MartinaTrockenes Blut

Claire ging durch die Flure der Anwaltskanzlei Schmidt und Claßen. Es war jetzt 20:57 Uhr und sie machte wie immer die letzte Runde, bevor sie nach Hause fuhr. Sie ging durch jeden Raum, ließ die Türen zu den Büros geöffnet, weil sie sich einbildete, dass die Luft dann besser zirkulieren konnte. Im Wartebereich goss sie nochmal die Blumen und legte die Zeitschriften zusammen. Es war natürlich nicht ihre Aufgabe, sie war schließlich Juniorpartnerin aber sie liebte Ordnung und Rituale. Sie wollte alles perfekt haben und überließ nichts dem Zufall. Als sie das Licht ausmachen wollte und nochmal einen letzten Blick in den Wartebereich warf, bemerkte sie das Handy, das in einem Sessel lag. Verdutzt ging sie hin und nahm das Handy an sich. Was Leute so liegen lassen und es noch nicht einmal vermissten, dachte sie sich. Kopfschüttelnd steckte sie das Smartphone in ihre Hosentasche. Sie würde morgen den rechtmäßigen Eigentümer ausfindig machen. Heute hatte sie zu nichts mehr Lust. Sie würde sich noch irgendwo eine Flasche Rotwein und etwas Käse kaufen und sich zu Hause mit ihrem Laptop und ein paar Akten vergnügen. Claire liebte es, sich zu Hause zurückziehen zu können und sich stundenlang aussichtslose Fälle anzunehmen. Sie hatte sich auf Steuerhinterziehung spezialisiert. Ihr Partner fand es allerdings viel passender, sie würde sich Männer und Frauen zur Brust nehmen, die angeblich ihre eigenen Kinder missbrauchten, misshandelten oder gar getötet haben. Er meinte, Claire hätte als Frau wohl das bessere Fingerspitzengefühl. Er schickte solche Fälle sehr gerne zu ihr. Gott sei Dank konnte sie als Juniorpartner mitbestimmen und steckte diese besonderen Fälle ihrem Kollegen Hardy zu. Er war ein sehr einfühlsamer und ruhiger Kollege, den sie sehr schätzte. Er versuchte sich immer in die Lage der Mandanten zu versetzen. Sie seufzte als sie nach Hause in den 5. Stock ihres Apartments fuhr und war froh, als sie ihre High Heels in die Ecke schleudern konnte. Als erstes verschwand sie ins Bad. Sie liebte es, abends nach Hause zu kommen und unter der Dusche ihre ganzen Ängste und den Alltag einfach hinabzuspülen. Sie fühlte sich danach befreit und wieder rein. Anschließend goss sie sich ein Glas Wein ein und machte sich eine kleine Platte mit Käse, Trauben und Baguette vom Vortag fertig und brachte es alles an ihr Bett. Sie ging in das Wohnzimmer, wo sie ihren Laptop vermutete und erschrak, als sie ein lautes „I will survive…“ von Gloria Gaynor wahrnahm. Sie fasste an ihr Herz, denn ihr Nervenkostüm war über die Jahre nicht stärker geworden, um anschließend erleichtert zu lachen. Ich habe dieses Handy total vergessen, dachte sie noch, als sie es lächelnd aus ihrer Hosentasche zog, die lieblos auf der Couch lag. Sie musste noch ein bisschen aufräumen, bevor sie sich in den Akten verlor. Morgens blieb da nie viel Zeit, einen kleinen Espresso im Stehen und ab ins Büro. Wahrscheinlich versuchte der Besitzer des Handys gerade herauszufinden, ob es jemand gefunden hatte. Sie ging ahnungslos ran. „Na Schatz, schon die geilen Fotos begutachtet, die auf deinem neuen Handy zu sehen sind?