VivchenCúpla

Normal
0

21

false
false
false

DE
X-NONE
X-NONE

/* Style Definitions */
table.MsoNormalTable
{mso-style-name:”Normale Tabelle”;
mso-tstyle-rowband-size:0;
mso-tstyle-colband-size:0;
mso-style-noshow:yes;
mso-style-priority:99;
mso-style-parent:””;
mso-padding-alt:0cm 5.4pt 0cm 5.4pt;
mso-para-margin-top:0cm;
mso-para-margin-right:0cm;
mso-para-margin-bottom:10.0pt;
mso-para-margin-left:0cm;
line-height:115%;
mso-pagination:widow-orphan;
font-size:11.0pt;
font-family:”Calibri”,sans-serif;
mso-ascii-font-family:Calibri;
mso-ascii-theme-font:minor-latin;
mso-hansi-font-family:Calibri;
mso-hansi-theme-font:minor-latin;
mso-bidi-font-family:”Times New Roman”;
mso-bidi-theme-font:minor-bidi;
mso-fareast-language:EN-US;}

Es war ein frischer Frühlingsmorgen, als Larissa ihre morgendliche Joggingrunde durch den Stadtpark drehte. Die Pflanzen begannen langsam zu sprießen und der Park wurde von Tag zu Tag immer grüner. Rasenflächen wurden mit Narzissen, Stiefmütterchen und anderen Frühblühern bepflanzt. Die Schönheit der Natur genoss Larissa oft mehr als den Lauf an sich. Ihr Alltag im Büro war oft stupide und bewegungsarm. Die sportliche Betätigung am Morgen gab ihr die nötige Energie und Bewegung, um ihre teils sehr stressigen Tage auf Arbeit zu ertragen. So lief sie jeden Morgen ihre 6 Kilometer. Von ihrer Wohnung in den Park, einmal um einen kleinen Teich herum und dann wieder zurück. Meistens traf sie auf andere Gleichgesinnte, man grüßte sich freundlich, aber mehr auch nicht. Wie beim Joggen ist es auch im Alltag. Jeder ist in seinem eigenen Laufrad gefangen und nimmt die Mitmenschen so gut wie gar nicht mehr wahr. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Das Gefühl hatte zumindest Larissa. Kurz bevor sie den Park wieder verließ, machte Larissa noch Dehnübungen an einer Parkbank, manchmal auch leichte Übungen zur Kräftigung des Oberkörpers. So auch an diesem Morgen. Die Bank lag zu dieser Zeit im Lichtkegel der Sonne und Larissa genoss es, hier kurz innezuhalten und ihre Muskeln zu dehnen. Zum Schluss machte sie immer noch ein paar schräge Liegestütze auf der Bank. Dabei legte sie ihre Hände auf die Sitzfläche, streckte ihre Beine aus und quälte sich, bis sie 20 geschafft hatte. Sie hasste es, aber sie zog es durch, jedes Mal. Und während sie ihre gehasste Übung machte, wurde sie auf einmal von etwas geblendet. Ein Lichtstrahl, als ob jemand mit einem Spiegel das Sonnenlicht in ihre Richtung lenkte. Jedes Mal, wenn sie ihren Kopf kurz vor der Bank innehielt, blendete sie etwas. Sie richtete sich auf und schaute sich um, sie konnte nicht erkennen was es sein könnte. Es waren auch keine anderen Läufer in der Nähe. Sie machte weiter und wurde wieder geblendet. Dieses Mal fiel ihr Blick auf den Rasen unter der Bank. Dort lag ein kleines silbernes Rechteck. Sie erkannte nicht gleich, was es war. Erst als sie sich bückte um es aufzuheben, realisierte sie was es war. Ein Handy. Es muss wohl jemandem aus der Tasche gefallen sein, als er auf der Bank saß, dachte sie. Sie drehte es um, sodass sie das Display sehen konnte. Dieses leuchtete auf einmal auf. Larissa wunderte sich sehr darüber, dass der Besitzer keinen Sicherheitscode eingestellte hatte. Heutzutage sind so wichtige und persönliche Daten auf dem Handy gespeichert, dass es geradezu fahrlässig ist, es nicht zu schützen. Während ihr diese Dinge noch durch den Kopf gingen, sah sie das Hintergrundbild. Es war ein Spruch in Schnörkelschrift, wie man es von Postkarten und Kaffeebechern kannte. Dort stand: „Alles passiert aus einem bestimmten Grund.“ Auf was für kitschiges Zeug die Menschen doch stehen, dachte sie. Aber ob es einen Grund gab, dass gerade sie das Handy gefunden hatte? Sie lachte innerlich über ihre absurden Gedanken und wollte gerade weiter mit den Übungen machen, da wurde ihr bewusst, dass sie bald wieder zurück musste. Also steckte sie das Handy in die seitliche Tasche ihrer Sporthose und joggte nach Hause. Sie musste das Tempo anziehen, um die Zeit aufzuholen. Während des Laufens überlegte sie bereits, wann sie das Handy zur Polizei bringen könnte. In ihrer Mittagspause vielleicht.

 

Etwa 100 Meter von der Bank entfernt, an der Larissa gerade das Handy gefunden hatte, stand eine Person und beobachtete das Geschehen. Ihr Plan war aufgegangen. Larissa hatte das Handy entdeckt. Sie hatte Sorge, sie könne es wieder übersehen, so wie die letzten Tage. Aber heute hatte ihr die Sonne in die Karten gespielt. Mehrere Wochen hatte sie die Routinen von Larissa studiert. Ihre morgendliche Joggingrunde, ihren Weg zur Arbeit. Sie wusste welchen Supermarkt Larissa bevorzugte, kannte ihren Lieblingsbäcker, das Café „La Vie“, in dem sie mit ihrer Kollegin immer die Pausen verbrachte. Das Spiel konnte beginnen. Bald wird sich Larissas Leben für immer verändern. Sie wird etwas erfahren, das ihre Welt aus den Angeln heben wird und sie wird erfahren, was für ein schlechter Mensch sie in Wirklichkeit ist. Die Person kehrte Larissa den Rücken zu und verließ den Park.

 

Später am Tag, ging Larissa mit ihrer Kollegin Clara in ihr Lieblingscafé „La Vie“ um eine Kleinigkeit zu essen. Natürlich war wieder so viel zu tun, dass eine Mittagspause nicht möglich war. So gab es für Clara und sie einen Nachmittagsnack. Clara erzählte ihr von dem aktuellen Projekt und dass alles so gar nicht läuft, wie es sollte. Larissa und Clara arbeiteten beide seit vier Jahren für eine Werbeagentur und organisierten Kampagnen und Messeauftritte für Unternehmen. Clara biss von ihrem Baguette ab und begann sich zu beklagen: „Ich hatte extra bei dem Messebauer angerufen und gesagt, dass das Plakat hinter dem Tresen aufgebaut werden muss, damit vorne genug Platz für die Produkte ist und was macht er, druckt ein Roll-Up, was vor dem Tresen aufgebaut werden muss, weil man sonst nicht den kompletten Slogan sehen würde. Ich verstehe nicht, was an meiner Anweisung falsch zu verstehen war. Ich habe es nur mit Idioten zu tun.“ Dabei fasste sich Clara mit den Zeigefingern an die Schläfe. Larissa war der Meinung, dass Clara sich zu schnell über Kollegen, Auftraggeber und Fremdfirmen aufregte und echauffierte. Nicht selten, wurden ihre Wünsche und Vorstellungen nicht richtig verstanden, weil sie zu schnell sprach, Gedankensprünge hatte oder Ideen regelmäßig über den Haufen warf. Sie ist ein Freigeist mit vielen Visionen und Vorstellungen vom perfekten Auftritt einer Firma. Anders als Larissa, die gerne Altbewährtes anwendete und selten modernere Wege einschlug. Meistens aus Angst, damit zu viel Risiko einzugehen und am Ende zu versagen. Sie ist sehr beeindruckt von Claras Ergebnissen. Sie machte mit Abstand die bessere Arbeit von beiden und deshalb nahm Larissa die Schimpftiraden einfach hin. Des Weiteren war sie die einzige auf Arbeit, mit der sie sich gut verstand.

