LettiBüße!

„Ich habe noch nie ein schlechtes Date gehabt.“

Ein lautes Stöhnen ging durch die Runde. Alle griffen nach ihrem Schnaps und tranken ihn, so wie auch ich, in einem Zuge aus. In mir zog sich Alles zusammen, als der herbe Kräuterschnaps sich den Weg in Richtung meines Magens bahnte.

„Wenn wir weiter solche Mainstream-Aussagen benutzen, falle ich bald vom Stuhl“, beschwerte ich mich und musste mich regelrecht schütteln als sich das brennende Gefühl in meiner Kehle ausbreitete. Ich nahm einen großen Schluck Wasser um es zu neutralisieren. Das war nun der neunte Schnaps nach elf Aussagen innerhalb kürzester Zeit. Dieses Trinkspiel war Innas Idee gewesen. Sie war neu in unserer Clique und sie war die neue Freundin von Paul. Solange ich Paul kannte, und das waren mittlerweile schon gut zwei Jahre, war er Single. Deshalb waren wir hoch erfreut als er uns erzählte, dass er sich mit einer Frau traf und dass es etwas Ernstes werden könnte. Seit drei Monaten gingen die beiden nun miteinander und heute war es das erste Mal, dass wir sie endlich kennenlernten. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätte dies schon viel früher passieren können. Schließlich trafen wir uns fast jedes Wochenende. Eva und Benni, Jan und ich und eben Paul. Doch Inna brauchte noch etwas Zeit, meinte Paul. Wir fanden das schräg, doch hinterfragten es nicht.

Der erste Eindruck von ihr war seltsam. Ich fühlte mich unbehaglich in ihrer Nähe und verstand nicht, was Paul an ihr fand. Sie sah zwar gut aus, aber sie redete kaum und beobachtete mich die ganze Zeit. Zumindest hatte ich das Gefühl. Immer wenn ich zu ihr hinüber sah, trafen sich unsere Blicke und anstatt wegzuschauen, fixierte sie mich. Es war mir mehr als unangenehm.

„Ich hoffe das schlechte Date hattest du nicht mit mir“, sagte Jan und stupste mir liebevoll in die Seite.

„Niemals! Mit dir ist jeder Moment wundervoll“, antwortete ich und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund.

„Ich bin wieder dran!“, rief Inna in die Runde und räusperte sich lautstark. Überrascht von ihrem plötzlichen Ausruf, löste ich mich von Jan und sah zu ihr hinüber. Wieder fixierte mich ihr Blick. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Warum sah sie mich nur die ganze Zeit so an?

„Ich habe noch nie einen Anruf auf dem Handy meines Partners angenommen, der nicht für mich bestimmt war.“

Nachdem Inna die Aussage getroffen hatte, hielt sie ihren Blick weiter starr auf mich gerichtet. Ihre Augen verengten sich, als würde sie versuchen jede noch so kleine Regung bei mir zu registrieren. Mein Herz begann zu rasen. Beunruhigt rutschte ich auf dem Stuhl hin und her. Meine Hände fühlten sich feucht an. Ich wandte den Blick von ihr ab. Konzentrierte mich auf das Glas vor mir, das von Benni erneut bis oben hin mit Schnaps gefüllt worden war und welches ich hätte austrinken müssen, aber ich tat es nicht. Ihr Blick bohrte sich weiter tief in mich hinein. Ich hatte das Gefühl ihm nicht entfliehen zu können.

„Also das ist definitiv nicht Mainstream! Aber anscheinend respektieren wir alle die Privatsphäre unseres Partners. Schade! Du musst trinken“, sagte Benni augenzwinkernd zu Inna.

„Es macht den Anschein, ja“, erwiderte Inna und griff nach ihrem Schnapsglas.

Anstatt es gleich zu leeren, sah sie wieder zu mir und prostete mir mit einer Armbewegung zu. Diese Bewegung war so beiläufig, dass niemand außer mir sie wahrnahm.

Wusste sie etwa, dass ich gelogen hatte? Ich hatte einen Kloß im Hals und das Schlucken fiel mir schwer, aber ich bemühte mich weiterhin entspannt zu wirken. Durch eine ruhige Atmung versuchte ich meinen Herzschlag zu regulieren, doch es klappte nicht. Mein Herz pochte heftig gegen meine Brust und in meinem Magen schien der Alkohol auf Hochtouren zu kommen. Mir wurde übel.