“ Eine elektronische Stimme ließ Claire erschauern. „Was wollen sie?“, fragte sie leise und vorsichtig, als ob sie damit die Gefahr, die sie witterte, damit so gering wie möglich halten konnte. „Schau dir die Fotos an.“ „Welche Fotos? Hören Sie, ich habe das Handy nur gefunden. Sie wollen bestimmt mit dem Eigentümer sprechen.“ Sie starrte auf das Handy und hoffte, ein verheirateter liebestoller Typ hat dieses Smartphone seiner neuen Geliebten zukommen lassen. Ihr Gegenüber hatte aufgelegt. Verdutzt durchforstete sie das Prunkstück, obwohl es nicht viel zu durchforsten gab. Keine Kontakte, keine Nachrichten nur Fotos, die sie eigentlich nicht öffnen wollte, da sie keinen Wert auf Schwänze oder behaarte Männerbrüste legte. Dennoch tat sie es, vielleicht gab es doch Aufschluss auf den Besitzer. Obwohl, sie kannte nicht viele nackte Schwänze. Sie lächelte vor sich hin, als sie das Album öffnete.  Claire entglitt das Badetuch, das sie diskret vor ihren blanken Busen hielt und erstarrte. Es schien ihr, als zog jemand ihr den Boden unter den Füßen weg. Das konnte und durfte doch nicht sein. Welcher Wixer… sie hielt sich den Mund zu, womit sie jedoch nur erreichen konnte, dass ihr die Tränen kamen.

 

Nach einer nicht enden wollenden Nacht, ging sie früher als sonst ins Büro in der Hoffnung noch irgendwas zu entdecken. „Oh, guten Morgen Claire, was machst du denn schon so früh hier?“ Nelly, die Empfangsdame kam wie immer fröhlich und wie aus dem Ei gepellt in die Kanzlei. Licht war ja schon überall an, also startete sie ihren Computer und schaltete die Kaffeemaschine an. „Nelly, du musst mir die Liste ausdrucken, wer alles gestern hier war. Und vor allen Dingen muss ich wissen, wer im Wartezimmer Platz genommen hat.  „Oh“, sagte Nelly und widmete sich weiterhin der Kaffeemaschine. „Auch einen?“ Sie hielt Claire eine leere Tasse vor die Nase. „Nein“, entgegnete Claire etwas ungehalten, was Nelly aber nicht sonderlich beeindruckte. „Also im Wartezimmer war nur Herr Krüger, du weißt die Scheidungsgeschichte von Hardy und Mister Lover, Lover.“ Damit schnalzte Nelly mit der Zunge und rollte lasziv mit den Augen. „Er hat den Chef zum Golfen abgeholt.“ Claire überlegte, beide kamen nicht wirklich in Frage. Herr Krüger, war mit seiner Scheidung beschäftigt und hatte nur die einzige Sorge, dass er irgendwie sein Geld zusammenhalten konnte und Mister Lover, Lover war der beste Freund von Sebastian Schmidt und nur damit beschäftigt, Frauen wie Trophäen zu sammeln und hatte ansonsten nichts Böses im Sinn. „Wer war sonst noch hier?“ „Warum fragst du? Ich kann dir die Liste ausdrucken.“ „Ja mach das. Es hat jemand sein Handy im Wartezimmer liegen lassen. Ich will nur herausfinden, wem es gehört.“ „Och, das kann ich doch machen, der wird sich schon melden. Lass es nur hier liegen.“ „Nein“, rief Claire etwas zu energisch, um einlenkend zu sagen. „Ich möchte fürs wiederfinden gelobt werden und vielleicht komme ich dann nochmal an die frische Luft, wenn ich es demjenigen wiederbringe“. Nelly runzelte die Stirn, gab sich aber mit der Antwort zufrieden. Claire umklammerte das Handy, als sei es der wertvollste Schatz in der Geschichte der Menschheit, sie setze sich in ihr Büro an ihrem Schreibtisch, legte das Handy vorsichtig hin und raufte sich die Haare. Nelly kam lächelnd mit einer Liste der gestrigen Mandanten und einem Kaffee in ihr Büro. „Hier“, sie legte die Liste nebst Kaffee auf Claires Schreibtisch. „Extra stark. Du siehst irgendwie aus, als könntest du ihn gebrauchen.