 

Larissa nutzte Clara’s Trinkpause, um ihr von dem Handy-Fund im Park zu erzählen. „Zeig mir mal das Handy.“, sagte sie. Larissa holte es aus ihrer Handtasche heraus und gab es Clara. „Der Besitzer hat noch nicht einmal einen Sperrcode eingestellt? Sehr fahrlässig, wie ich finde.“ Clara sah das Handy an, dreht es und sagte: „Das geht nicht.“

„Drück auf einen der seitlichen Knöpfe.“, antwortete Larissa. „Bei mir ging es vorhin auch an.“

„Komisch, bei mir funktioniert es nicht, vielleicht ist es alle, schau.“ Clara drehte das Handy zu Larissa, sodass es auf Kopfhöhe war und da entsperrte es sich und der Hintergrund mit dem Postkarten-Spruch kam zum Vorschein. „Wieso, es ist doch an!“, erwiderte Larissa. Clara drehte das Handy wieder zu sich. „Das verstehe ich nicht, warum hatte es denn bei mir nicht funktioniert?“ Clara drückte die Sperrtaste des Handy’s. Das Display wurde dunkel und blieb es auch. Sie drückte alle Tasten und nichts geschah. Erst als sie es Larissa wieder in die Hand drückte und Larissa es ansah, entsperrte es sich. Clara und Larissa schauten sich fragend an. Wie konnte das sein? „Wahrscheinlich hat es so eine neue Gesichtserkennungsfunktion, sodass nur der Besitzer es entsperren kann.“ mutmaßte Clara.

„Aber ich bin doch gar nicht der Besitzer.“ antwortete Larissa. Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. „Will sich da jemand mit dir einen Scherz erlauben?“ Clara schaute Larissa fragend an „Vielleicht kann man die Gesichtserkennung auch mit einem Foto von der Person einstellen.“ antwortete Larissa. Clara zuckte mit den Achseln. „Bring es einfach zur Polizei und gut ist, vielleicht ist das Ding auch kaputt und entsperrt sich wann immer es will. IRobot mäßig, du verstehst. Ich muss wieder zurück, meine Idioten warten auf Arbeitsanweisungen.“ Clara sprang auf, nahm ihre Jacke und sagte beim Anziehen: „Kannst du die Rechnung heute übernehmen? Ich habe kein Bargeld dabei. Ich gebe es dir dann später zurück.“ Der Standardspruch von Clara. Meistens bekam Larissa das Geld nicht zurück, das war sie schon gewöhnt. Solche Sachen sprach sie aber nicht an. Das war ihr unangenehm, daher beließ sie es einfach dabei.

 

Larissa hatte keine so große Eile wieder zurück zur Arbeit zu gehen. Ihr derzeitiges Projekt steckte fest. Der Kunde und sie kamen einfach auf keinen grünen Zweig. Die Vorstellungen des Kunden waren einfach nicht realisierbar und Larissa’s Gegenvorschläge wurden rigoros abgelehnt. Ihr Vorgesetzter machte immer mehr Druck, das Projekt voranzubringen, da die Deadline näher rückte. Ihr fiel es aber zunehmend schwerer Ideen zu finden, die die Wünsche des Kunden umsetzten. Also bestellte sie noch einen Kaffee und versteckte sich hier vor ihrer Arbeit. Sie sah das Handy noch einmal an. „Alles passiert aus einem bestimmten Grund.“ Der Spruch gruselte sie irgendwie. Sollte sie das Handy wirklich einfach zur Polizei bringen? Erst jetzt sah sie, dass unten rechts in der Ecke des Bildschirms ein kleines Symbol zu sehen war. Eine gelbe Akte, die der Regel nach für einen Dateiordner stand. Sie drückte drauf und ein Feld erschien. Es wurde die Eingabe eines Passworts verlangt. Larissa starrte auf das Eingabefeld. Ohne weiter darüber nachzudenken gab sie ihren eigenen Namen ein. Da öffnete sich der Ordner und es erschien ein Bild. Es war ein Familienfoto. Ihre Eltern strahlend vor dem Kölner Dom stehend, in den Armen ihrer Mutter war sie, Larissa, ca. zwei Jahre alt. Leuchtend blonde Haare, große blaue Augen, puderrote Wangen. So kannte sich Larissa auch von anderen Kinderfotos. Nur dieses Foto kannte sie nicht. Auch an die Puppe, die Larissa mit ihrer kleinen Hand festhielt, konnte sie sich nicht erinnern. Es war eine kleine Stoffpuppe. Sie stellte ein kleines Mädchen mit braunen Haaren und einem pinken Kleid dar. Auf dem Kleid war eine Blume zu erkennen. Larissa dachte angestrengt nach. Hatte sie einmal so eine Puppe besessen? Sie konnte sich immer nur an Bruno erinnern. Auch eine Stoffpuppe. Allerdings ein kleiner Junge in blauer Latzhose, die einen Hund bedruckt hatte. Sie war sicher, Bruno in einer Kiste im Keller aufgehoben zu haben. Jetzt fiel ihr noch etwas auf. Das Bild wurde aus einem ungewöhnlichen Winkel aufgenommen, als ob der Fotograf sich auf den Boden gesetzt hätte. Noch während sie sich über den Blickwinkel wunderte, klingelte ihr eigenes Handy. Sie erschrak regelrecht und war für einen kurzen Moment wie erstarrt. Dann nahm sie ab. Es war ihr Vorgesetzter, der fragte, wo sie bliebe. Larissa steckte das Handy ein, bezahlte und ging zurück zur Arbeit. Das Handy würde sie nicht zur Polizei bringen. Das war kein Zufall, sie musste herausfinden, was es damit auf sich hatte.

 

Ihr Arbeitstag war wie immer anstrengend und unbefriedigend gewesen. Hätte sie gewusst, dass sie einmal so wenig Freude am Arbeiten haben würde, hätte sie kein Mediendesign studiert. Nun war sie gefangen in einem Job, der ihr keine Freude machte, in der sie meistens nur mittelmäßige Arbeit ablieferte und von den Kollegen und Vorgesetzen auch kaum zur Kenntnis genommen wurde. Wie gern würde sie abends ihre Sorgen mit einem Partner besprechen, der sie aufbaut und ermuntert, etwas zu ändern oder weniger streng mit sich zu sein. Aber Larissa war alleine. Schon seit vielen Jahren. Ihre letzten Beziehungen hielten nie lange und waren auch nie wirklich erfüllend. Oft fragte sich Larissa, woran das liegen mag. Mit ihren 32 Jahren und ihrem recht sportlichen Aussehen, ihren langen blonden Haaren und blauen Augen hätte sie sicher keine so schlechten Karten. Aber am Ende würde sie ja doch nur enttäuscht werden. Also suchte sie gar nicht erst nach ihrem Deckel sondern versuchte ihre Freiheiten zu genießen, die sie durchs Alleinsein hatte. So wie heute, wo sie nach einem gestressten Tag einfach am Imbiss gegenüber eine Portion Pommes holte. Kochen wollte sie heute nicht mehr. Als sie zum Imbiss kam, wurde sie vom Imbissbesitzer schon laut und freundlich begrüßt. Er und Larissa kannten sich mittlerweile ganz gut. In den fünf Jahren, in denen sie in diesem Berliner Kiez lebte, hatte sie schon des Öfteren Gespräche mit ihm bei einem Feierabendbier geführt. Volker ist 56 Jahre alt, geschieden und Vater von zwei erwachsenen Kindern. Zwei Mädchen, die seiner Beschreibung nach, genauso aussahen wie Larissa. Nicht selten, fielen Sätze wie: „Du siehst aus wie meine Susi, sie würde auch die Farbe tragen.“ oder „Genau das hätte Sina auch gesagt.“. Manchmal  nervte Larissa der Vergleich mit seinen Mädchen, aber im Grunde wusste sie, dass er sich schlicht nach ihnen sehnte. „Wat darf it heute für dich sein? Ne Portion Pommes Schranke wie imma?“ Sein Berliner Dialekt war wirklich stark ausgeprägt. Nach Larissas Geschmack etwas zu sehr, aber irgendwie fand sie es auch sympathisch. „Ne Volker, heute hätte ich gerne eine Currywurst mit Pommes bitte.“

„Oh Kind, wenn de did bestellst, haste meist nen schlechten Tach jehabt.“ Larissa versuchte zu lächeln. „Alles gut Volker, ich habe nur richtig großen Hunger.“ Volker drehte die Wurst noch einmal auf dem Grill und sah Larissa dabei an. Er wusste genau, dass das gelogen war. Larissa aß eher selten bei ihm und ernährte sich sonst sehr gesund. Sie erwähnte mal, dass Junkfood wie ein Trostpflaster für sie war. Volker reichte ihr die Currywurst über den Tresen und sagte: „Na vielleicht habe ick da ne Kleinigkeit, die dich bissl ufmuntert. Wurde heute ufen Tresen jelegt, als ick hinten in der Küche war. War vielleicht der Postbote, der wes, dat du hier jerne mal ne Pommes isst“. Er überreichte ihr ein kleines Paket. Es war in Zeitungspapier eingewickelt. Darauf stand in dicker Schrift Larissa Kaufmann. Keine Straße, keine Postleitzahl. Wie soll das ein Postbote zugestellt haben können? Manchmal wunderte sie sich über Volkers einfaches Wesen. Sie nahm ihr Essen und das Paket und setze sich an einen der wenigen Tische, die Volker in seinem Imbiss hatte. Die roten Lacktischdecken klebten unangenehm. Eigentlich vermied es Larissa hier zu essen, aber sie war einfach zu neugierig, was sich in dem Paket befand. Sie öffnete es und entnahm einen Umschlag sowie ein kleines Stofftier. Sie erkannte es sofort. Es war die Puppe von dem Bild, das sich auf dem fremden Handy befand. Das kleine Mädchen mit dem pinken Kleid. Sie sah sich die Puppe an und ihr Magen zog sich zusammen. Was hatte das alles zu bedeuten, was wurde hier mit ihr gespielt? Sie wendete die Puppe und erkannte, dass hinten auf dem Kleid ein Name eingestickt war. „Leonie“ stand darauf. Es sah so aus, als wäre es nachträglich eingenäht worden. Es wirkte etwas unbeholfen, überhaupt nicht fachmännisch. Larissa dachte nach, sie kannte keine Leonie. In die Hand der Puppe wurde eine Hälfte eines Druckknopfes eingenäht. Larissa vermochte sich zu erinnern, dass ihr Bruno auch einen Druckknopf eingenäht hatte. Oder bildete sie sich das ein? Sie musste nachschauen, wenn sie zu Hause war. Sie legte die Puppe wieder zurück in den Karton. In ihrem Kopf ratterte es, was hatte das alles zu bedeuten? Sie drehte sich zu Volker, der wie gebannt am Tresen stand und Larissa beobachtete. „Und du hast wirklich nicht gesehen, wer das Paket hier abgelegt hat?“, fragte sie. Volker zuckte die Schultern. „Ne hab ick wirklich nich. Ick war doch hinten. Als ick wieder nach vorne kam, lag it da. Hat och kener jerufen oder so.“ Larissa drehte sich wieder zurück und nahm den Umschlag. Sie öffnete ihn und zog ein Blatt heraus. Als erstes erkannte sie das Berliner Wappen. Der legendäre Bär. Darunter stand Amtsgericht Pankow/Weißensee, Adoptionsbeschluss. Larissas Herz fing an zu rasen, alles an ihrem Körper verspannte sich. Sie hielt eine Kopie ihres eigenen Adoptionsbeschlusses in der Hand. Larissa Stehler adoptiert von Sabine und Gustav Kaufmann. Larissa fiel innerlich zusammen. Ihre Eltern waren gar nicht ihre Eltern?

 

Wie gelähmt nahm sie das Päckchen und verließ den Imbiss. Die Currywurst ließ sie unberührt auf dem Tisch. Volker rief ihr noch etwas hinterher, aber Larissa nahm es nicht wahr. Alles um sie herum war verschwommen. Nach 32 Jahren stellte sich heraus, dass die Personen, von denen sie dachte, sie wären ihre Eltern, gar nicht ihre Eltern waren. Warum haben sie ihr das nie gesagt? Wie konnten sie ihr das verheimlichen? Wie gerne würde Larissa sie fragen. Aber bedauerlicherweise hatte sie sie vor sechs Jahren beerdigen müssen. Sie starben bei einem Wohnungsbrand. Es konnte nicht abschließend geklärt werden, wie es zu diesem Unglück gekommen war. Die Feuerwehr vermutete eine vergessene Kerze als Ursache. Larissa war aber bis heute der Meinung, dass das nicht die Ursache sein konnte. Ihre Eltern hatten für Deko, Kitsch und Kerzen nichts übrig. Es war schrecklich. Larissa fiel damals in ein tiefes Loch. Nur mit Hilfe einer Psychotherapie und viel Sport konnte sie ihre depressiven Stimmungen bekämpfen. Jetzt gerade fühlte sie sich wie damals, leer und einsam.

 

In ihrer Wohnung angekommen, nahm sie wie ferngesteuert den Kellerschlüssel und ging wieder runter. Ihr Keller war typisch für Kellerabteile völlig überfüllt. Zum einen, weil sie einige Möbelstücke ihrer Eltern nicht wegwerfen oder spenden konnte. Zu viele Erinnerungen hingen daran. Nun führte es dazu, dass in ihrem Keller das reinste Chaos herrschte. Sie kletterte über den alten Ohrensessel ihrer Mutter, den Sekretär ihres Vaters und ihre Reisekoffer bis ans andere Ende des Kellers, wo die Kisten ihrer Jungend und Kindheit gestapelt standen. Natürlich war nichts beschriftet, also öffnete sie Kiste für Kiste und wühlte sich durch. Der Staub stieg ihr in die Nase, überall waren Spinnweben und Dreck. Normalerweise vermied Larissa es, sich lange hier aufzuhalten, aber sie musste es jetzt einfach wissen. Endlich hatte sie die Kiste mit ihren wichtigsten Kindheitserinnerungen gefunden. Ein Fotoalbum, ein Holzauto das sie in der Schule mal gebaut hatte, Urkunden von Sportwettbewerben, ein altes bedrucktes Kissen und auch Bruno. Sie sah sich den kleinen Jungen mit der blauen Latzhose an. Er hatte die gleiche Größe wie das Mädchen. Und da war noch etwas. Es war dunkel im Keller, sie konnte es nicht genau sehen, allerdings spüren. In der Hand ihres damals geliebten Brunos war ein Druckknopf eingenäht.

 

Völlig erschöpft, benommen und ratlos ließ sie das Chaos in ihrem Keller zurück und ging nach oben. Bruno in der einen Hand, das Fotoalbum in der anderen Hand. Sie hatte es nach dem Tod ihrer Eltern vermieden, Fotos von ihnen anzuschauen. Jetzt hatte sie einen inneren Drang, es tun zu müssen. Sie setzte sich an ihren Küchentisch und betrachte Bruno und das Mädchen. Man konnte beide Puppen miteinander verbinden. Ein Geschwisterpärchen. Larissa konnte sich nicht erinnern, jemals beide Puppen gesehen zu haben. Sie öffnete das Fotoalbum. Es gab Babyfotos von ihr, Fotos auf denen sie anscheinend zum ersten Mal alleine steht, Bilder auf Fahrrädern und vor Sehenswürdigkeiten. Bilder zusammen mit ihren Eltern, die anscheinend nicht ihre leiblichen Eltern waren. Konnte das wirklich sein? Konnten sie das so viele Jahre für sich behalten? War dieser Adoptionsbeschluss überhaupt echt? Vielleicht erlaubte sich ja wirklich jemand ein Spaß mit ihr. Heutzutage war es ja nicht schwer, Urkunden zu fälschen. Im Umschlag war auch nur die erste Seite. Keine Unterschriften oder Siegel oder Irgendetwas, was das Dokument rechtskräftig hätte aussehen lassen können. Larissa ließ ihren Kopf in die Hände sinken. Sie hatte Kopfschmerzen und ihr ganzer Körper schmerzte. Sie konnte sich das alles nicht erklären. Sie würde so gerne mit jemandem darüber reden. Aber wirkliche Freunde hatte sie nicht. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich von allen abgewandt. Clara ist zwar eine nette Kollegin, aber ihre Freundschaft ist einfach nicht eng genug, um solch private Sachen zu besprechen. Sie schaute aus dem Fenster und wusste nicht, was sie denken oder tun sollte, da piepte ein Handy. Nicht ihr Handy, sondern das fremde. Sie nahm es aus ihrer Jackentasche und sah das Briefumschlagsymbol in der Ecke. Als sie es näher vor ihrem Gesicht hielt, entsperrte es sich wieder wie von Zauberhand. Sie öffnete die SMS und es erschien ein Bild. Zwei kleine Mädchen waren zu sehen. Beide strahlten in die Kamera. Hinter ihnen war das Meer zu sehen, wahrscheinlich die Ostsee. Sie hielten sich nicht an den Händen, sondern an ihren Puppen fest. Das linke Mädchen an Bruno und das rechte Mädchen an der „Leonie“-Puppe. Die Puppen waren durch den Druckknopf ebenfalls verbunden. Larissa konnte ihren Blick nicht von dem Bild wenden. Auf dem Bild waren zwei identisch aussehende Kleinkinder. Larissa sah sich quasi zwei Mal. Sie ließ das Handy fallen. Als es auf dem Tisch landete, piepte es noch einmal und ein Text erschien. „Hallo Schwesterchen, endlich erfährst du, was für ein Mensch du wirklich bist. Leonie“

 

Leonie stand unten an der Straße, angelehnt an einer Laterne. Sie musste über sich selbst lachen, wie sie hier alle Klischees eines schlechten Krimis erfüllte. Sie hätte noch ihren Trenchcoat anziehen sollen, dann wäre die Rolle perfekt. Sie schaute nach oben zur Wohnung von Larissa. Sie wusste, dass sie sich in der Küche aufhielt. Im Wohnzimmer brannte kein Licht. Wie gerne würde sie das Gesicht von ihr sehen, wenn sie erfuhr, dass sie nicht nur adoptiert war, sondern auch noch eine Zwillingsschwester hatte. Eine Zwillingsschwester die verstoßen wurde. Die einfach aus deren Leben gestrichen wurde. Aber das wird sich jetzt ändern. Ab jetzt wird Larissa an nichts anderes mehr denken als an sie. Sie wird nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, nicht mehr arbeiten oder joggen können. Sie wird bezahlen, für das, was sie ihr damals angetan hatte.

 

Am nächsten Morgen meldete sich Larissa auf Arbeit krank. Clara hatte sie sofort versucht anzurufen, aber Larissa ging nicht ran. Sie wusste nicht wie sie ihre Situation erklären sollte und wollte dies auch nicht. Sie hatte nicht geschlafen. Wie verrückt war sie in ihrer Wohnung auf- und abgegangen, hatte versucht sich an ihre Kindheit zu erinnern. Hatte sie wirklich eine Schwester? Eine Zwillingsschwester? Wie konnte es sein, dass sie keinerlei Erinnerung mehr an sie hatte? Warum haben ihre Eltern auch davon nichts erzählt. Wer waren diese Personen, dass sie ihr eine so wichtige Information über ihre Identität nicht mitgeteilt hatten? Auf den Bildern in ihrem Album war immer nur sie zu sehen. Glaubte Larissa zumindest. Sie sah sich die Bilder immer und immer wieder an. Sie glaubte, nur sich zu erkennen. Erst tief in der Nacht, als sie die Bilder zum hundertsten Mal ansah, fiel ihr eine Sache auf. Auf einem Sommerbild, auf dem Larissa ca. 1 1/2 Jahre alt ist und eine kurze Hose trägt, ist auf ihrem rechten Bein, ein kleines Muttermal zu sehen. Sie selbst hatte aber kein Muttermal. Allerdings erkannte sie es dennoch. Eines der Mädchen auf dem Ostseebild hatte ein solches Muttermal. Leonie, ihre Schwester. Ab dem Moment war Larissa klar, was sie zu tun hatte. Sie suchte noch in der Nacht die Adresse von dem Familiengericht heraus.

 

Oft hatte Larissa daran gedacht, ihr Auto zu verkaufen. Wirklich brauchen tut man es in Berlin nicht. An jeder Ecke ist ein Supermarkt oder ein Späti und Parkplätze sind Mangelware. Jetzt gerade war sie aber froh, in ihrem alten Golf zu sitzen und vom Verkehr abgelenkt zu werden. In dem Bezirk, in dem das Familiengericht liegt, war sie noch nie. Ist eigentlich ganz schön hier, dachte sie und freute sich kurz, dass sie für einen Moment einen normalen Gedanken hatte. Beim Amtsgericht Pankow/Weißensee angekommen, fand sie sogar recht schnell einen Parkplatz. Kurze Zeit später stand sie dann vor dem altbarocken in die Jahre gekommenen grauen Prachtbau. Sie zögerte kurz. Was würde sie jetzt wohl herausfinden? Nervös und aufgeregt betrat sie das Gebäude. Sie fragte sich durch bis sie endlich in die Familiengerichtsabteilung kam. Dort wurde sie erst einmal in ein Wartezimmer geschickt. Dort saß sie gefühlt Stunden und sah sich unentwegt die drei Plakate an den Wänden an. Eines über das Erkennen von häuslicher Gewalt, eines über den Umgang mit Kindern in der Scheidungsphase und ihr Favorit eines mit der Überschrift „Zehn Schritte zurück in eine glückliche Ehe“. Larissa konnte darüber nur mit dem Kopf schütteln. Wenn es so weit gekommen ist, dass man beim Familiengericht im Wartezimmer sitzt, helfen wohl diese zehn Schritte auch nicht mehr. Ein schrecklich unangenehmes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken, als aus einem alten schnarrenden Lautsprecher ihr Name und die Zimmernummer aufgerufen wurden.

 

Als sie in das Büro kam, war sie überrascht, was für eine junge Frau da hinter dem Schreibtisch saß. Mitte 20, schlank, hübsch gestylt und geschminkt. Larisa hätte jetzt eine antiquierte alte Dame mit Brille erwartet. Aber es kann ja nicht jedes Klischee erfüllt werden. Larissa legte der jungen Frau die Kopie des Adoptionsbeschlusses vor und bat darum, das gesamte Dokument zu erhalten. „Dafür muss ich erst einmal prüfen, ob Sie dazu berechtigt sind.“ sagte die Frau genervt. Naja, dachte Larissa, wenigstens ein Klischee wurde hier erfüllt. Larissa gab ihr ihren Personalausweis. Die Verwaltungsangestellte sah Larissa an und sah so aus, als würde sie über etwas nachdenken. Dann gab sie ihr den Personalausweis zurück und gab etwas in ihrem Computer ein. Ich bin gleich wieder da, sagte die Dame, schrieb etwas auf einen gelben Post-It und verließ das Büro. Larissa schaute sich im Büro um. Es war klein, muffig. Die Büromöbel waren alt, der PC noch älter. Sie wusste gar nicht, dass noch so alte Monitore existierten. Jetzt wo sie hier so saß, war sie eigentlich ganz froh über ihren Arbeitsplatz. Sie hatte ein helles, offenes Büro mit hellen Birkenholzmöbeln. Ihr PC war auf dem neuesten Stand und wenn sie eine kreative Pause brauchte, gab es sogar einen begrünten Innenhof. Vielleicht sollte sie für diese Arbeitsbedingungen dankbarer sein. Die junge Dame kam zurück. In ihrer Hand eine dicke rote Akte. Sie blätterte sie durch, heftete den Adoptionsbeschluss aus und reichte ihn Larissa. „Sie können sich den Beschluss im Wartezimmer durchlesen. Kopien kosten 0,50 Euro pro Seite. Der Kopierer ist den Gang runter auf der linken Seite. Ich möchte ihn in zehn Minuten zurückhaben.“ Larissa lächelte freundlich. „Natürlich.“ sagte sie und ärgerte sich insgeheim über diese unsensible Art und Weise.

 

Sie setzte sich wieder in das ungemütliche Wartezimmer und sah sich den Beschluss an. Die erste Seite war tatsächlich identisch mit der Kopie, die ihr in dem Umschlag überreicht wurde. Larissa las den Beschluss noch einmal durch. Hiermit adoptieren Sabine Kaufmann, geborene Meier, geboren am 12.01.1955 und Gustav Kaufmann, geboren am 16.08.52, beide wohnhaft in der Augustenstraße 65 in 10177 Berlin Larissa Stehler, geboren am 20.06.87…sie blättert die Seite um … und Leonie Stehler, geboren am 20.06.87. Larissa konnte es nicht glauben. Sie hatte tatsächlich eine Zwillingsschwester. Sie war adoptiert und hatte eine Zwillingsschwester. Ihre Welt war nicht die, für die sie sie gehalten hatte. Tausend Fragen gingen ihr durch den Kopf. Warum konnte sie sich nicht an Leonie erinnern? Warum ist sie nicht mit ihr und ihren Adoptiveltern aufgewachsen? Was war damals geschehen? Warum meldete sich Leonie gerade jetzt auf eine so unangenehme Art und Weise? Wie hatte sie selbst über ihre Zwillingsschwester erfahren? Wie ein Blitz, fiel Larissa etwas ein. Sie muss hier gewesen sein. Leonie muss diesen Beschluss ebenfalls in den Händen gehalten haben. Sie ging zurück in das Verwaltungsbüro und unterbrach die junge Dame gerade bei einem privaten Telefonat. Ihr Unmut war nicht zu übersehen.

„War in letzter Zeit schon einmal jemand hier und wollte den Beschluss sehen?“ frage Larissa aufgeregt. Die Verwaltungsangestellte sah Larissa an, als wäre sie etwas beschränkt. „Na Sie selbst.“ antwortete sie knapp. Na klar, dachte Larissa. Leonie musste wirklich aussehen wie sie selbst, weshalb sich auch das Handy entsperrte, wenn sie es ansah. Leonie musste ihr eigenes Gesicht gescannt haben. Larissa gab den Beschluss zurück. „Was passiert, wenn man ein Kind adoptiert hat, aber es sich dann doch anders überlegt? fragte Larissa Die junge Dame trank seelenruhig ihren Kaffee bevor sie antwortete: „Woher soll ich das wissen, das hier ist das Amtsgericht und nicht das Jugendamt.“ Larissa verließ das Büro kommentarlos. Sie musste zum Jugendamt und herausfinden warum Leonie nicht mit ihr aufgewachsen war. Doch noch bevor sie an ihrem Auto angekommen war hörte sie wie ein Mann aufgeregt schrie: „Das ist sie, sie ist die Täterin.“ und zeigte mit dem Finger auf Larissa. Larissa verstand erst nicht, was er meinte bis sie es sah. Ihr Auto, ihr in die Jahre gekommener aber immerzu verlässlicher Golf, war völlig demoliert. Die Spiegel waren abgerissen, die Frontscheibe sieht aus, als hätte jemand einen Backstein aus großer Höhe darauf fallen lassen, die Seitenscheiben wurden eingeschlagen, überall lagen Scherben, der Lack wurde zerkratzt und auf der Motorhaube stand in großen Buchstaben „Ich hasse dich“.  Larissa stand wie angewurzelt vor dem Auto, ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie konnte es einfach nicht glauben, was sie sah. Ein Polizist holte sie in die Gegenwart zurück. Der Zeuge wiederholte noch einmal: „Das ist sie, sie ist die Täterin, sie hat das Auto zerstört.“ Der Polizist sah Larissa an. „Ich muss Sie festnehmen, sie haben das Recht zu schweigen …“ Larissa zuckte zurück hob die Hände und schrie: „Ich war das nicht. Das ist mein Auto. Ich würde doch nicht mein eigenes Auto demolieren. Ich zeige ihnen die Papiere.“ Larissa hatte ihre Hand noch nicht ganz in der Handtasche um die Autopapiere herauszuholen, da zog der Polizist seine Waffe und richtete sie auf Larissa. Die Welt um Larissa herum blieb stehen und sie erstarrte, als sie in den Lauf der Pistole sah. Noch nie, hatte sie eine Waffe von Nahem gesehen. Das passierte doch sonst nur in Filmen. Sie bekam am ganzen Körper Gänsehaut, alle Muskeln verspannten sich. Sie fing an zu zittern und zu weinen. Sie hob ihre Hände und flehte weinerlich darum „Nicht schießen. Ich habe keine Waffe, ich möchte Ihnen doch nur meine Papiere zeigen.“ Ihre Knie gaben nach und noch bevor sie den Boden erreichten, ergriff der Polizist ihre Handgelenke und fixierte sie mit Handschellen auf Larissa Rücken. Er brachte sie zum Streifenwagen. Larissa ließ es geschehen, sie war nicht in der Lage irgendetwas zu sagen oder zu tun. Auf der Wache angekommen erklärte sie noch einmal dass es sich um ihr Auto handelte und sie im Amtsgericht war, als die Tat geschehen ist. Der Polizist verglich die Autopapiere mit dem Kennzeichen und Larissas Personalausweis. Man konnte die Fragezeichen in seinem Gesicht förmlich lesen. Er sah Larissa durchdringend an. „Aber der Zeuge hatte sie erkannt und haargenau beschrieben. Wie erklären Sie sich das?“ Larissa schaute den Polizisten an. Sie hatte so viel geweint, sie sah ihn nur verschwommen. „Ich habe eine Zwillingsschwester.“, antwortete sie knapp. Der Polizist schien augenblicklich zu verstehen. „Was haben Sie ihr angetan, dass sie so sauer auf Sie ist?“ fragte er ohne Umschweife. „Das weiß ich selber nicht.“ gab Larissa zu. Der Polizist gab ihr die Papiere zurück. „Möchten Sie eine Anzeige erstatten?“

„Nein“, sagte Larissa sofort „ich muss das irgendwie anders klären.“ Der Polizist sah Larissa nun mitfühlend an. „Frau Kaufmann, die Zerstörung Ihres Autos weist auf die Tat einer psychisch gestörten Person hin. Ihre Schwester könnte Ihnen gegebenenfalls auch etwas antun.“ Larissa war zunächst etwas gerührt von seiner Sorge, allerdings änderte sich dies, als ihr wieder bewusst wurde, dass er vor kurzer Zeit noch eine Pistole auf sie gerichtet hatte. „Wie heißt denn Ihre Schwester?“ fragte der Polizist „Leonie“ antwortete sie wahrheitsgemäß „aber ich weiß nicht, ob sie mit Nachnamen ebenfalls Kaufmann heißt. Sie wurde von meinen Eltern adoptiert, aber sie ist nicht bei uns aufgewachsen. Ihr Geburtsname ist Stehler.“ Der Polizist gab etwas in seinen Computer ein. „Was ich hier mache, ist eigentlich nicht erlaubt.“ sagte er ohne seinen Blick vom Monitor zu wenden. Warum er es dennoch tat, ließ er Larissa nicht wissen. Es war ihr auch egal. Vermutlich war er selbst nur neugierig. Ihr sollte es recht sein, so kam sie vielleicht an mehr Informationen. „Tatsächlich“ sagte er auf einmal. „Ich habe sie gefunden. Leonie Stehler, geboren am 20.06.87.“

„Das ist sie.“ rief Larissa, lauter als sie es eigentlich wollte. „Also“, sagte der Polizist, stand auf und schloss leise die Tür zum Flur. „Was ich Ihnen nicht sagen darf ist, dass Frau Stehler mehrfach festgenommen wurde. Schon in Jugendzeiten ist sie mehrfach auffällig geworden. Diebstahl, Körperverletzung, Betrug, um nur einige Straftatbestände aufzuzählen. Sie verbüßte sogar eine Gefängnisstrafe.“ Er schaute zu Larissa, die wie ein Häufchen Elend an dem kleinen grauen Vernehmungstisch saß. Ihre Handgelenke waren noch immer von den Handschellen gerötet. Sie sah sich ihre Hände an und wusste nicht, was sie sagen sollte. „Frau Kaufmann, sind Sie sicher, dass Sie keine Strafanzeige erstatten möchten? Diese Frau hat schon einige Einträge im Strafregister. Die Demolierung Ihres Autos war vielleicht erst der Anfang.“ Ein anderer Polizist betrat den Raum und unterbrach seine mahnende Rede. Larissa nutzte die Gelegenheit und fragte, ob sie nun gehen darf. Der Polizist sah sie noch einmal mitfühlend an und entließ sie.

 

Vor der Wache hielt sie erst einmal kurz inne und atmete tief durch. Es war bereits später Nachmittag und die Frühlingssonne war schon längst hinter den Häusern verschwunden. Sie konnte nicht glauben, was ihr gerade widerfahren war. Sie schaute sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Die Fahrt im Polizeiauto hatte sie kaum wahrgenommen. Sie lief zur nächstgrößeren Straße und fand eine Tram-Station. Jetzt erst wurde ihr auch bewusst, wie sehr sie fror. Sie hatte ihre Jacke im Auto gelassen. Um das Auto musste sie sich ja auch noch kümmern. Die Tram fuhr ein und Larissa setzte sich an einen Fensterplatz. Draußen sah die Welt so normal aus, aber ihre war es nicht. Sie fragte sich, wie Leonie aufgewachsen sein musste, dass sie so früh kriminell wurde. Sie fühlte trotz allem ein gewisses Mitgefühl für sie. Auf einmal vibrierte es in ihrer Handtasche. Sie zog Leonies Handy heraus. Es waren zwei Bilder. Eines zeigte ihr völlig zerstörtes Auto und das andere Larissa, wie sie vom Polizisten in Handschellen zum Streifenwagen geführt wurde. Larissa sah sich selbst in der demütigsten Haltung, die ein Mensch annehmen konnte. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Unter dem letzten Bild stand: „Jeder, wie er es verdient.“ Larissa zog es sich innerlich zusammen, ihr wurde schlecht, sie bekam kaum Luft. Was hat diese Frau nur in ihrem Leben erlebt, dass sie zu solchen Taten fähig war? Bei der nächsten Station stieg sie aus, sie wollte einfach nur so schnell wie möglich nach Hause. Es wurde immer dunkler, sie fror bitterlich. Sie winkte ein Taxi heran und ließ sich nach Hause fahren. Der Taxifahrer betrachtete sie im Rückspiegel. Sie sah sicher aus, als hätte sie die Nacht durchgemacht, dabei hatte die Nacht gerade erst begonnen. Larissa starrte nur aus dem Fenster. Sie wusste nicht, was sie getan haben soll, dass ihre Zwillingsschwester so einen Hass auf sie hatte. Sie wusste nicht, warum ihre Eltern nie erzählt hatten, dass sie adoptiert war und was sie am wenigstens verstand: Warum haben sie Leonie erst adoptiert und dann wieder abgewiesen? Was ist damals geschehen? Larissa wusste, es gab nur eine Person, die ihr die Antworten geben konnte. Auch wenn es ihr vor dem Gedanken graute. Larissa holte das Handy aus der Tasche und antwortete auf die letzte SMS von Leonie. „Lass uns bitte reden!“ Mehr schrieb sie nicht. Die Antwort kam unmittelbar. „Schneller als dir lieb sein wird.“ Larissa bekam es mit der Angst zu tun. Hatte der Polizist recht? Könnte sie in Lebensgefahr schweben? War Leonie zu Schlimmerem fähig?