„Ich brauche eine Pause. Ich bin kurz eine rauchen. Kommst du mit?“, sagte ich und warf meinem Freund einen flehenden Blick zu. Er nickte und griff nach meiner Hand, als ich bereits dabei war mir meine Jacke, die bis eben noch über meinem Stuhl gehangen hatte, hektisch anzuziehen. Seine Berührung kam genau richtig. Sie erdete mich.

„Alles gut bei dir?“, fragte er als wir beide allein auf dem Balkon standen.

„Ja. Nein. Ich weiß nicht. Es ist Inna. Sie ist komisch“, antwortete ich und durchsuchte meine Jackentasche nach den Zigaretten und dem Feuerzeug.

„Finde ich auch. Außerdem kommt sie mir bekannt vor, aber mir fällt nicht ein woher. Und dann dieses Kleid, was sie trägt…“

Die Zigaretten hatte ich gefunden, doch von meinem Feuerzeug fehlte jede Spur. Ich durchsuchte nochmal alle meine Taschen und fragte: „Was ist mit dem Kleid?“

„Es erinnert mich an meine Ex.“

Mein Mund war binnen Sekunden ausgetrocknet als er sie erwähnte.

„Ich weiß nicht, vielleicht spinne ich auch, aber ich glaube, dass sie genau das gleiche damals getragen hat. Bei der Beerdigung, weißt du?“

Wir redeten bereits sehr leise, um nicht Gefahr zu laufen, dass uns jemand hören konnte. Doch sein letzter Satz war nur noch ein Flüstern.

„Was? Bist du dir sicher?“

„Nein. Es ist fast ein Jahr her und ich war an dem Tag völlig neben der Spur. Ich habe mich von ihr getrennt, um mit dir zusammen zu sein. Ich wusste zwar, dass es ihr schlecht ging. Aber doch nicht, dass es so schlimm war. Ich habe mich schuldig gefühlt und trotzdem luden mich ihre Eltern zu ihrer Beerdigung ein. Und dann sah ich sie da in diesem Sarg. Vielleicht war es auch ein anderes Kleid und ich sehe nur Gespenster oder es ist nur ein dummer Zufall.“

Ich erinnerte mich an den Tag der Beerdigung und wie mulmig mir war, dass Jan dorthin gegangen war. Sie waren drei Jahre zusammen gewesen und Jan hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern, auch nach ihrem Tod. Doch das war nicht der Grund für mein Unbehagen gewesen. Auch mich belastete ihr Selbstmord.

„Wo ist nur dieses scheiß Feuerzeug!“

Ich durchwühlte mittlerweile noch hektischer meine Jacke.

„Vielleicht in deiner Handtasche? Ich gehe mal gucken.“

Während Jan zurück in die Wohnung gegangen war, schloss ich meine Augen und sog tief die kühle Herbstluft in meine Lungen. Die Übelkeit meldete sich zurück und ich war bemüht ihr nicht nachzugeben. Jans Worte weckten Erinnerungen in mir, die ich lange Zeit gut verdrängen konnte. Bis heute. Ich schloss die Augen, doch plötzlich hörte ich ihre Stimme, ihr verzweifeltes Flehen in meinem Kopf. Ich musste mich ablenken und holte mein Handy aus der Jackentasche in der Hoffnung, dass es damit funktionieren würde.

„Was ist das für ein Handy?“

Ich zuckte zusammen als ich Jans Stimme hörte.

„Was meinst du?“, fragte ich und drehte mich zu ihm.

Er stand an der Balkontür. Das Feuerzeug in der einen und ein silbernes Smartphone in der anderen Hand.

„Dieses Handy hier. Das war in deiner Handtasche.“

„Das kann nicht sein“, erwiderte ich, steckte mein Handy zurück in meine Jackentasche und nahm ihm das andere aus der Hand. Es hatte überall Kratzer und schien in die Jahre gekommen zu sein. Ich hatte keine Ahnung, wem dieses Handy gehörte und wie es in meine Handtasche geraten war.

„Ich habe das noch nie gesehen. Das ist nicht meins. Vielleicht gehört es drinnen jemandem.“

Noch bevor Jan etwas erwidern konnte, drückte ich mich an ihm vorbei und ging an den Tisch zu den anderen. Doch auch ihnen war das Handy fremd.