“ „Danke Süße.“ Claire machte sich dran, die Liste zu durchforsten. Wer um alles in der Welt konnte so etwas tun und warum? Woher hat derjenige diese Fotos? Sie sind schon viele Jahre alt und außerdem sicher auf ihrer Cloud, dachte sie zumindest. Wer hat ein Interesse ihr zu schaden? Sie selbst hatte gestern keinen Mandanten, außer Bill, einen Immobilienmakler, der steuerlich einige Tricks auf Lager hat, die aber dennoch oft durchschaut wurden und beim Finanzamt nicht gut ankamen. Claire musste innerlich lächeln. Nein, er ist mittlerweile ein guter Freund und froh, dass Claire ihn immer vor Gericht raushaut. Bill wäre ohne sie aufgeschmissen. „I will survive….“ Sie erschrak wieder einmal, als das Handy läutete. Ich muss es irgendwie leiser stellen, dachte sie, als sie mit pochendem Herzen, das ihr schon langsam aus der Kehle kam, abnahm. „Braves Mädchen, immer schön rangehen.“ Ertönte die elektronische Stimme. „Keine Polizei, es sei denn, du möchtest hinter Gitter. Ich hätte gerne Geld. Ein wenig nur. 500.000 € für mein Schweigen und du verschwindest aus der Stadt. Mach es sofort, heute Abend ist Übergabe. Danke Schatz.“ Damit legte er auf und ließ eine verstörte Claire zurück.

„Morgen“, tönte es vergnügt aus dem Flur. Sie hörte, wie Hardy sich mit Nelly unterhielt. Lachen drang an ihr Ohr, was bei ihr ankam wie Hohn. Sie ging zu Sebastian ins Büro, machte die Tür hinter sich zu und knallte ihm das Handy auf den Schreibtisch. „Du bist der einzige, der mein Leben, meine Geschichte und alles was damit verbunden ist kennt. Sag mir, welches kranke Hirn will mir was Böses?“ Sebastian Schmidt kannte Claire wirklich in- und auswendig. Sie war ein Teil seiner Familie. Seine Frau und seine Kinder liebten sie. Sie war sogar die Patentante von seiner Ältesten  Lotte. „Was ist los? Du bist ja ganz außer dir und Ringe unter deinen Augen passen auch nicht so zu deinem Teint.“ Er versuchte etwas Gelassenheit in die Situation zu bringen, was ihm aber nicht gelang. „Dieses Handy, war im Wartezimmer. Es ist nichts darauf gespeichert außer ein paar Fotos, womit ich erpresst werde, ich vermute auch, es ist eine anonyme SIM Karte drin.“ Farbe glitt aus seinem Gesicht. Er konnte sich denken aus welchem Zusammenhang diese Fotos stammen. „Wer kommt denn bitte an deine Fotos?“ „Ich weiß es nicht. Es muss jemand sein, der sich verdammt gut mit Programmen auskennt. Er muss meine Cloud gehackt haben.“ „Oh mein Gott“, durchfuhr es Schmidt. „Damit musst du zur Polizei.“ „Niemals“, durchfuhr es Claire. „Was soll ich denn sagen? Das ist nur mein Vater, der bestialisch umgebracht wurde und er hat es nicht anders verdient? Außerdem hat er gesagt, ich soll keine Polizei einschalten. Ich will die alte Geschichte nicht nochmal an mich ran lassen. Als erstes werde ich die Fotos in meiner Cloud löschen und dann…“ „Hat der Erpresser Sicherheitskopien gemacht und wird dich nie in Ruhe lassen. Wir müssen selber herausfinden wer es ist.“ Sebastian biss sich auf die Lippen. „Wer war gestern hier? Irgendeiner muss doch das Handy dort hingelegt haben. Darf ich die Fotos mal sehen?“ Widerwillig zeigte sie ihm diese, wie sie auf ihren Vater zuging, er versuchte sie zu schlagen und sie das Messer aus dem Messerblock nahm, um immer wieder in sein krankes Hirn, sein Auge und in seiner Mundhöhle einzustechen. Im Nachhinein dachte sie oft, warum nicht ins Herz oder Bauch. Aber sie befürchtete, dass er gar kein Herz hatte und sie konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen. Immer wieder stach sie auf seinem Kopf ein, bis er zusammenbrach und qualvoll verblutete. Diese Bilder, warum hatte sie diese aufbewahrt? Als Beweis, als Erinnerung, als Mahnmal? Diese Bilder gingen doch sowieso niemals aus ihrem Kopf. Sebastian legte das Handy auf Seite. Er war bleich und Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. „Wir müssen nochmal Nelly und Hardy fragen, ob sie jemanden wüssten.“ „Sag ihnen bloß nicht, was es mit dem Handy auf sich hat“, flehte sie ihn an. „Nelly, Hardy könnt ihr mal bitte kommen“, klang es durch die Sprechanlage. Sofort standen die zwei bei Fuß. „Habt ihr eine Idee, wer das Handy hier abgelegt haben könnte?“ „Abgelegt?“, fragten beide wie aus einem Mund. „Also verloren“, versuchte Sebastian die Situation zu retten. „Keine Ahnung“, entgegnete Nelly. „Die Liste der Mandanten habe ich dir ja gegeben. Das einzige was mir noch dazu einfällt, gestern war wie immer der Fahrradkurier wegen der Post hier. Aber warum sollte er ins Wartezimmer?“ Claire rannte sofort in ihr Büro, um den Kurierdienst anzurufen. „Nein, wir können ihnen natürlich nicht sagen, wer gestern wo war, da kann ja jeder kommen. Schon mal was von Datenschutz gehört Frau Anwältin?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung betonte das Wort Anwältin etwas zu sarkastisch. Claire legte auf und wollte gerade los, um persönlich dorthin zu fahren. „Nelly, sag bitte heute Vormittag alle Termine ab, ich muss los.“ „Warte“, sagte Hardy, soll ich mit, warum interessiert dich dieses Handy so? Der Eigentümer wird es schon vermissen und bestimmt gleicht hier erscheinen.“ „Schön wäre es“, meinte Claire und ließ ihn stehen. Im Taxi fuhr sie zum Standort des Kurierdienstes. Als sie vor dem Gebäude stand hörte sie dieses schreckliche „I will survive….“ Claire nahm das Handy „Ja“, sagte sie, mit einem Kloß im Hals. „Du hast deinen Vater getötet. Du dreckige Schlampe. Du gehst jetzt nicht in das Gebäude und du gehst nicht über Los und ziehst nicht 4.000 ein. Hol das Geld, so wie ich es dir gesagt habe.“ Damit legte er auf. Er schien sie zu beobachten. Claire, bekam Panik. Was sollte sie tun? Hätte sie nix gemacht, hätte sie beim ersten Mal alles abgestritten, wäre alles gut gewesen. Der Arsch hat doch gar keine Beweise, außer die Fotos und wer behauptet, dass sie es ist, die darauf zu sehen ist. Er hat die Fotos ja nicht geschossen. Irgendeiner muss sich bei ihr eingehackt haben. Sie ging trotzig in das Gebäude und fragte höflich nach dem Kurier von gestern. Es war nicht die pampige Stimme die eben noch am Telefon war. „Christian hat heute frei, aber ich kann ihnen gerne die Telefonnummer geben.