Der Taxifahrer hielt an der angegeben Adresse und forderte den Fahrpreis. Larissa bezahlte und stieg aus. Sie stand vor ihrer Wohnung und sah nach oben. In ihrem Wohnzimmer brannte Licht. Wieder lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Leonie war in ihre Wohnung eingebrochen. Was sollte sie tun? Die Polizei rufen? Aber dann würde sie vielleicht nie erfahren, was damals wirklich geschehen war. Vielleicht würde die Polizei ihr auch gar nicht glauben. Nein, dachte Larissa und zog ihre Schultern zurück. Ich muss es einfach wissen. Sie atmete tief durch und ging zum Treppenhaus. Oben angekommen schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung auf. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie Volker hätte fragen können, ob er sie begleitet. Nun ist es zu spät und Larissa stand in ihrem Flur. In ihrer Wohnung war es totenstill. Nur das Licht im Wohnzimmer zeugte davon, dass jemand anwesend war. Nun fiel Larissa auch auf, dass ihre Eingangstür und das Schloss gar nicht demoliert waren. Wie ist Leonie ohne Spuren hereingekommen? Sie legte ihre Tasche ab, zog die Schuhe aus und ging leise zum Wohnzimmer. Die Dielen knarrten unter ihr. Sie erschrak vor dem Geräusch, obwohl sie die Geräusche ihrer Wohnungen genau kannte. Sie ging an das Ende des Flures, an der Küche vorbei und dann hinten links in ihr Wohnzimmer. Sie blieb im Türrahmen stehen. Da saß sie. Leonie, ihre augenscheinliche Zwillingsschwester. In dem grauen Drehsessel, den Larissa günstig auf einem typischen Berliner Flohmarkt ergattert hatte. Es war, als würde Larissa sich selbst sehen. Sie hatten die gleichen runden Gesichtszüge, die kleine Nase, die großen blauen Augen, die langen blonden Haare. Es war erstaunlich. Im Gegensatz zu Larissa war Leonie allerdings eher mager als sportlich gebaut. Leonie sah Larissa in die Augen. Sie waren auf eine gewisse Weise bösartig. Larissa bekam es erneut mit der Angst zu tun, noch nie wurde sie von jemandem so angesehen. Sie war wie erstarrt und konnte nichts sagen. Das übernahm Leonie für sie. „Larissa“, sagte sie gespielt freundlich, „schön dich endlich wieder zu sehen. Du kannst dich ja anscheinend nicht mehr an mich erinnern. Ich allerdings umso mehr. Wir hatten doch so schöne 2 ½ Jahre zusammen. Bevor du mir mein Leben zerstört hast.“ Leonie schniefte herablassend, als sie es sagte und schaute aus dem Fenster. „Ich wollte dich eigentlich schon früher für dein Handeln bestrafen, aber eine Gefängnisstrafe kam mir dazwischen.“ Sie drehte den Drehstuhl wieder in die Richtung von Larissa und gab ihr mit einer einladenden Handbewegung zu verstehen, dass sie sich setzen solle. „Bitte Larissa, fühle dich wie zu Hause, in deinen eigenen vier Wänden. Weißt du, ich habe mich hier ein wenig umgesehen und ich muss sagen. Du hast genauso wenig Geschmack wie deine Adoptiveltern.“ dabei grinste sie. Larissa riss die Augen auf und sah Leonie an. „Du hattest Kontakt zu unseren Eltern?“ Leonie starrte Larissa tief in die Augen. Ihr ganzer Körper war angespannt, wie eine Raubkatze die kurz vor dem Angriff stand. „Erst einmal meine Liebe, waren es nicht unsere Eltern, sondern deine. Sie haben zwar uns beide adoptiert, aber am Ende haben sie sich für nur einen Zwilling entschieden. Mir haben sie erst die schöne Welt gezeigt, die ich hätte haben können, um mich dann in die Hölle zu schicken. Diese Personen waren keine Eltern, sie waren Narzissten, herzlose bösartige Menschen, die nur an sich gedacht haben. Sie hatten den Tod verdient.“ Leonie stand auf und ging auf und ab. Larissa konnte nichts sagen, die hasserfüllten Worte über ihre Eltern trafen sie sehr, aber sie spürte auch die Traurigkeit und Enttäuschung in Leonies Stimme. Leonie blieb vor einem Regal stehen und betrachtete eine blaue Stumpenkerze. Die einzige, die Larissa besaß. Sie hatte sie von Clara geschenkt bekommen. Sie nahm sie in die Hand und drehte sich zu Larissa um. „Gefährlich diese Kerzen.“ flüsterte Leonie. „Wie schnell kann man sie vergessen und dann passiert ein Unglück.“ Larissa glaubte nicht was, sie da gehört hatte. Woher konnte Leonie die Mutmaßungen der Feuerwehr über das Unglück ihrer Eltern wissen? „Was meinst du damit?“, fragte Larissa ängstlich. Ihre Stimme zitterte. „Ich kann mich erinnern, so eine Kerze in der Wohnung deiner Eltern gesehen zu haben.“

„Wann warst du in ihrer Wohnung?“ wollte Larissa wissen. Eine schlimme Vorahnung überkam sie. Leonie legte ihren Kopf etwas schief und sah Larissa an, als wäre sie ein junges, naives Mädchen. „Lass mich mal überlegen, wann war das?“ Sie zog die Pause künstlerisch in die Länge, als würde sie ein Theaterstück spielen. Larissas Angst verwandelte sich immer mehr in Wut. Sie sprang auf und schrie Leonie an. „Wann warst du in der Wohnung meiner Eltern, was hast du dort gesucht?“ Leonie war überrascht über Larissas Vorsprung, ließ sich aber nichts anmerken. „Ich war da, um ihnen ein Geschenk zu überbringen, als Dank, dass sie mir mein Leben zerstört haben. Das muss vor sechs Jahren gewesen sein, im November glaube ich.“ Leonies Mundwinkel zuckten, als ob sie sich ein Lächeln verkneifen müsste. Larissa lief ein kalter Schauer über den Rücken. Der Wohnungsbrand ihrer Eltern war im November vor sechs Jahren. „Na“, sagte Leonie. „Rattert da etwas in deinem kleinen Gehirn? Hast du dich nie gewundert, wie eine Kerze ein Feuer auslösen konnte, obwohl deine Eltern keine Kerzen in der Wohnung hatten?“ Larissa fiel zurück auf die Couch, sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Hast du dich nie gewundert, fragte Leonie weiter, warum deine Eltern nicht von den Rauchmeldern geweckt worden sind, oder warum sie sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten?“ Larissa schaute zu Leonie hoch und sah den Teufel vor sich stehen. „Weil ich es nicht wollte.“ beantwortete Leonie ihre eigene Frage. „Ich wollte, dass sie sterben. Sie haben mich verstoßen wie Mustafa aus dem vereinten Königreich. Ich war die ungeliebte, verhaltensgestörte, schwierige Tochter. Du hast immer gemacht was sie wollten, warst immer lieb und gehorsam. Neben dir sah ich aus wie das Böse.“ Larissa sprang auf. „Du bist ja auch das Böse. Du hast meine Eltern ermordet!“ Larissa fing bitterlich an zu weinen und zu schluchzen. Jahrelang dachte Larissa, ihre Eltern seien bei einem Unglück gestorben, dabei war es eiskalter Mord. Ausgeführt von ihrer eigenen Zwillingsschwester.

Leonie begann wieder auf und ab zu laufen, wie ein unruhiger Löwe in seinem Käfig. „Larissa, weißt du, was sie mir angetan haben, deine heißgeliebten Eltern? Nachdem sie mich wieder zur Adoption freigegeben haben, bin ich in den schlimmsten Kinderheimen der Stadt aufgewachsen. Ich wurde immer wieder in Pflegefamilien gesteckt, die mit meiner aufgeweckten Art nicht zurechtkamen. Ich hatte nur abgetragene Klamotten, die mir teils gar nicht passten, geschweige denn gefielen. Also fing ich an zu klauen, erst Klamotten und dann später Brieftaschen. In der Schule hatte ich Schwierigkeiten mich zu konzentrieren, aber das war den Lehrern egal. Sie sahen in mir nur das dumme Heimkind. Im Gegensatz zu dir hatte ich keine Eltern, die mit mir Hausaufgaben gemacht haben oder mich zur Nachhilfe geschickt haben, wenn es irgendwo hakte. Ich musste mich alleine durchkämpfen. Drei Mal war ich im Jugendgefängnis. Ich habe teilweise auf der Straße gelebt, weil ich mir keine Wohnung leisten konnte.“

Larissa liefen Tränen über das Gesicht, als Leonie von ihrem Leben berichtete. Sie konnte sich nicht annähernd vorstellen, wie hart es für sie gewesen sein musste. Dennoch war das Verbrechen an ihren Eltern unentschuldbar und ein Zeichen von Geistesgestörtheit. Leonie lief weiter auf und ab. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie mitbekam, wie Larissa zu ihrem Festnetztelefon sah, das neben der Couch auf einem kleinen Beistelltisch lag. Clara hatte sie immer dafür ausgelacht, dass sie noch eine Festnetznummer hatte. Jetzt würde es ihr vielleicht das Leben retten. Sie könnte es packen und ins Badezimmer rennen, sich einschließen und dann die Polizei anrufen. Larissa schaute noch das Telefon an, als Leonie verstummte. Larissa drehte ihren Kopf langsam zu Leonie, ihre Blicke trafen sich. Leonie schaute erst Larissa und dann das Telefon an. Es schien, als wäre es ihr vorher nicht aufgefallen. Noch bevor Leonie etwas tun konnte, packte Larissa das Telefon und rannte Richtung Flur, doch bevor sie das Zimmer verlassen konnte hörte sie hinter sich ein bedrohliches Klicken. Sie drehte sich um und sah Leonie mit ausgestreckter Waffe vor sich stehen. Das zweite Mal an diesem Tag schaute Larissa in den Lauf einer geladenen Waffe, nur dieses Mal stand eine geistesgestörte Mörderin am Abzug. Larissa erstarrte. „Schmeiß das Telefon her.“ befahl Leonie mit eisiger Stimme. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. Larissa tat wie ihr befohlen und schmiss das Telefon auf den Boden vor Leonie. „Was hast du vor?“ fragte Larissa zitternd. „Möchtest du mich auch umbringen? Ich habe dir doch gar nichts getan.“ Ihre Stimme brach ab und sie fing an zu weinen. „Ich habe doch schon meine Eltern verloren.“ Larissa fiel auf die Knie und fing an zu weinen. Ihr ganzer Körper bebte. „Steh auf.“ schrie Leonie. „Hör auf zu heulen wie ein Kleinkind. Die Masche kannst du wirklich immer noch gut, du miese Schlange.“ Larissa hob den Kopf und sah Leonie an, die immer noch die Waffe auf sie richtete. „Was meinst du?“ stotterte Larissa.

