust und…“

Georg Bach trat in das kleine Vernehmungszimmer. 

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Katharina ihn an. Er kam ihr vor wie die Erscheinung von einem bösen Geist. In echt sah er noch geierhafter aus. Sein teurer Dreiteiler unterstrich diesen Eindruck. 

Zu ihrem Erstaunen breitete er die Arme aus und lächelte einnehmend. Hatte er gerade ihrer Mutter zugezwinkert? Hasserfüllt starrte Katharina ihn an. Es war unmöglich, dass sie sich irrte. Andererseits fühlte sie sich gerade wie ausgewrungen. Und dann die Bestimmtheit und Trauer in der Stimme ihrer Mutter. Was konnte sie überhaupt noch glauben?

„Und sie ist also die Arme, die…“ er beendete den Satz nicht, sondern sah den Polizisten nur wissend an. 

„Ja Sir, äh ich meine Herr Bach!“ sagte der Polizist und Katharina hätte sich nicht gewundert, wenn er stramm salutiert hätte. „Es tut mir sehr leid, dass sie wegen dieser Verrückten solche Umstände hatten!“ Katharina hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt. Doch sie fühlte sich erstarrt. Konnte den Blick nicht von diesem Monster abwenden.

Katharinas Mutter räusperte sich. 

„Wir würden Ihr Angebot sehr gerne annehmen.“ Sagte sie leise. Katharina wandte sich ihr zu. Wovon sprach sie da? 

Georg Bachs Zähne funkelten weiß, als er breit lächelte. „Das freut mich wirklich sehr zu hören.“

Und dann griff er nach Katharinas Hand. 

„Sie wird sich in meinem Hotel sicherlich sehr gut erholen.“ Katharina starrte auf seine Hand, nahm die dunklen Härchen und ersten Altersflecken auf dem Handrücken wahr. Spürte die Kälte, die durch seine Haut strömte. Sie erschauderte. Doch war unfähig sich zu rühren. Sie war wieder Katharina, die Einfältige, die Verrückte, die, von der erwartet wurde, dass sie Gesprächen nur schweigend beiwohnte. Deren Bemerkungen nie zu einem sinnvollen Gespräch beitrugen. Katharina, die entmündigt werden konnte. Es fühlte sich so an, als würde Bach ihr nicht nur ihre Wärme, sondern auch ihre Worte aussaugen. 

Bach lächelte ihrer Mutter erneut zu. 

„Es bestürzt mich sehr, dass die Arme…“ jetzt tätschelte er ihre Hand. „sich eingebildet hat, dass ich ihre Schwester entführt hätte.“

Katharinas Mutter seufzte und sah ihn entschuldigend an. 

„Ich fühle mich auch ein wenig verantwortlich. Durch diesen ganzen Rummel um Leopold werden sehr viele verwirrte Menschen angezogen.“ er drückte Katharinas Hand so fest, dass sie beinahe aufgeschrieben hätte. 

„Es ist gut, dass Sie mein kleines Angebot annehmen und Katharina in meinem Hotel neue Kraft tanken wird.“ Das Lächeln auf seinem Gesicht war eingefroren.

„Nein!“ schrie Katharina innerlich. „Versteht ihr denn nicht?“

„Sie sind ein noch besserer Mensch als immer gesagt wird.“ Die Augen ihrer Mutter glänzten feucht und sie schnaubte geräuschvoll in ein Taschentuch. Der Polizist nickte energisch und zwirbelte angetan seinen Schnurrbart. 

Dann nickte ihre Mutter ihr aufmunternd zu. Katharina wollte schreien. Doch eine eiskalte Faust schloss sich um ihr Herz und schnürte ihr die Luft ab.

 

5.

Das Hotel überstieg ihre Vorstellungskräfte um ein Vielfaches. In der Lobby ragte eine gläserne Säule mehrere Stockwerke empor, Schwärme kleiner bunter Fische schossen darin durch das Wasser. Auf der Fahrt hatte Katharina sich ein wenig beruhigt. Der Ausblick auf die trostlose platte Landschaft vor den Fenstern übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Vielleicht hatte ihre Mutter ja recht. Und sie steigerte sich zu sehr in die ganze Sache rein? Oder sie bildete sich das alles sogar nur ein? Doch durch den Gedanken bekam sie Schuldgefühle gegenüber Leonie. Als würde sie ihre kleine Schwester damit einfach aus ihrer Erinnerung radieren. „Sie wird hier drinnen gefangen gehalten!“ zischte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Katharina versuchte sie zu ignorieren und starrte angestrengt auf die Fischschwärme. Welcher Mensch hatte eine meterhohe Wassersäule mit Fischen in seinem Hotel? Und auch sonst sprudelte die Lobby vor Protz über. Hinter der Säule erkannte sie ein altes Porschemodell, das zu einer riesigen Blumenvase umfunktioniert worden war. Daneben saß eine Frau an einer Harfe. Die Melodie drang leise zu ihr vor. Ein Mann, er musste ein Angestellter sein, trat an Katharina heran und signalisierte ihr, ihm zu folgen. Eine weitere Angestellte nahm ihr lächelnd die Tasche und Jacke aus der Hand. Der Mann führte sie einen langen Flur hinunter. Die Harfentöne wurden immer leiser und schließlich komplett von dem dichten Teppich verschluckt. Erstaunt starrte Katharina zahlreiche Jagdtrophäen an, die so dicht hingen, dass sie die Wände fast komplett bedeckten. Es war alles dabei. Von heimischen Wildtieren bis hin zu ausgestopften Büffel- und Antilopenköpfen. Wo war sie hier nur hingeraten?

Der Mann war vor einer großen Flügeltür stehen geblieben und signalisierte ihr wortlos, einzutreten. Leise schloss er die Tür hinter ihr. Es fühlte sich an wie in ein Vakuum zu treten.

 

6.

Sie befand sich in einem Zimmer, das aussah wie eine kleine Bibliothek. Deckenhohe Bücherregale aus dunklem Holz bedeckten die Wand vor ihr. Sie waren gefüllt mit alten Büchern, Ordnern und Kisten. Es roch nach Holz und alten Büchern. Es gab nur ein schmales Fenster, das kaum breiter war als Katharinas Schultern. Ihr gegenüber stand ein massiver Schreibtisch. 

Der Sessel dahinter sah einladend aus. Zögernd durchquerte Katharina das Zimmer. Anders als im Flur war hier Parkett ausgelegt und ihr hinkendes Bein schleifte laut über das Holz. Mit einem Mal fühlte sie sich furchtbar müde und erschöpft. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie das Foto mit der Frau hinter dem Fenster gesehen und das Hotel von der Hecke aus beobachtet hatte. Seufzend umrundete sie den Schreibtisch und ließ sich dann in den Sessel fallen. Sie wollte die Augen schließen. Nur für einen kurzen Augenblick. Ihr Kopf dröhnte noch immer und ihre Muskeln schmerzten, als hätte sie einen Dauerlauf hinter sich. 

Sie streckte ihre Arme aus und machte es sich auf der Sitzfläche bequem. Doch auch wenn ihr Körper nach einer Pause schrie, war ihr Geist hellwach. Etwas fühlte sich unstimmig an in diesem Hotel, in diesem Raum. Doch Katharina konnte nicht greifen was es war. Nervös huschte ihr Blick hin und her, war auf der Suche nach der Interferenz, dem Störton. Dann fiel ihr Blick auf die kleinen gerahmten Fotos auf dem Schreibtisch. Darauf Georg Bach und sein Sohn Leopold. Das hier war also Bachs Arbeitszimmer. Warum sollte sie gerade in dieses Zimmer gehen? Unschlüssig zog sie eine der Schubladen unter dem Schreibtisch auf. Darin mehrere Zeitungsartikel. Katharina schloss sie wieder. Dann fiel ihr Blick auf ein Foto, das hinter den anderen Rahmen stand. Jeder Muskel spannte sich an und mit einem Mal war sie ganz klar in ihrem Kopf. 