“ „Danke, wenn sie noch die Adresse hätten, könnte ich ihm sein Handy persönlich bringen.“ „Ja, klar, aber wie gesagt, ich gebe es ihm gerne auch morgen, wenn er kommt.“ „Nicht nötig, sie wissen ja selbst wie aufgeschmissen man ohne diese Dinger ist. Ich mach das schon.“ Claire nahm Adresse und Telefonnummer und fuhr zu Christian. Es dauerte sehr lange aber nach neunmaligem Klingeln und gegen die Türe hämmern, öffnete Christian schlaftrunken. „Was gibt’s?“ „Mein Name ist Claire Claßen, Anwaltskanzlei Schmidt und Claßen. Sie waren gestern bei uns und haben ein Handy liegen lassen.“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage. „Ja und?“, fragte Christian immer noch eine Spur zu uninteressiert. „Es ist doch ihres.“ Wieder eine Feststellung. „Nein, ich sollte dieses Handy im Auftrag ins Wartezimmer legen. Ein Mann sprach mich vor ihrer Kanzlei an und gab mir 50 €.“ „Können sie den Mann beschreiben?“ „Nicht wirklich. Etwas kleiner als sie, schlank, er hatte einen schwarzen Hoddie an, eine schwarze Hose, für meinen Geschmack etwas zu elegant für das Oberteil, die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen und eine Sonnenbrille hatte er an.“ „Ist ihnen sonst was aufgefallen? Tattoo, Geruch, Stimme?“ „Nö, oder doch, er roch wie mein Opa. Der sprühte sich gerne ein wenig mit Trussardi ein, das schwarze, nicht das weiße. Ja genauso roch er.“ „OK, danke ihnen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und setzte sich in das Taxi, mit dem sie gekommen war. Im Auto klingelte wieder dieses verdammte Handy. Claire ging sofort ran. „Ach, Schatz, was ich noch sagen wollte, du kannst auch gleich deine Kündigung auf den Tisch legen und die 500.000 nicht vergessen. Bald ist es soweit. Kuss.“ Ihr Herz raste, ihr Puls ging bis zum Anschlag und am liebsten wäre sie aus diesem Albtraum erwacht, der eigentlich schon in ihrer Kindheit mit einem betrunkenen Vater begonnen hatte. Claire fuhr zum Drogeriemarkt, um dieses Trussardi zu kaufen. Vielleicht kannte sie ja den Geruch und konnte ihn zuordnen. Eine Stunde später war sie wieder in der Kanzlei. Sie wusste jetzt was zu tun war. Nie wieder wollte sie ein Opfer sein. Nie wieder wollte sie, dass irgendjemand leiden musste und egal, was jetzt noch passierte, sie wollte sich frei machen von Angst, Beklemmungen und Scheu. „Hardy“, rief sie durch die Sprechanlage, „kannst du mal eben zu mir kommen?“ „Ja, klar Chef, ich eile.“ Freudestrahlend kam er in ihr Büro. „Was gibt’s?“, wollte er wissen. „Ich habe einen neuen Fall für dich. Kindesmissbrauch. Hast du im Nachmittag Zeit?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. „Ich würde gerne mit dir in eine Psychiatrie fahren, wo deine neue Klientin auf dich wartet. Sie ist eine gute Bekannte von mir und vielleicht, hast du eine Idee, wie du sie da wieder rausholen kannst. Infos gibt es dann gleich vor Ort.“ „OK, wir können gegen drei los“, meinte er und verschwand so schnell in sein Büro, wie er gekommen war.