„Schau doch mal, ob es sich entsperren lässt“, sagte Benni und war nun der Letzte, der neugierig an mich herangetreten war.

Ich strich mit meinem Zeigefinger über das Display nach oben und gelang sofort ins Menü. Auf den ersten Blick schien es wenig genutzt. Es gab nur einige Apps und auch das Hintergrundbild schien zum Standardrepertoire zu gehören.

„Öffne die Nachrichten. Vielleicht erfahren wir dann wenigstens den Namen des Besitzers“, schlug Paul vor.

Ich drückte auf das entsprechende Symbol, doch es öffnete sich nur ein Zahlenfeld.

„Komisch! Das scheint gesperrt zu sein. Wahrscheinlich kannst du es nur mit einem Pin öffnen. Klick dich mal durch und gucke, ob das überall so ist.“

Ich ging Pauls Aufforderung nach und arbeitete mich durch das Menü. Doch alles, was uns einen Einblick über den Halter hätte geben können, war verschlüsselt. Alles bis auf die Fotos. Eine Mischung aus Unbehagen und Neugier packte mich. Ich öffnete den ersten und einzigen Ordner. Vier Bilder waren darin, die sich auf den ersten Blick alle ähnelten. Ich tippte auf das erste Bild, um es zu vergrößern und erschrak. Darauf waren zwei Personen zu sehen. Eine davon war ich.

„Was soll das?“, fragte Jan, der die ganze Zeit hinter mir gestanden hatte und riss mir das Handy aus der Hand.

„Das bist ja du, Helena. Und wer ist dieser Typ?“

Ich stand wie angewurzelt da und war unfähig etwas zu sagen.

„Los, ich will eine Erklärung! Wer ist das?“

Erst durch den Blick in Jans zornige Augen konnte ich mich aus meiner Starre lösen.

„Ich weiß es nicht. Ich kenne diesen Mann nicht.“

„Das bist aber du, Helena. Unverkennbar! Und du lehnst deinen Kopf an die Schulter dieses Mannes. Also sage mir nicht, dass du ihn nicht kennst“, sagte Jan vorwurfsvoll.

Die anderen hatten sich wieder an den Tisch gesetzt. In der Luft lag eine Mischung aus Entsetzen und Verlegenheit.

„Ich kann mich an die Situation erinnern, aber nicht an den Mann. Ich war da mit meinem Vater. Ich saß mit ihm auf der Parkbank. Aber das ist nicht mein Vater und ich weiß nicht, wer das sein soll. Diesen Mann habe ich noch nie zuvor gesehen. Bitte, du musst mir glauben!“

„Ich sehe, dass das nicht dein Vater ist. Das ist irgendein Typ und ich will wissen, was da zwischen euch läuft! Also hör auf mit dem Schauspiel. Nutzt du dieses Handy, um mit ihm zu kommunizieren? Damit ich es nicht merke?“, fragte Jan schrill.

Seine Augen füllten sich immer weiter mit Wut.

„Nein, das ist nicht mein Handy. Wenn das mein Handy wäre, hätte ich doch niemals die Bilder geöffnet, wenn ich gewusst hätte, was da drauf ist. Diese Fotos hat eine dritte Person gemacht und der wird dieses Handy gehören. Der Mann da neben mir, der ist mir fremd und diese Bilder muss jemand bearbeitet haben. Das ist die Wahrheit.“

Ich nahm ihm das Handy aus der Hand und hielt es ihm näher vors Gesicht und hoffte, dass er erkennen würde, dass es sich um eine Fälschung handeln muss. Doch er zweifelte nicht an der Echtheit. 

„Warum sollte jemand so etwas tun? Ich habe genug gesehen und gehört. Lass mich einfach in Ruhe!“, sagte Jan und bewegte sich in Richtung Wohnungstür.

„Halt, Jan! Was soll das? Bitte bleib doch.“

Ich wollte ihm nachlaufen, aber wurde am Arm festgehalten.

„Lass ihn gehen, Helena“, sagte Benni ruhig, doch in seinem Blick war die Enttäuschung über mich kaum zu übersehen. 

„Hey, ihr glaubt mir doch oder?“, fragte ich aufgeregt und sah in die Gesichter meiner Freunde, doch alle wichen meinem Blick aus.