Auf dem Foto posierte Georg Bach in Jägertracht und mit Gewehr. Er sah darauf jung aus und das Foto war an den Kanten bereits leicht vergilbt, es musste also schon vor etlichen Jahren aufgenommen worden sein.

Und Georg Bach trug einen moosgrünen Lodenmantel.

So wie der Mann, der ihnen an dem entscheidenden Tag entgegengekommen war. 

„Ich komme!“ hatte Katharina gerufen und noch einmal den Geruch nach Gräsern und Laub eingeatmet, bevor sie ihre Augen öffnete. Die Lichtung vor ihr war leer. Zielsicher stapfte sie in die Richtung eines umgestürzten Baumstammes. Leonie versteckte sich fast immer dort. 

Doch ihr Code, das Morsezeichen, erklang aus einer anderen Richtung. Unschlüssig blieb Katharina stehen und sah sich um. Ging wieder ein paar Schritte, wartete, lauschte. Doch diesmal erklang kein Code, sondern nur ein lautes Rascheln. „Du musst schon klopfen!“ rief Katharina, nun etwas ungehalten. Ziellos stapfte sie auf der Wiese umher und spähte in das Unterholz. Allmählich nervte es sie, dass sich Leonie nicht meldete. Und sie ihre kleine Schwester nicht fand. 

„Okay, lass uns aufhören zu spielen, komm aus deinem Versteck!“ 

Doch das einzige was sie hörte, war der Widerhall ihrer eigenen Worte. Als dieser verebbt war, schwieg der Wald sie an. Und es blieb dabei.

Die Polizei nahm später an, dass Leonie bis zu dem Bach gelaufen war. Sie konnte noch nicht so gut schwimmen und der Fluss hätte ihre Leiche weit forttragen können.

„Aber so war es nicht.“ Flüsterte Katharina und versuchte sich an den Mann im moosgrünen Lodenmantel zu erinnern, der ihnen auf dem schmalen Pfad in den Wald entgegengekommen war. Aber Katharina hatte nicht auf ihn geachtet, sondern sich Leonie zugewandt. 

Einem Instinkt folgende riss sie die Schublade noch einmal auf und verteilte die Zeitungsartikel auf dem glatten dunklen Schreibtisch. 

Als sie die Überschriften las, erstarrte Katharina. Die eiskalte Faust schloss sich wieder um ihr Herz. „Junge Frau bei Jagdunfall tödlich verletzt.“ Las sie stumm mit. „Zwei Kinder aus dem Waisenhaus verschwunden. Zuletzt auf Benefizveranstaltung gesehen.“

Die Erkenntnis durchbohrte sie. Sie hatte von Anfang an das richtige Gefühl gehabt. Georg Bach musste Leonie verschleppt haben. Und anscheinend war sie nicht die einzige. Entsetzt blätterte Katharina die Artikel durch. Es waren zahlreiche. Mit jedem weiteren wurde ihr schlechter. Wie viele Kinder hatte der reiche Hotelier verschleppt? Und was hatte er mit ihnen getan? 

Das Bild des Gewehres drängte sich auf ihre Netzhaut. Und die Armbrust. 

 

Schreiend sprang Katharina auf. Der Sessel kippte um und schlug krachend auf dem Parkett auf. Sie musste hier raus! Wie hatte sie sich nur überzeugen lassen in die Höhle des Löwen zu gehen! Sie musste sich in Sicherheit bringen, dann die Polizei informieren. Angst kroch ihr kalt die Arme hoch. Katharina hastete zur Tür. 

Sie war verschlossen. 

„Macht auf!“ brüllte sie und rüttelte daran. Doch keine Reaktion. Vor Verzweiflung stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie war eingesperrt. Gefangen. Die Maus war in die Falle gelaufen. 

Das Fenster! Katharina löste sich von der Tür und durchquerte keuchend den Raum. Sie versuchte das Fenster zu öffnen, doch der Griff ließ sich nicht bewegen. 

Vor Entsetzten schrie Katharina erneut auf. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht und sie taumelte zurück. Leopold Bach war vor das Fenster getreten. Eine Armbrust im Anschlag. Katharina durch das Glas in seinem Visier. 