 

Vor der Psychiatrie angekommen, wurde Claire leicht nervös. Sie wusste nicht, was sie ihm jetzt genau sagen sollte und wie er reagieren würde, sie ließ die Zeit für sich spielen. Als sie rein gingen wurden sie bereits wie alte Freunde empfangen. „Du scheinst die neue Klientin aber gut zu kennen. Scheinbar kommst du öfters hierher“, stellte Hardy verblüfft fest. Claire antwortete nicht sondern ging mit ihm in den Aufenthaltsraum, wo sich viele verwirrt blickende Menschen befanden. Claire ging mit großen Schritten Richtung Fenster. „Das ist Jennifer, Jennifer, das ist Hardy, der Mann, der meint ich hätte unseren Vater umgebracht.“ Jennifer drehte sich zu ihnen um und sah zu dem verdutzen Hardy. „Jennifer ist meine Zwillingsschwester und unter der Geburt hatte sie schon zu wenig Sauerstoff bekommen. Da sie geistig zurückgeblieben ist, hat unser Vater dies zum Anlass genommen, sie zu missbrauchen, nie mich. Und jetzt sage ich dir eins Herr Anwalt. Du musst noch viel lernen. Ich sitze nicht umsonst auf den Partnerstuhl. Du willst mir was? Dann recherchiere verdammt nochmal besser. Ich weiß nicht wie du meinen Account gehackt hast, das interessiert mich nicht. Eins aber kann ich dir sagen.“ Sie tippte dabei mit ihrem Zeigefinger wie zur Beschwichtigung auf seiner Brust. „Mich wirst du nicht vom Thron stoßen. Meine Schwester ist schuldunfähig  und wurde vom Gericht aus hier auf Lebzeiten eingewiesen. Das ist wohl Strafe genug oder? Und jetzt mach, dass du verschwindest. Ach übrigens, dein Deo ist viel zu aufdringlich, das wollte ich dir immer schon mal sagen.“ Hardy war zu perplex um irgendwas zu sagen, er starrte von einer zur anderen, bevor er sich auf dem Absatz umdrehte und ging, während Claire sich mit ihrer Schwester hinsetzte und ihre Hand streichelte. Zwei Stunden später ging sie alleine durch den Park der die Anstalt ummantelte. Sie wusste nicht warum, fühlte sich aber beobachtet. Sie ging schneller, als das Handy klingelte. „I will survive….“ Es ging ihr durch Mark und Bein, als sie den Anruf entgegennahm, wollte sie schon hineinbrüllen, was denn noch Hardy? Als die bekannte elektronische Stimme sagte: “Hast du wirklich geglaubt, du bist schlauer als ich, du Schlampe? Du gehst jetzt in die Kanzlei, kündigst und holst die 500.000 Euro. Danach treffen wir uns genau da wo du gerade stehst. In drei Stunden sehen wir uns wieder.“ Damit wurde aufgelegt und der Unbekannte ließ eine verstörte Claire zurück, die sich in alle Richtungen umdrehte und hoffte, ihren Peiniger zu entdecken.

„Hardy, was soll das?“, rief Claire durch die Kanzlei. Nelly saß am Empfang und telefonierte. Sie rollte mit den Augen, was wohl so viel bedeutete wie, ein lästiger Mandant am anderen Ende der Leitung. Claire war nur heute leider nicht zum Grinsen. Sie ging schnurstracks in Hardys Büro. Hardy saß kreidebleich in seinem Sessel und verstand die Welt nicht mehr. „Ich weiß nicht, was du von mir willst“, sagte er. „Ich wusste nichts von deiner Familiengeschichte und was für Fotos?“ „Tu doch nicht so“, sagte Claire. Ich habe dich an deinem Deo erkannt. Du erpresst mich. Der Kurier konnte mir genau sagen, wem ich das Handy zu verdanken habe. Er kannte den Duft, welches du benutzt und das benutzen ja wohl nicht viele, so teuer wie es ist.“ „Sorry, ich bin raus. Ich würde dich nie erpressen.“ Wie zum Schwur hob er die Hand. Irgendwie glaubte sie ihm. Sie hatte ein ganz merkwürdiges Gefühl im Bauch, was sie noch nie getäuscht hatte. Auch damals als sie noch nicht wusste aber ganz genau spürte, dass ihr Vater sich zu ihrer Schwester ins Bett legte um sich an ihr zu vergehen und nicht um sie zu trösten, wie er Claire immer weiß machen wollte. Claire blieb nichts anderes übrig, als 50.000 von der Bank abzuholen, mehr ging in der kurzen Zeit nicht, ihre Sporttasche damit zu füllen und noch Restpapier dazuzulegen, damit es einigermaßen nach 500.000 aussah. „Nelly, ich bin nochmal weg. Schönen Feierabend, für dich.“ „Wo willst du denn hin?“, Sebastian kam aus seinem Büro geeilt. „Wenn ich in drei Stunden nicht zurück bin, ruf bitte die Polizei.“ „Bist du wahnsinnig? Was hast du vor?“ „Ich treffe mich mit dem Erpresser im Park. Geldübergabe. Ich will wissen, was das soll und warum er das macht.“ „Ich komme mit“, schrie Hardy und nahm seine Jacke vom Haken. „Es ist sonst zu gefährlich, es wird schon dunkel und der Park ist um die Zeit schon sehr einsam.“ „OK, aber du hältst Abstand, ich will nicht, dass man uns zusammen sieht.“ Claire war noch immer hin- und hergerissen von der Annahme, dass Hardy es doch sein könnte, der sie erpresst. Dann wüsste sie wenigstens Bescheid. Ansonsten, falls es jemand anderes wäre, hätte sie die Gewissheit, dass ihr jemand helfen könnte, wenn es brenzlig wird. Schmidt ging kopfschüttelnd in sein Büro. Er würde gerne alles ungeschehen machen, Claire hat schon so viel in ihrem Leben mitgemacht und es nimmt kein Ende.