„Kommt schon! Was soll das? Ihr kennt mich doch! Ich liebe Jan und würde ihm nie so etwas antun!“

Plötzlich drängte sich ein abscheulicher Gedanke in mir auf.

„War das jemand von euch? Hat jemand von euch mir dieses scheiß Handy in die Tasche getan? Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist das ein verdammt beschissener Scherz! Klärt das gefälligst auf!“, schrie ich.

„Helena, das denkst du doch nicht wirklich oder? Die ganze Situation ist ziemlich überfordernd und ich weiß selbst nicht, was ich glauben soll. Aber wenn du wirklich Jan betrügst…. Sei doch bitte einfach ehrlich“, sagte Benni mit besorgter Miene.

Es schien aussichtslos. Ich griff nach meiner Handtasche, verstaute das mir fremde Handy darin und flüchtete aus der Wohnung. Ich musste hier raus. Tausend Gedanken kreisten in meinem Kopf. Ich rannte so schnell die Treppen hinunter, dass ich beinahe gestolpert wäre und rief nach Jan. Als ich die Straße erreichte, war diese menschenleer. Jan war nirgends zu sehen. Er war einfach gegangen. Ohne mich. Ich wischte mit meinem Handrücken die Tränen von meinen Wangen. Verzweiflung machte sich in mir breit. Einige Minuten stand ich einfach nur da. Es war dunkel und die Luft war kalt, doch ich fror nicht. Ich beschloss zu Fuß nach Hause zu gehen, auch wenn meine Beine sich unglaublich schwer anfühlten. Ich wollte nur noch nach Hause zu Jan. Er hatte bestimmt auch den Weg eingeschlagen und war bereits dort, wenn ich ankam. Wir wohnten knapp fünf Kilometer von der Wohnung von Eva und Benni entfernt. Der Weg sollte reichen, um mir zu überlegen wie ich Jan von meiner Unschuld überzeugen konnte. Verdammt, ich musste mir nichts überlegen. Ich war unschuldig.

„Helena, warte!“

Es war Innas Stimme, die die Stille der Nacht durchbrach. Ich war noch nicht weit gekommen. Vielleicht fünfhundert Meter. Ich stoppte und drehte mich um. Sie kam angerannt und war außer Atem als sie mich erreicht hatte.

„Was willst du?“, fragte ich genervt.

Sie war jetzt die Letzte, die ich sehen wollte.

„Ich kann dich nicht alleine gehen lassen. Nicht in dem Zustand, indem du dich befindest. Hier, die ist für dich. Du musst doch durstig sein“, sagte sie und reichte mir eine kleine Flasche Wasser.

„Mir geht’s gut. Geh zurück zu den anderen“, erwiderte ich.

Da sie ihren Arm nicht senkte und mir weiter die Flasche vors Gesicht hielt, nahm ich sie wortlos an mich und setzte meinen Weg fort. Anstatt umzukehren, passte Inna sich meinem Tempo an. So liefen wir einige Minuten stumm nebeneinander her.

„Lass mich bitte allein, Inna. Ich komme schon klar“, bat ich sie nun eindringlicher.

„Es tut weh den Menschen zu verlieren, den man am meisten liebt“, sagte sie plötzlich.

Ich blieb erneut stehen und sah sie zornig an.

„Ich verliere ihn nicht, okay? Dieses Handy gehört mir nicht und die Fotos zeigen nicht die Wahrheit.“

„Ich weiß. Es ist von mir“, sagte sie trocken und lief weiter.

Ich blieb einige Meter zurück. Es dauerte einen Moment bis ihre Worte mich erreichten und ich wusste nicht, ob ich auch wirklich richtig gehört hatte.

„Das ist dein Handy?“, rief ich und lief ihr hinterher.

Sie reagierte nicht und beschleunigte ihr Tempo.

„Bleib stehen Inna und erkläre mir, was das soll!“

Wut stieg in mir auf. Sie machte mich rasend. Mein Puls beschleunigte sich und ich merkte erst jetzt, was ich für einen wahnsinnigen Durst hatte. Durch den vielen Alkohol schien ich schon völlig dehydriert. Ich trank einen großen Schluck aus der Flasche und nahm wieder Schritt mit Inna auf, die es immer noch nicht für nötig gehalten hatte anzuhalten.

„Inna!“ Ich schrie sie an und hielt sie am Handgelenk fest.

Sie blieb stehen und grinste. In ihrem Grinsen lag eine Spur von Zufriedenheit.

„Komm, wir setzen uns. Es ist Zeit dich aufzuklären“, sagte sie und zeigte auf einen kleinen Park, der etwas abseits vom Weg war und umsäumt von Bäumen und Sträuchern. Nur wenig Licht durchflutete ihn und auch sonst schien er nicht wirklich belebt, vor allem nicht nachts zu dieser Jahreszeit. Mir wurde mulmig bei dem Gedanken dort alleine mit Inna zu sein. Sie hatte mir schon dieses Handy untergeschoben und ich war mir nicht sicher, zu was sie noch fähig war.

„Komm jetzt!“, rief Inna und war nun schon fast mit der Dunkelheit des Parks verschmolzen.

Ich nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und folgte ihr. Ich musste wissen, warum sie das getan hatte und ich musste sie dazu bringen Jan alles zu erzählen. Nur dann würde er mir glauben.

Inna hatte sich derweil auf einer Parkbank niedergelassen. Ich zögerte erst, doch setzte mich dann mit etwas Abstand dazu und war nun diejenige, die sie mit meinem Blick fixierte.

„Sprich!“, forderte ich sie auf.

„Du dachtest wohl, dass du ungeschoren davonkommen wirst oder?“, fragte sie und sah stur geradeaus.

„Was redest du da für einen Mist? Ich habe dir nichts getan.“

Inna grinste wieder. Ihr Gesicht lag im Schatten der Lichter und erschien dadurch grotesk verzerrt.

„Doch das hast du!“, erwiderte sie und sah mich diesmal an.

Ich schluckte schwer und mein Herz klopfte so laut, dass ich im ersten Moment dachte, Inna könnte es hören. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Mir war unerträglich heiß, obwohl die Temperaturen dies nicht hätten zulassen dürfen. Ich trank hastig erneut etwas Wasser und verschluckte mich dabei. Während ich hustete, sprach Inna ruhig weiter.

„Du hast ihn ihr genommen und später dann sie mir.“

Ich war unfähig etwas zu sagen. Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Ich wurde nervös. Meine Hände zitterten und ich musste immer wieder meine Augen zusammenkneifen, um meine Umgebung klar zu erkennen.  

„Von wem sprichst du?“, fragte ich sie mit schwacher Stimme.

„Das weißt du genau. Ich rede von Anni.“

Anni. Die Exfreundin von Jan. Tausend Gedanken taten sich in mir auf, die alle krampfhaft versuchten das Puzzle in meinem Kopf zusammenzusetzen. Ich erinnerte mich wieder an das Gespräch mit Jan über Inna. Plötzlich wurde mir klar, warum Jan das Gefühl hatte sie von irgendwoher zu kennen. Inna muss auf Annis Beerdigung gewesen sein. Inna. Anni. Ich erschrak, als meinem glühenden Kopf die Ähnlichkeit der beiden Namen bewusst wurde.

„Du scheinst gar nicht so dumm wie ich dachte“, sagte Inna als sie mein geschocktes Gesicht sah und lachte.

„Inna ist nicht dein richtiger Name oder ist es ein scheiß Zufall, dass dein Name rückwärts gesprochen ihren ergibt?“, sagte ich und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl die Kontrolle über mich und meinen Körper wiedererlangt zu haben.

Innas Lachen wurde lauter. Sehr laut. Ich hoffte, dass irgendjemand dieses Lachen gehört hatte. Vielleicht Jan. Vielleicht war er schon auf dem Weg zu uns.

„Wer bist du?“, fragte ich sie und Angst überlagerte meine Wut und mein Entsetzen.

„Ich bin Anni, Süße!“

„Erzähl keinen Scheiß! Du bist nicht Anni!“, schrie ich.

„Und Anni ist ich. Ich habe nichts dem Zufall überlassen. Ich brauchte eine Möglichkeit um dir nahe zu kommen. Da kam Paul ins Spiel. Als seine Freundin hatte ich sofort euer Vertrauen. Ich habe alles bis ins kleinste Detail geplant und ich beobachte dich schon sehr lange. Euer Tochter-Daddy-Ausflug bot mir die perfekte Grundlage, um dich und Jan zu trennen. Zudem sollte Jan sich wieder an Anni erinnern. Ich wusste, er würde das Kleid, was sie zuletzt getragen hatte nicht vergessen und sein Erinnern würde zu deinem führen. Ihr seid alle auf mich hereingefallen.“

„Du bist krank!“, zischte ich und griff in meine Jackentasche nach meinem Handy. Ich musste Hilfe holen, doch es war nicht mehr da. Als ich zu Inna aufsah, hatte sie mein Handy in der Hand und grinste breit.

„Wann -?“

„Die Klapse ist mein zu Hause, Süße! Als ich Anni dort traf, fühlte ich mich nicht mehr fremd auf dieser Welt. Anni gab meinem Leben einen Sinn. Wir verstanden uns sofort und sie vertraute mir alles an. All ihren Schmerz, den du ihr zugefügt hast. Sie wurde wegen Depressionen behandelt. Hervorgerufen durch die Trennung an der du Schuld bist.“

Ich konnte nicht glauben, was sie da erzählte. In meinem Magen zog sich alles zusammen.

„Sie war schon vorher labil gewesen. Ich kann nichts dafür, dass sie mit der Trennung nicht klar gekommen ist.“

Plötzlich holte Inna einen Zettel und einen Stift aus ihrer Jackentasche hervor. Sie legte das Blatt Papier zwischen uns und hielt mir den Stift hin.

„Ich habe keine Lust mehr auf deine Lügen und deine jämmerlichen Versuche deine Schuld zu mindern. Schreib, was ich dir sage!“, befahl sie mir.

„Was soll ich bitte schreiben?“

„Deinen Abschiedsbrief.“

Meine Augen waren weit aufgerissen. Mein Blick schwankte ungläubig zwischen Inna und dem Stift.

„Anni ist tot und das ist allein deine Schuld. Du hast es nicht verdient zu leben und du hast ihn nicht verdient.“

„Das ist nicht wahr. Sie hat sich umgebracht. Ich habe damit nichts zu tun“, sagte ich und die Verzweiflung in mir wurde stärker. Tränen rannen mir übers Gesicht. Heiß. Mir war so unerträglich heiß.

„Du hättest es verhindern können.“

„Nein, verdammt! Es war Jans Entscheidung gewesen sie zu verlassen“, schrie ich und sprang auf.

Ich wollte nur noch weg. Ich wollte zu Jan. Inna sprang ebenso auf. Sie war nun nicht mehr ruhig. Sie war wütend. Sie kam auf mich zu, griff nach meinen Schultern und schüttelte mich. Mir wurde schwindlig als sie meinen immer schwächer werdenden Körper voller Gewalt umherwirbelte. Ich griff nach ihren Handgelenken, versuchte mich zu befreien und schrie um Hilfe. Doch meine Hilferufe verhallten im Nichts. Ich keuchte vor Anstrengung.

„Davon rede ich nicht! Du hast ihm die Entscheidung genommen sie zu retten. Klingelt es bei dir, Schlampe?“, schrie Inna.

Ich sackte zusammen und sank auf die Knie. Inna ließ von mir ab. Ich konnte nicht mehr. Die Erinnerungen an diese eine Nacht wurden so deutlich und überfluteten mich. Ich hörte wieder Annis Stimme. Ihre wahrscheinlich letzten Worte, die sie am Telefon zu mir gesprochen hatte.

„Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie es wirklich ernst gemeint hatte. Dass sie wirklich diese Tabletten geschluckt hatte“, schluchzte ich.

Inna sah auf mich herab. Ihr Blick war hasserfüllt.

„Ich dachte, sie versucht ihn wieder für sich zu gewinnen wie die vielen Male davor. Und als sie ihn nachts angerufen hat und ich ihren Namen auf dem Display sah… Jan hatte bereits geschlafen, also bin ich an sein Handy. Ich wollte ihr klar machen, dass sie uns in Ruhe lassen soll.“

Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Ich konnte sie nicht stoppen und so absurd es auch war, es fühlte sich gut an. Es fühlte sich so gut an endlich jemandem von dieser Nacht und diesem Anruf zu erzählen. Ich sah in Innas Augen und war überrascht. Mein Geständnis ließ sie völlig kalt.

„Du weißt von dem Anruf?“

Wieder grinste sie und ich hatte das Gefühl, dass sie es genoss mich so zu sehen.

„Dachtest du echt dein Geheimnis wäre sicher? Anni war nicht allein in dieser Nacht. Ich war bei ihr, wie es sich gehört für Seelenverwandte. Ich hatte Anni versprochen gehabt, sie nicht aufzuhalten. Sie war bis zum letzten Augenblick davon überzeugt, dass Jan sie retten würde, weil er sie noch immer liebte. Sie hat auf ihn gewartet während ich ihre Hand gehalten habe und ihre Atmung zunehmend schwächer wurde. Sie meinte zu mir, dass alles gut werden würde. Dann bin ich gegangen, um nicht auf Jan zu treffen. Doch er hatte sich nie auf den Weg gemacht, weil du an sein Handy gegangen bist und ihm nicht von ihrem Anruf erzählt hast. Du bist zu ihm unter die Bettdecke gekrochen, hast so getan als wäre nichts passiert und hast sie einfach verrecken lassen.“

Blankes Entsetzen durchströmte meinen Körper und lähmte ihn. Ich wollte aufstehen, doch es ging nicht.

„Du warst dabei als sie die Tabletten genommen hat? Wie konntest du das zulassen? Du hast ihr beim Sterben geholfen!“, schrie ich mit letzter Kraft.

„Ich habe Anni geliebt und ich habe alles für sie getan. Es war ihr Wunsch und ich habe sie dabei unterstützt diesen umzusetzen. Doch du, du hast ihr ihren Wunsch nicht erfüllt und deshalb ist sie deinetwegen gestorben. Hätte sie mit Jan gesprochen, würde sie heute noch leben und wäre glücklich mit ihm zusammen. Doch sie ist tot und dafür wirst du büßen, Schlampe! Wir sind mittendrin. Ich habe dir den Mann genommen und nun nehme ich dir dein Leben. Für Anni. Ich habe dir und mir während des Spiels vorhin jeweils ein Glas Wasser gebracht, erinnerst du dich? In deinem habe ich etwas untergemischt. Doxylamin. Es ist in Schlafmitteln enthalten und führt in hohen Dosen zu Mundtrockenheit, Herzrasen, Fieber, Halluzinationen bis hin zum Atemstillstand und somit zum Tod. Die zusätzliche Einnahme von Alkohol tut natürlich ihr Übriges. Vorhin hatte ich dich nur leicht überdosiert, damit du nicht zu viel von der Vergiftung spürst und noch ein bisschen durchhältst. In der Wasserflasche allerdings, die ich dir gegeben habe, habe ich nicht mehr damit gegeizt. Es wird nach Selbstmord aussehen. Getrieben vom schlechten Gewissen. Du wirst einen Abschiedsbrief hinterlassen und darin gestehst du deine Schuld an Annis Tod. Sieh es als milde Gabe an. Ich gebe dir kurz vor deinem Ableben noch die Chance dein Gewissen zu bereinigen. Jammerschade nur, dass dich dann alle hassen werden. Keiner wird um dich trauern, wenn sie die Wahrheit erfahren. Schon gar nicht Jan. Hey, bleib gefälligst wach!“

Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Körper, als Inna mir ins Gesicht schlug. Ich öffnete meine schwer gewordenen Lider, doch alles war verschwommen. Auch Innas Stimme klang blechern und weit entfernt. Es wurde immer schwieriger, mich gegen die stärker werdende Müdigkeit zu wehren. So schloss ich erneut meine Augen und sah plötzlich Annis Gesicht ganz klar vor mir. Ihre Haut war fahl und ihr Blick leer. Ihr Mund war weit aufgerissen und es schien als wollte sie schreien. Doch die aufkommende Dunkelheit nahm sie ein, noch bevor ein Laut über ihre Lippen kam. Ich wartete darauf, dass sie auch mich verschlingen würde. Doch nichts geschah. Und dann verstand ich auch warum. Es war noch nicht vorbei.

 

6 thoughts on “Büße!

  1. Moin ,

    eine tolle Geschichte die du uns hier präsentierst!

    Ich mag Geschichten mit offenen Enden und dein Ende ist jawohl sowas von offen! Zu erst dachte ich…Hä, schon zu Ende?
    Aber das Kopfkino startet und nun darf sich jeder selbst überlegen wie es weitergeht.

    Dein Schreibstil ist sehr klar und deine Geschichte lässt sich flüssig lesen.

    Vielen Dank das du deine Geschichte mit uns geteilt hast.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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