„Kannst du dich nicht erinnern?“ fragte Leonie. „Wenn wir beide Dummheiten gemacht haben, musstest du dir nur eine Krokodilsträne rausdrücken und warst das kleine süße Mädchen, das getröstet werden musste. Arme kleine Larissa, ist doch alles halb so schlimm.“ äffte Leonie nach. „Ich hingegen, war immer die Unartige und musste dafür büßen. Sie hatten dich von Anfang an mehr geliebt als mich.“ Nun lief auch Leonie eine Träne über ihr Gesicht. „Und deshalb möchtest du mich töten? Weil meine Eltern mich geliebt haben?“ fragte Larissa. Für einen kurzen Moment schien Leonie an ihrem Vorhaben selbst zu zweifeln. Dann besann sie sich wieder, straffte ihren Arm und richtete die Waffe gezielt auf Larissas Kopf. „Du hattest 32 schöne, Lebensjahre, mehr hast du nicht verdient.“ Leonie ist geistesgestört, dachte Larissa. Sie würde nie an ihre Menschlichkeit appellieren können, weil sie keine hatte. Larissa würde in ihrer eigenen Wohnung hingerichtet werden und niemand konnte ihr helfen, weil sie niemanden hatte. Weil sie sich in Zeiten der Trauer um ihre Eltern von allen abgewandt hatte, anstatt die Hilfe anzunehmen, die ihr angeboten wurde. Nun hockte sie hier auf ihrem Wohnzimmerboden und wartete auf das erlösende Ende dieses wahrgewordenen Albtraums. Sie dachte an das Foto von ihr und Leonie am Strand. Die strahlenden Gesichter der beiden. Es musste doch ein letzter Funken Geschwisterliebe übrig sein. Larissa nahm all ihren Mut zusammen und schaute zu Leonie hoch, die mit erhobener Waffe und ausdrucklosem Gesicht auf Larissa herabblickte. „Leonie bitte“ begann Larissa doch Leonie unterbrach sie. „Halt die Schnauze und höre auf zu flehen.“

„Leonie“, begann Larissa erneut. „Wir sind doch Schwestern, eine Familie.“ Sie schaute Leonie fest in die Augen. Sie zeigte keine Emotionen. „Ich wünschte, meine Eltern hätten damals nicht so gehandelt wie sie es getan haben. Wir hätten eine gemeinsame Kindheit haben können. Es tut mir so leid wie dein Leben verlaufen ist, bitte glaube mir.“ Die Hand von Leonie fing an zu zittern, ihre Lippen waren zu einem schmalen Streifen zusammengedrückt. „Das sagst du jetzt, um deinen Arsch zu retten, glaubst du ich falle darauf rein?“ schrie Leonie. „Nein“ erwiderte Larissa. „Es ist doch nicht zu spät. Wir könnten die Zeit nachholen, wir könnten wieder Schwestern werden. Wir könnten wieder eine Familie werden.“

„Ich will keine Familie, die mich verstoßen hat. Ich will keine Schwester, die mich einfach vergessen hat.“ schluchzte Leonie. Sie fing immer mehr an zu zittern, ihre Augen waren leer. Larissa rechnete jederzeit mit dem Ende. Sie hatte es versucht, jetzt gab es nichts mehr, was sie versuchen konnte. Gerade als sie sich ihrem Schicksal ergeben wollte, hörte sie einen letzten Satz von Leonie. „Alles passiert aus einem gewissen Grund.“ Dann hielt sie die Pistole an die Schläfe und drückte ab.

 

Später an dem Abend erhielt Larissa die Handtasche von Leonie von der Polizei überreicht. Es waren nur drei Gegenstände enthalten. Die beiden Puppen und ein Brief adressiert an Larissa.

 

Larissa,

ich werde für dich immer die geistesgestörte Zwillingsschwester sein. Das ist mir bewusst. Aber bevor ich abtrete, musste ich tun, was meiner Meinung nach getan werden musste. Das wirst du nicht verstehen und sonst auch keiner. War schon immer so.

Warum ich dir nach Allem noch einen Brief schreibe? Weil ich vor einigen Jahren erfahren habe, dass ich eine unheilbare Krankheit habe. Du solltest dich also durchchecken lassen. Warum ich dir das sage? Weil unsere leiblichen Eltern dich kennenlernen möchten. Sie haben mich vor einigen Jahren ausfindig gemacht. Die Adresse liegt im Umschlag.

Ich habe dich lange beobachtet Larissa. Im Gegensatz zu mir könntest du glücklich sein, Freunde und Freude haben. Ich habe nie verstanden, warum du dich Allem verschlossen hast. Vielleicht ist dies dein Neubeginn.

Alles passiert aus einem bestimmten Grund.

Leonie

5 thoughts on “Cúpla

  1. Ich habe die Geschichte sehr gern gelesen und sie hat mich gefesselt. Vor allem die Wendung am Schluss hat mich begeistert. Du schreibst sehr reich an Bildern, das gefällt mir. Meine Lieblingsrolle ist der Berliner Wurstverkäufer … köstlich, man kann ihn sich gut vorstellen. Danke für die schöne Geschichte.
    Petra Lennemann (“Schmerzsymphonie”)

      1. Der Zufall hat entschieden: deine Geschichte ist die erste, die ich gelesen habe 🙂
        Die Geschichte ist dir wirklich gut gelungen, vor allem der kleine Twist am Ende.
        Auch dein Schreibstil gefällt mir sehr gut.
        Vielleicht hättest du die Geschichte jedoch noch von ein paar mehr Leuten korrekturlesen lassen sollen, um ein paar wenige Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler zu vermeiden 😊
        Liebe Grüße,
        Theresa (📝 ‘Jahrestag’)

  2. Vielen Dank, Theresa 🙂 es freut mich, dass sie dir gefällt. Ich freue mich schon , deine Geschichte zu lesen und werde über etwaige Tippfehler einfach hinwegsehen. Der Inhalt bleibt ja der Gleiche. Viele Grüße Vivian

  3. Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Die Wendung am Ende gibt einem viel Stoff zum Nachdenken: Larissa wurde trotz der sehr dramatischen Erscheinung durch Leonie, der daraus resultierenden Offenbarungen ihrer verstorbenen Eltern und nicht zuletzt durch ihres vermeintlichen Todes, sehr zum Überdenken ihres eigenen Lebens gebracht, fast schon gezwungen. Ohne fremde Einwirkung, hätte sie das selbst wohl nie geschafft.
    “Alles passiert aus einem gewissen Grund.”
    Der Satz ist eine sehr gute Beschreibung deiner Geschichte.
    Trotz der Dramatik, irgendwie auch positiv!!

Schreibe einen Kommentar