 

Sie war noch nicht im Park angekommen, als das ominöse Handy ging und die ihr mittlerweile bekannte Stimme sagte: „Lege die Tasche mit dem Geld neben dem Mülleimer am Spielplatz und verschwinde. Deinen Beschützer nimmst du am besten gleich mit. Ich weiß genau was du vorhast. Und ich weiß auch, dass du deinen Vater umgebracht hast und nicht deine Schwester, auch wenn sie allen Grund dazu hatte. Aber sie wäre dazu nie fähig gewesen. Sie hat nur die Kamera auf dich gerichtet. Ich habe den Beweis. Weil ich nämlich gut recherchiere und ich kenne dein Muttermal auf deinem rechten Augenlid. Hat deine Schwester das auch? Ich denke nein. Verschwinde aus meinem Leben.“ Damit hatte die Stimme alles gesagt. Innerhalb von 30 Sekunden. Claire stellte die Sporttasche hin und ging. Sie winkte Hardy zu, er solle kommen. „Warum? Ich hätte doch noch bleiben können und abwarten, wer die Tasche nimmt.“ „Er hat uns beobachtet, wir werden es schon noch herausfinden. Wir steigen jetzt beide in ein Taxi und ich steige an der nächsten Ecke aus. Du fährst zur Kanzlei. Wartest aber unten am Tor zum Hinterhof auf mich. Wir gehen gemeinsam rein. Er muss ja irgendwann kommen.“ Claire ging nach einer kurzen Taxifahrt zurück zum Park. Die Tasche stand noch unberührt am gleichen Fleck. Claire postierte sich inmitten von Bäumen und Büschen, plötzlich sah sie ein heranfahrendes Fahrrad, das sich auf dem direkten Weg zum Spielplatz befand. Ihr stockte der Atem. Sie kannte den Fahrer. Er hatte heute keinen Dienst aber er trug dennoch seine Kurieruniform. War er es, der Sie erpresste oder steckte doch Hardy dahinter? Er würde wieder an sie vorbeifahren, wenn er anschließend zu sich nach Hause fährt. Jetzt war er ihr eine Erklärung schuldig. Wenn er es war, der sie erpresste, warum und wie kam er an die Fotos? Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas mit ihm zu tun gehabt zu haben. Er nahm die Tasche und schaute sich um. Ja, es war Christian. Claire lief im Schutze der Bäume zurück zur Straße, bevor er sie einholen konnte. Sie musste unbedingt ein Taxi finden. Ein herannahendes Auto, was sie sehr gut kannte, kam gerade um die Ecke und hielt am Park. Claire schaute auf das Kennzeichen, um sich zu vergewissern, dass es das richtige Auto ist. Sie sprang rein, bevor Christian aus dem Park an ihr vorbei fuhr. „Puh, das war in letzter Minute Sebastian. Danke. Fahr hinter dem Kurier her, mach schon.“ Die Reifen quietschten, als Sebastian losfuhr. „Was machst du eigentlich hier?“ „Hardy hat mir Bescheid gegeben, wo du bist. Es war uns beiden nicht ganz wohl bei der Sache, deswegen, wollte ich nach dir sehen. Wo fährt der denn jetzt hin?“ „Bestimmt nach Haus. Es wird wohl Zeit die Polizei einzuschalten. Er wird dann sowieso merken, dass zu wenig Geld in der Tasche ist. Das wird ihn wohl nicht erfreuen. Aber Moment, warum bitteschön, biegt er hier ab?“ „Der Kerl ist ganz schön flott. Hoffentlich kommt uns keine rote Ampel in die Quere.“ Sebastian runzelte die Stirn. „Die Gegend kenne ich.“ „Wie meinst du das?“ Claire schaute ihn von der Seite an. Auf eine Erklärung musste sie noch warten, denn Christian fuhr jetzt langsamer und hielt an einem alten Mehrfamilienhaus in einer Allee. Sebastian fuhr weiter, um kein Aufsehen zu erregen. Die nächste freie Parklücke war seine, was nicht so leicht in einer Großstadt ist. „Er verschwindet in dieses Haus. Lass mich raus Sebastian, ich muss wissen, in welche Wohnung er geht und rufe die Polizei. Das wird mir jetzt zu bunt.“ Sebastian hielt den Wagen an und Claire sprang hinaus. Sie lief zum Eingang. „Zweite Etage“, rief Sebastian ihr noch hinterher. Woher wusste er das? Aber jetzt war nicht die Zeit um umzudrehen. Die Eingangstür war nur angelehnt. Seltsamerweise verspürte sie weder Angst noch ein Gefühl der Ohnmacht. Sie war es ihrer Schwester schuldig ein für alle Mal Ordnung in ihr beider Leben zu bringen. Egal was jetzt passiert. Man soll sie einfach in Ruhe lassen. Jennifer war genug gestraft. Claire konnte das Geschehene nicht wieder gut machen. Aber sie konnte dafür sorgen, dass keiner ihnen mehr was antat. Dafür würde sie kämpfen und notfalls auch töten. Sie ging in die zweite Etage, von Christian war nichts mehr zu sehen. Dort angekommen, waren drei Türen nebst Klingeln und Schilder. Welche Klingel sollte sie betätigen dachte sie noch, als sie auf ein Schild starrte. Deswegen kannte Schmidt die Gegend. Er war schon mal hier gewesen. Das darf doch nicht wahr sein, durchfuhr es Claire und drückte wie besessen auf die Klingel. „Mach auf du Biest, ich weiß, dass du da bist und die Polizei ist auch schon unterwegs.“ Claire hatte das letzte Wort noch nicht ausgesprochen, als die Türe aufgerissen wurde und Christian mitsamt Tasche sie fast umlief und an ihr vorbei die Treppe runterjagte. „Was habe ich dir getan?“, schrie Claire Nelly an, die im Türrahmen stand. „Wie kommst du dazu mich derart zu hintergehen?“ Nelly lachte ihr ins Gesicht und hielt ihr eine Pistole entgegen. „Du glaubst auch, du seist was Besseres. Ich habe deine Passwörter und hab einfach mal geschaut was die saubere Claire so auf dem Kerbholz hat und weißt du was? Ich bin es nämlich leid, deine Putze zu sein. Nelly mache dies, Nelly kannst du mal, Nelly geht das heute noch? Es reicht. Jetzt bin ich mal dran. Wir zwei werden jetzt das Haus verlassen und zur Bank fahren, du schuldest mir noch was.“ Von da ab ging es so schnell, dass Claire im Nachhinein gar nicht mehr wusste, was passiert war. Ein brüllender Christian versuchte Nelly noch zu warnen aber es war zu spät. Ein Polizeibeamter war von außen durch ein Fenster in die Wohnung von Nelly eingedrungen und stieß sie in einem Moment der Unaufmerksamkeit von hinten zu Boden.  „Nein“, sagte Claire traurig und erschöpft, „nein, Nelly, jetzt bin ich dran.“ Sie ging die Treppe hinunter zu Sebastian der auf sie wartete. Es war vorbei.

 

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