Todesangst durchfuhr sie und Katharina konnte sich kaum aus ihrer Starre lösen. Leopold starrte sie aus kalten Augen an. Machte Georg Bach das alles für ihn? Oder hatte Leopold es sich nur von seinem Vater abgeschaut?

Endlich schaffte Katharina es, sich zu lösen. Kreischend sprang sie zur Seite. „Ich werde sterben!“ Panisch hämmerte sie auf die Wand neben sich ein. Es musste sie doch irgend jemand hören!

„Hilfe!“ rief sie und ihre Stimme klang vor Verzweiflung schrill und verzerrt. Sie hämmerte auf die Wand ein. Schmerz schoss in ihre Handballen. Doch sie musste auf sich aufmerksam machen. 

Und tatsächlich! Zwischen den dumpfen Schlägen hörte sie ein leises Geräusch aus dem Nachbarzimmer.

Katharina hielt inne und presste ihr Ohr an die Wand. Hoffnung flackerte in ihr auf. War dort jemand? Würde sie befreit werden? Doch als sie das Geräusch erkannte, wich Katharina entsetzt zurück. Es gab keine Hoffnung für sie. Und auch nicht für Leonie. Denn Katharina hörte ein leises Klopfen. Dreimal schnell hintereinander. Eine kurze Pause. Dann noch zwei weitere Schläge.   

4 thoughts on “Morsezeichen

  1. Was für eine außergewöhnliche Story.
    Hat mir super gefallen.

    Ach ja, erst einmal ein dickes Hallo…

    … und dann ein großes Kompliment.

    Du hast wirklich Talent.
    Die Geschichte ist perfekt umgesetzt und aufgebaut.
    Die Spannung teilweise greifbar.

    Und das Ende ist genial.
    Eine Wucht.

    So müssen Kurzgeschichten enden, und nicht anders.
    Sie lassen den Leser in der Luft hängen, lassen ihn mit seiner Fantasie allein.
    Auf diese Weise wirkt die Geschichte nach.
    Wird zum Gegenstand des eigenen Denkens.
    Bravo.

    Du hast dir ein hartes Thema ausgesucht. Ein brutales. Aber du hast es erstaunlich gut umgesetzt.
    Dennoch ist vieles, was du schreibst emotional natürlich der blanke Horror.

    Dein Stil ist sicher, souverän und professionell.
    Du schreibst mit dem Wissen, dass du es kannst.
    Da spürt man die Erfahrung.
    Die Selbstsicherheit.

    Nochmal DANKE für die tolle Geschichte.
    Hat mich bewegt und ich denk immer noch an dieses fulminante Ende.

    Wäre interessant, wenn du diese Geschichte weiterschreiben würdest.

    Könnte ich mir auch als Roman oder Film vorstellen.

    So, dann mach es mal gut.
    Auf deine Geschichte kannst du jedenfalls stolz sein, und mein Like ist dir sicher.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Ich würde mich sehr freuen, wenn du meine Geschichte auch lesen würdest. Deine Meinung interessiert mich brennend.

    Meine Geschichte heißt: “Die silberne Katze”.

    Danke!!!

  2. Hallo Rike,
    man merkt beim Lesen, das du Erfahrung beim schreiben hast. Echt klasse deine Geschichte, so flüssig und anschaulich geschrieben, ich mag deinen Schreibstil. Der Plot den du dir ausgedacht hast ist auch richtig gut. Bei den letzten Morsezeichen bekam ich richtig Gänsehaut. Den Spannungsbogen hast du echt gut gehalten, ich konnte nicht aufhören zu lesen, wollte unbedingt den Schluss erfahren. Liebe Rike mein ❤ lasse ich dir sehr gerne da und hoffe, dass es noch viele mehr werden. Mach ein wenig Werbung für deine Geschichte und schau bei @wir_schrieben_zuhause mal vorbei. Da sind viele die an diesem Projekt teilgenommen haben, kannst dich austauschen und vorallem deine Geschichte bekannt machen 😊
    Liebe Grüße frechdachs 🙃

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