VeraTheresaMaskenball

Maskenball (von Theresa Fleischmann und Vera Ksinski)

„Post- traumatisch“

Da sind düstere, bizarre Schatten. Sie nehmen sich bei der Hand, schließen zueinander auf und bilden dabei einen Kreis, sodass sie mich in sich einschließen und mich von allen Seiten umzingeln. Es scheint mir beinahe, als hätte man mir mit der bloßen Hand an die Gurgel gefasst und würde nun mit aller Kraft zudrücken. Ich fühle mich bedrängt. Die Bewegungen der Schatten werden immer schneller, immer verzerrter, immer schwindelerregender, sodass sie kaum noch mit dem menschlichen Auge zu erfassen sind.

Kennst du das, wenn du dich in der Kindheit stürmisch im Kreis gedreht hast und du dabei deinen besten Freund an den Händen gehalten hast? Ihr habt euch gedreht, gedreht und gedreht, und nicht genug davon bekommen können. Doch irgendwann war dann immer der Moment gekommen, in dem man losgelassen hatte. Man war daraufhin immer haltlos durch den Raum getorkelt, oder es hatte einen von den Füßen gerissen und man war schwunghaft nach hinten katapultiert worden.

Genau so ein Gefühl überkommt mich jetzt gerade. Ich falle. Und auch, wenn man das Abheben vom Boden ansonsten mit einer leichten Schwerelosigkeit verbinden mag, so fühle ich mich dennoch nicht auch nur ansatzweise schwerelos. Ich fühle mich stattdessen haltlos und verloren.

Ich schrecke jäh aus meinem Albtraum auf, als mich das mechanische Surren der Klingel wieder in die Realität zurückholt. Ich folge ihm zur Haustür hin. Noch immer habe ich das Gefühl, ich würde in einer beengenden Zwangsjacke stecken. »Sind Sie Saskia Meisner?« Ein Postbote streckt seinen Kopf zu mir in die Wohnung herein. Dankend nehme ich das Päckchen an, das er mir entgegenhält. Ich drehe mich um und will in mein Wohnzimmer eilen, als mir auf dem Weg dorthin mein optischer Zwilling im Spiegel begegnet. Ich trete zu ihm hin. »Ich bin genug! Ich bin einzigartig! Ich bin etwas Besonderes!«, murmle ich immer wieder in einem Mantra vor mich hin. Warum ich das tue? Ganz einfach! Man nennt das positive Affirmationen. Das bedeutet, dass man sich quasi gewisse Sätze zu seinem Lebensmotto macht und sie vor sich hinsagt. Man tut dies in der Hoffnung, sie mögen dadurch den Tagesablauf und das Befinden positiv beeinflussen. Normalerweise starte ich eigentlich einen jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen damit, doch heute hat mir da der Postbote einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ebenso wie dieser aufwühlende Albtraum.

In letzter Zeit suchen mich Albträume des häufigeren heim. Dabei bin ich doch ansonsten allzu sehr auf meine mentale Gesundheit bedacht. So zählen nicht nur positive Affirmationen, sondern auch Yoga und grundlegendes mentales Training zum festen Bestandteil meines Alltags. Gleichermaßen habe ich auch den Gedanken der Nachhaltigkeit zu meinem alltäglichen Begleiter gemacht. Es geht mir dabei grundsätzlich darum, bewusst zu leben. Das ist auch der Grund, warum ich diese Thematik zum Inhalt meines Instagramaccounts gemacht habe. Anfangs tat ich das, um meine Motivation an die Allgemeinheit weiterzugeben und um Gleichgesinnte zu finden. Doch über die Monate hinweg habe ich so viele Follower gewonnen, dass es nicht nur zu meinem persönlichen Lebensinhalt geworden ist, sondern dass ich mittlerweile damit auch meinen Lebensunterhalt verdienen kann. Ich bin unglaublich dankbar dafür.

Ich drehe das Päckchen in den Händen. Ob es wohl von einem Werbepartner ist? Ich öffne es, und muss stutzen. