BoerniBDIE geSchwISTER

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Schweißnass fuhr sie hoch. Tastete nach dem Lichtschalter neben dem Bett. Schmiss dabei den Wecker vom Nachtkästchen und stieß ihr Wasserglas um, das klirrend auf dem Eichenholzboden aufschlug. Sie tastete nach dem Lichtschalter und knipste das Licht an. Nicht mehr von der drückenden Dunkelheit umschlossen, konnte Sarah sich beruhigen, aufatmen. Nachdem sie sich wieder so gut es ging gesammelt hatte, warf sie die Leinendecke, die in diesen heißen Sommernächten trotz des dünnen Leinens immer noch zu heiß war, zurück. Ihre Freundin Maria hatte ihr geraten, aufgrund der Hitze doch ohne Decke zu schlafen und dass ihre Schlafprobleme vielleicht daherkämen. Doch würde der Schlaf ganz ausbleiben. Jede Nacht vor dem Einschlief musste sich Sarah vergewissern, dass alle Körperteile sorgsam bedeckt waren, damit die Monster sie nicht erreichen konnten. Ein Überbleibsel aus ihrer Kindheit, als sie von den Gruselgeschichten ihres Vaters immer Albträume bekommen hatte. Natürlich glaubte sie schon lange nicht mehr an Monster. Aber wie sagt man so schön: Old habits die hard. Deshalb hatte sie bei ihrer mittlerweile 5 Jahre alten Tochter Lea auch darauf geachtet, sie konsequent von solchen Geschichten fernzuhalten. Lea! Hoffentlich war sie durch den Lärm nicht aufgewacht. Die Kleine hatte für gewöhnlich einen guten Schlaf. Schon als Baby hatte Lea die Nächte brav durchgeschlafen. Dafür war ihr Sarah bis heute dankbar. Da sie allein lebte wäre sich nicht in den Luxus gekommen, dass der Partner ihr die eine oder andere Nacht hätte abnehmen können. Aber so war das nun mal. Die Kleine fragte oft nach ihrem Vater. Vorher war das Thema Papa nie so im Raum gestanden. Doch seit sie im Kindergarten täglich mit anderen Kindern zusammen war, die natürlich von ihren „großartigen“ Vorstadtvätern erzählten, hatte der Knirps es sich in den Kopf gesetzt, auch mehr über ihren zu erfahren. Konnte sie sich überhaupt noch an ihn erinnern? Sarah hatte sie bis jetzt immer damit besänftigt, dass er auf einer Baustelle im Ausland arbeiten würde und diese mehr Zeit als geplant in Anspruch nähme. Und anrufen könne er ja nicht, da er sehr beschäftigt wäre. Natürlich alles nur eine Farce. Irgendwann würde Sarah ihr die Wahrheit über ihren Vater sagen. Irgendwann… Sie schwang die müden Beine aus dem Bett. Am Rande des Bettes sitzend konnte sie nun das Schlachtfeld begutachten. Der Wecker hatte den Sturz gut überstanden und zeigte immer noch zuverlässig die Zeit an. Das Wasserglas hingegen war nicht mehr zu retten. Seine Bruchstücke bedeckten nun den Boden bis hin zum Heizkörper, der unter dem Schlafzimmerfenster montiert war. Vorsichtig sammelte Sarah die größten Scherben auf und schlich anschließend leise in die Küche hinunter, um sie zu entsorgen. Den Rest der Gefahrenkörper würde am Morgen mit dem Staubsauger zum Opfer fallen. Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer blieb sie kurz stehen und lauschte an der Tür zu Leas Zimmer. Nichts. Genau wie Sarah es sich erwartet hatte, da die Kleine nach dem Aufstehen gewöhnlich als erstes zu ihr ins Zimmer kam, um sich zu ihr unter die Decke zu kuscheln und diese natürlich bis auf einen kleinen Teil vollständig zu beanspruchen. Was Sarah das Weiterschlafen wiederum unmöglich machte. Aber sie konnte ihr nicht böse sein. Ihrem Goldschatz. Wieder an ihrem Bett angekommen schlüpfte Sarah so schnell wie möglich zurück unter die Decke. Arme, Beine, zugedeckt. Perfekt. Langsam dämmerte sie wieder weg in der Hoffnung, dass sie diesem mal von Alpträumen verschont blieb. Ob Sarah wohl eingeschlafen wäre, wenn sie gewusst hätte, dass ihr der größte Alptraum noch bevorstand?

 

1.  

„Kann ich noch ein Nutella Brot haben?“ Lea saß mit ihren großen, blauen Augen vor Sarah, wohl wissend, dass es nur einen Semmel mit Nutella am Morgen gab. Das kleine Schlitzohr wusste auch, das ihr Mama keine Bitte abschlagen konnte. Braunen Spuren, die sich von Leas Mund bis zu den Augen erstreckten, waren klare Indizien, dass bereits ein Semmel in ihm verschwunden war. „Lea“, sagte Sarah streng. „Du weißt doch das zu viel Nutella schlecht für deine Zähne ist“. Diese Predigt hielt sie beinahe jeden Morgen. Doch Gespräche über was gesund ist und was nicht brachten, bei einer 5-jährigen Naschkatze herzlich wenig. Und eben jene sah sie nun mit wässrigen Augen quer über den Küchentisch an. „Na schön…“, seufzte Sarah, während sie eine ihrer Semmelhälften mit Marmelade bestrich. „Aber nur einen halben Semmel und nur weil heute Sonntag ist.“ „Danke Mami, du bist die Beste“, jauchzte die Kleine und warf sich ihr um den Hals. „Ich muss strenger zu ihr sein“, ermahnte Sarah sich selbst. Lea löste sich von ihr und rutschte zurück auf ihren Platz. Natürlich nicht ohne Sarah noch schnell eine Semmelhälfte zu stibitzen. „Aber es gibt heute nach dem Mittagessen kein Eis!“, ermahnte Sarah, in einem Versuch, Autorität zurückzugewinnen. Aber Lea hörte sie schon nicht mehr, schon damit beschäftigt war, einen riesigen Berg der süßen braunen Paste auf das erbeutete Brot zu streichen. Mit gaaaaaanz viel Butter. Sarah verdrehte die Augen und stand auf, um die Glastür zur Terrasse zu öffnen. Das hatte Lea eindeutig von ihrem Vater geerbt. Obwohl sie damals, vor dem Unfall, definitiv noch zu klein gewesen war, um mitzubekommen, dass das tägliche Streitthema am Frühstückstisch die identitäre Frage war, ob nun Butter auf ein Nutella Brot gehörte oder nicht. Sarah hasste es, er liebte es. Aber dennoch bereitete es ihr Freude, wenn Teile von ihm in ihrer gemeinsamen Tochter wiedererkannten. Selbst als Einzelkind aufgewachsen, wollte Sarah immer ein zweites Kind. Doch an jenem schicksalhaften Tag zerbrachen all ihre Pläne. Seit diesem Tag war nichts mehr wie vorher. Dass sie nach seinem Tod mit der Kleinen nur noch weck aus ihrer alten Stadt wollte machte es auch nicht leichter. Aber nichts hielt sie mehr dort. Und als ihre Mutter das auch noch elendig an diesem verdammten Krebs zu Grunde ging und die Verwandtschaft ihr vorwarf, dass Sarah ihr in ihren letzten Stunden nicht zur Seite gestanden hatte, war es vollkommen aus. Sie wollte, brauchte, einen Neuanfang. Neue Arbeit, neue Freunde, neues Haus… neues Leben. Sarah trat durch die nun offene Tür hinaus auf die Terrasse und genoss die noch nicht so brütend heiße Morgensonne. Das leichte, blau geblümte Sommerkleid, das sie jedem Sonntag trug, war perfekt für die warmen Sonnenstunden im Garten. „Wollen wir heute das Schwimmbecken aufstellen?“, rief sie über die Schulter hinweg in die Küche, doch bekam natürlich keine Antwort. Lea war zu sehr auf ihre Leibspeise konzentriert. „So eine Träumerin“, lachte sie in sich hinein. Sarah ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. Vom Gartenschuppen über den Grillplatz, wo Lea mit ihren Freundinnen in einem Monat ihren sechsten Geburtstag feiern würde, hinüber zu den Rosenbüschen, für die sie schon so manches Kompliment bekommen hatte. Quer durch den Garten verlief ein gepflasterter Weg, von dem gelb gestrichenen Einfamilienhaus hin zum Gartentor, durch das man einen der neu asphaltiert Gehwege der Vorstadt betrat. Und dort entdeckte sie etwas Ungewöhnliches. Vor dem Tor lag ein kleiner Gegenstand auf dem Boden. Fast hätte sie ihn übersehen, hätte er sich nicht durch seine schwarze Farbe deutlich von den hellen Pflastersteinen des Gartenpfades abgehoben. „Komisch“, dachte Sarah und machte sich auf, dass genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Postbote warf doch sonst alles in den Briefkasten. Und außerdem, warum sollte er am Sonntag bei ihr auftauchen? Am Gartentor angekommen hob sie das schwarze Plastikteil hoch. Es war ein Smartphone. Nicht gerade das neuste Modell. Es war klobig und eher schwer und hatte sicher schon bessere Tage gesehen. Jemand musste es verloren haben. Sie trat auf den Gehweg hinaus und hielt Ausschau nach dem Besitzer. Niemand zu sehen. Aber es hatte ja auch nicht auf dem Gehweg vor dem Tor gelegen. Nein. Es lag auf ihrem Grundstück. Seltsam. Sarah schaltete den Bildschirm ein. Als Sperrbildschirm war eine dieser Standart-Blumenwiesen eingestellt. Kein Hinweis auf den Besitzer. Sie drehte sich um, zog das Tor hinter sich zu und machte sich auf den Rückweg zum Haus. Gleich morgen würde sie das Smartphone bei der Polizei abgeben, damit die es zum örtlichen Fundbüro bringen konnten. Auf dem Rückweg viel ihr auf, dass die Tür des Gartenschuppens offenstand. War diese nicht gerade noch fest verschlossen gewesen? In diesem Moment kündigte das vibrierende Handy in ihrer Hand eine eingetroffene Nachricht an. Instinktiv aktivierte sie den Bildschirm. Da die Nachrichtenvorschau auf dem Sperrbildschirm aktiviert sein musste, wurde die Nachricht, die von einer unbekannten Nummer stammte, angezeigt. Es war ein Bild. Ein Selfie von ihr und ihrer kleinen Tochter. Darauf waren sie beide zu sehen, lachend am Küchentisch. Sarah in ihrem geblümten Sommerkleid und Lea mit verschmierten Mundwinkeln, an denen noch Nutella klebte. Ein süßes Foto von ihrer kleinen Familie. Auf ihrem eigenen Smartphone hätte sie so ein Bild sicher als Hintergrundbild benutzt. Aber das hier war nicht ihres. Angst breitete sich in ihre während sie rannte. zurück ins Haus, zu ihrer Tochter. Denn sie konnte sich nicht erklären, woher das Foto kam. Nicht nur wegen des fremden Gerätes und der unbekannten Nummer. Nein. Sarah hatte dieses Selfie nie geschossen…

2.     

„Lea!“ Sarah stürmte durch die Terrassentür in die Küche. „Schatz!?“ Lea saß nicht mehr am Küchentisch. Keine Spur ihrer Tochter. Tränen stiegen ihr in die Augen. Zuerst das Handy mit dem Foto und nun war ihre Tochter spurlos verschwunden. Entweder es war ein schlechter Scherz oder… Sarah konnte nicht mehr klar denken. Das alles war zu viel für sie. Es musste doch eine Erklärung geben. Sie wollte schon ihr Smartphone hervorziehen und hastig die Nummer der Polizei wählen, da hörte es. Aus dem Wohnzimmer. Ein schleifendes Geräusch als würde jemand etwas über den Boden ziehen.  „Lea!“ schrie sie erneut und riss die Schiebetüre auf, bereit, ihrer Tochter zur Hilfe zu eilen und zu beschützen. Vor wem oder was auch immer. Als Sarah ins Wohnzimmer erstarrte sie vor Schreck. Die Quelle des Schleifgeräusches. Niemals hätte sie damit gerechnet. Es war ein Sack aus synthetischem Gewebe. Prall gefüllt. Und die Person, die diesen Sack hinter sich herzog, war… Lea. Kopfhörer in den Ohren, die über ein Kabel mit dem Tablet in ihrer Hand verbunden waren, auf dem sie ihre Kinderserien schauen durfte, zog sie den Sitzsack hinter sich her. Verdutz sah ihre Tochter zu ihr hoch und zog einen der Kopfhörerstöpsel aus den Ohren. „Mami? Warum weinst du?“ Sarah fiel ihr um den Hals. „Maus! Warum hast du mir nicht geantwortet?“, schluchzte sie, während sie ihre Tochter an sich drückte. Die Antwort kannte sie schon. Die Kopfhörer und der Ton des Videos hatten verhindert, das Lea ihr Rufen gehört hatte. Wie konnte sie sich nur so schnell grundlos in ihre Panik hineingesteigert haben? Sicherlich hatte sich Leah zu Tode erschreckt, als sie ihre Mutter komplett aufgelöst erblickt hatte. Sarah löste sich von ihrer Tochter, wischte sich die Tränen mit dem Handrücken aus den Augen und streichelte ihr über den Kopf. „Ist schon gut, nichts passiert. Mami hatte nur Angst um dich, da du auf mein Rufen nicht geantwortet hast und ich nicht wusste wo du steckst. Aber jetzt ist alles wieder gut.” Sarah wollte gerade zurück in die Küche gehen, um sich hinzusetzen, ein Glas Wasser zu trinken und sich zu beruhigen, doch vorerst musste sie ihre Tochter, die sich nun auf den Sitzsack gesetzt hatte und im Begriff war, die Kopfhörer wieder zu arrangieren, etwas fragen: „Hatten wir beide nicht geklärt, dass du Sonntags bei so schönem Wetter lieber draußen spielen sollst, anstatt am Tablet zu hängen? Und überhaupt, hast du mich nicht gefragt.“ Ihre Tochter sah sie verwundert an. „Du hast doch gesagt, geh doch noch ein bisschen fernsehen, als du nach oben gegangen bist.“, erklärte ihr Lea. Sarah begann zu zittern.  „Gleich nach dem du mit mir das Foto das Foto gemacht hast“. Ihr wurde übel. Das Foto. Beinahe wäre ihr das Smartphone, das sie gefunden hatte, aus der Hand gefallen. Aber bevor es ihren nun schweißnassen Händen entgleiten konnte, vibrierte es erneut. Sarah hob langsam die Hand und aktivierte den Bildschirm. Wieder eine Nachricht. Und wieder ein Bild. Darauf war ein Bett zu sehen. Darauf eine Leinendecke. Und rechts, neben der Tür, stand ein Staubsauger. Sarah trat nun der Angstschweiß auf die Stirn. Dann lass sie die Nachricht unter dem Bild. „Ich warte auf dich. Und sorg dafür das deine Tochter weiter brav fernsieht“. Sarah lies das Handy fallen. Stolperte los. Hin zum Ort, von dem das Foto stammte. Sie kannte ihn nur zu gut. Denn sie war heute Morgen in ihm aufgewacht.

3.

Man kennt es aus Horrorfilmen. Die meisten Ereignisse oder Tode könnten so einfach verhindert werden, wenn der Protagonist nicht allein in den dunklen Keller hinuntersteigen würde, um sich dem Monster zu stellen, sondern einfach auf das Drängen der Zuschauer hören täte, nicht den Helden zu spielen und zuerst Hilfe zu holen. Doch es fällt immer leichter, als Außenstehender Entscheidungen zu fällen. Dies ist allgemein unter dem Begriff Beifahrereffekt bekannt. Doch Sarah verfügte in diesem Moment nicht über solch einen helfenden Engel, der ihr dazu riet, nicht der Nachricht des oder der Unbekannten nachzugehen, sondern lieber zuerst die Polizei zu verständigen. Nein. Sie wollte nur ihre Tochter beschützen. Von wem oder was auch immer. Und so stieg sie ganz allein die Stufen in den ersten Stock empor, um den Eindringling zu stellen. Vielleicht gab es auch gar keinen Eindringling. Das Foto mit ihrer Tochter konnte auch bearbeitet worden sein, und Fotos von ihrem Zimmer gab es auch genug. Vielleicht hatte sich jemand in ihren PC gehackt, um so an Infos über sie zu kommen und sie so erpressen zu können. Aber warum nur? Und warum sollte ihre Tochter ihr so dreist ins Gesicht lügen? An ihrer Zimmertür ankam, horchte Sarah angestrengt, ob sich nicht etwas hören konnte. Nichts. Kein Geräusch drang durch weiß gestrichene Vollholztüre. Und dennoch oder gerade deswegen spannte sich jede Faser ihres Körpers an, als sie mit schweißnassen Händen die Türklinke nach unten drückte. Als sie ins Zimmer trat, erstarben all ihre Hoffnungen, dass es gar keinen Einbrecher gab, dass alles einfach zu erklären war. Es gab eine Erklärung. Für das Bild. Dafür, dass ihre Tochter angeblich mit ihr gesprochen hatte. Und diese Erklärung saß vor ihr. Auf ihrem Bett. In einem Sommerkleid, das genau so aussah, wie das, welches sie gerade trug. Sie sah der Unbekannten ins Gesicht. Sah…. In ihre eigenes.

4.

„Hallo Schwester.“, meldete sich die Fremde spöttisch. „Ein schönes Haus und eine süße Tochter hast du da.“ Sarah brachte keinen Ton heraus, schnappte nach Luft. Ihre Finger gruben sich in das Holz des Türrahmens. „Darf ich mich vorstellen? Deine verschenkte Schwester.“ „Ich verstehe nicht…“, stammelte Sarah. Doch dann viel es ihr wie Schuppen von den Augen. Ihr Magen zog sich zusammen. Schwester… Ihre Mutter hatte ihr immer erzählt, dass ihre Zwillingsschwester das Licht der Welt nie erblickt hatte. Es hatte Komplikationen bei der Geburt gegeben. Lea hatten die Ärzte noch retten können. Ihre Schwester allerdings… Und nun, 35 Jahre später… Stand eine Person vor ihr, die genau so aussah wie sie. „Aber… Mama hat gesagt du seist bei der Geburt gestorben.“, stotterte Sarah verstört. „Verstorben“, lachte die Frau vor ihr mit Abscheu. „Die einzige, der damals gestorben ist sie! Und zwar für mich. Weckgegeben hat sie mich, die Schlampe. Und dich behalten. Mich hat sie zur anonymen Adoption freigegeben, da sie und „Daddy“ immer nur ein Kind wollten.“ „Nein“, brachte Sarah verzweifelt hervor, „Sowas hätten sie nie getan!“ Ihre Mutter liebte Kinder über alles. Sie hatte sich so sehr gefreut, als ihre einzige Tochter ihre eine Enkelin geschenkt hatte. Und doch… Sie spürte tief im Inneren, dass die Fremde vor ihre die Wahrheit sprach. Denn irgendwie ergab es auch Sinn. So konnte sie auch das Foto schießen. Auf dem vermeintlich sie zu sehen war. Und ihre Tochter hatte natürlich nicht daran gezweifelt, dass die Person, die aussah und sprach wie ihre Mutter, auch tatsächlich ebenjene war. „Aber warum?“, fragte sie „Warum hast du dich nicht einfach gemeldet?“ Ihre Schwester sah sie traurig an. „Die Familie, von der ich adoptiert wurde, war zuerst wie ein Traum für mich. Zwei bodenständige Eltern, ein Sohn, etwas älter als ich. Sie erzählten mir natürlich, dass ich adoptiert worden war. Sie wussten jedoch nicht, wer meine Mutter war und dass ich eigentlich eine Zwillingsschwester hatte. Es war die perfekte kleine Familie.“ Nun traten ihr Tränen in die Augen. „Doch dann, langsam, die perfekte Fassade zu bröckeln. Mein „Vater““, sie lachte bitter, „begann zu trinken, nachdem er eine große Summer Geld verspekuliert hatte. Mit der Trunksucht fing er auch an, uns Kinder zu schlagen. Mein Mutter verließ uns… Mein Bruder, Mike, machte mich für alles verantwortlich. Ich fing an mich zu schlagen und schließlich, mit Medikamenten bis zur Besinnungslosigkeit zuzudröhnen und zu misshandeln. Doch er stellte es geschickt an. Weder Vater, der besoffene Dreckssack, noch die Lehrer glaubten mir. Ich war doch nur das adoptierte Balg. Wollte nur Aufmerksamkeit. Mich ins Rampenlicht drängen Also lief ich mit sechzehn weg, um all dem zu entkommen. Aber gerade, als ich jemanden gefunden hatte, dem ich vertrauen konnte, fing die Hölle erneut an. Ich wurde an reiche Säcke verkauft. Zur „Unterhaltung““. Tränen rannen ihr über die Wangen. „Ich wollte doch nur…. eine Chance. Auf ein normale Leben“. Sarah hatte Mitleid. Auch wenn die Person, die jetzt vor ihr stand, ihr eine Heidenangst eingejagt hatte und in ihr Haus eingebrochen war, war sie dennoch, wenn alles stimmte, ihre Schwester. Und so ging Sarah langsam auf sie zu und umarmte das Häufchen Elend. Spürte, wie sie am ganzen Leib zitterte. „Schon gut“, versuchte Sarah sie zu trösten. „Jetzt bist du bei mir. Ich pass auf dich auf.“  Gemeinsam setzten sie sich auf Sarahs Bett. Das Leben hatte ihnen beiden zwei völlig unterschiedliche Pfade zugestanden. „Uns jedoch schlussendlich doch wieder vereint“, dachte Sarah gerührt. Und ihre Mutter hatte damals doch auch nicht ahnen können, dass alles so verlaufen würde. „Eines Tages, als ich gerade durch den Park schlenderte auf der Suche nach etwas zu Essen, hat mich plötzlich jemand mit deinem Namen angesprochen und mich gefragt, warum ich so fertig aussähe. Zuerst war ich vollkommen verwirrt. Ich habe der Frau gesagt, sie müsse sich irren und hab mich völlig verwirrt aus dem Staub gemacht. Und wie aus Zufall fand ich eines Tages, als ich vor einer Discotheke nach möglichen Freiern suchte, eine Broschüre über die neu gebaute Vorstadtsiedlung. Und dort, auf dem Cover, sah ich dich. Erst da wurde mir alles klar. Warum mich mein Bruder so gehasst hatte. Wieso diese Frau mich mit Sarah angesprochen hatte. Und so begann ich dich zu suchen.“, erzählte ihre Schwester, während sie sich die Tränen abwischte und in die Taschen des Kleides griff, wahrscheinlich, um ein Taschentuch zu suchen. Sarah konnte sich an die Werbebroschüre erinnern. Der Makler hatte sie gefragt ob sie nicht mit ihrer Tochter das Werbegesicht der neuen Vorstadt werden wollte. Sie hätte ja nein gesagt aber die Gage war zu gut gewesen. Ihre Schwester seufzte: „Und da sah ich meine Chance…“ „Darauf, endlich heimzukehren.“, vervollständigte Sarah ihren Satz. „So in etwas“, sagte ihr Schwester, nun ruhiger. Sie hatte aufgehört zu weinen. Und zog nun das Taschentuch aus der Tasche. „Ich hatte vielleicht ein schwereres Leben wie du“, sagte sie nun und Sarah spürte nun wieder Verachtung in ihrer Stimme. „Doch das hat mir gezeigt, dass man sich im Leben nur auf einen verlassen kann. Auf sich selbst“ Sarah lächelte wissend und meinte: „Aber jetzt hast du ja mich.“ „Du verstehst nicht Schwester.“, sagte ihr Zwilling und löste sich aus der Umarmung. „Ich bin hier, um mir das Leben zu holen, das ich verdiene“. Sarah spürte wie sie gam an den Haaren gepackt wurde, war jedoch wie gelähmt vor Schreck, von den Worten, die aus dem nun hämisch grinsenden Mund ihrer Schwester zu ihr drangen „Dein Leben“. Danach spürte sie nur noch, wie ihr Kopf nach vorne gerissen und ein Taschentuch auf Mund und Nase gepresst wurden. Danach wurde sie von Schwärze umfangen, und so spürte die nicht, wie sie mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug.

5.       

Maria klingelte nun schon zum zweiten Mal. Wo blieb sie denn nur? Maria hatte jetzt gleich ein Bewerbungsgespräch und wollte nicht zu spät kommen. Sie verzieh ihrer Freundin zwar viel, aber für alles war der Unfall, wegen dem sie in letzter Zeit ein wenig neben der Spur war, auch keine Ausrede. Und vor allem nicht dafür, zu vergessen, dass das eigene Kind um 2 Uhr zurückgebracht wurde. Endlich öffnete sich die Tür und ihre Freundin stand vor ihr. Der Verband am Kopf verbarg die dicke Beule, die ihr der Sturz aus dem Bett beschert hatte, bei dem sie mit dem Kopf gegen ihre Nachttischkante geknallt war. Diagnose schwere Gehirnerschütterung. Und das merkte man ihr auch an. Der Vorfall war zwar schon vier Wochen her, jedoch verhielt sie sich manchmal noch immer komplett daneben. Zwar vergaß sie wenigstens nicht mehr andauernd sie Namen ihrer Freunde und Bekannten und brachte sogar ihre Tochter fast immer rechtzeitig in den Kindergarten, war aber von normal noch weit entfernt. Erst letztes Wochenende, als sie zum ersten Mal wieder gemeinsam ausgegangen waren, hatte sie sich an ihren besten Freund Max rangemacht. Es war zwar zu nichts Ernstem gekommen, aber trotzdem. Ihre Freundin machte sowas für gewöhnlich nicht. Sie hielt generell nichts von Männer. Nicht, weil sie sie nicht attraktiv fand. Sarah hatte einfach seit dem Tod ihres Mannes mit diesem Thema abgeschlossen. „Oh mein Gott! Danke Maria!“, sagte nun ebenjene Sarah, ihre beste Freundin, die nun ihr Kind, die kleine Lea umarmte. „Was würde ich nur ohne dich machen.“ „Schon gut.“, erwiderte Maria lächelnd, um sich nicht anmerken zu lassen, dass sie wegen dem Bewerbungsgespräch voll unter Stress stand. „Ich muss wirklich nochmal zum Arzt, ob wirklich alles ok mit mir ist.“, meinte Sarah entschuldigend. „Mach das.“, sagte Maria und winkte zum Abschied. Gerade als sie über den Gartenweg das Grundstück verlassen wollte, drehte sie sich nochmals zu Sarah um, die gerade im Begriff war, die Tür hinter sich zu schließen. „Und frag ihn ob er nicht auch ein Wundermittel gegen deine Augenringe parat hat. Du siehst in letzter Zeit echt beschissen aus.“

6.       

Sarah schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Es war zwar schon 4 Wochen her, aber sie kam einfach immer noch nicht so ganz zurecht. Sie musste höllisch aufpassen. Max war einfach zu süß gewesen, und außerdem leichte Beute. Was wohl Maria sagen würde, wenn sie wüsste, dass sie sich nun schon den dritten Abend in Folge miteinander ausgingen. Sie wäre sicher empört, wenn sie wüsste, dass sie Lea einfach so allein zuhause lies. Wenn sie nur wüsste. Max war es anfangs auch nicht geheuer gewesen. Doch mittlerweile hatte sie gemerkt, dass der sonst so brave Anwalt auf ihre böse Seite stand.  Und außerdem waren Netflix und Co. ja auch großartige Babysitter. Doch nun musste sie sich bereit machen. Für Max. Sie würde heute das rote Kleid tragen, das mit glitzernden Steinen besetzt war. Oder doch das blaue mit Spitzen? Welches würde Max wohl am meisten schärfsten finden? Das musste sie noch aus ihr „herauskitzeln“. Aber zuerst musste sie die kleine Lea noch in ihr Zimmer setzten. Mit Tablet und Kopfhörer. Damit sie auch nicht bemerkte, wie sie die Kellertür öffnete. „Aber sie ist eh so strohblöd wie ihre Mutter“, murmelte Sarah leise, während sie die Kellertreppe hinunterstieg. Zu ebenjener Mutter. Der echten Sarah. Die ihr, an ein altes Bettgestellt gebunden und mit diversen Medikamenten ruhiggestellt, deren Wirkung sie am eigenen Leib erlebt hatte, stehts mit Ratschlägen zu ihrem einstigen Leben zur Seite stand. Und zwar vollkommen freiwillig. Denn Sarah musste ja schließlich an ihre Tochter denken. Wäre schade, wenn der kleinen eine Woche vor ihrem sechsten Geburtstag etwas zustoßen würde. Genau der Geburtstag. Sie musste noch die Kellerfenster schalldicht machen, damit nicht ausversehen jemand ihr Geheimnis lüften würde. Wäre zu schade, den Kindergeburtstag so zu vermasseln. Doch jetzt gab es wichtigere Dinge zu besprechen als das Leben der kleinen Lea. Sie riss Sarah den Knebel aus dem Mund. „Da bin ich wieder.“ Sie lächelte boshaft „Also: Glitzersteine oder Spitze?“

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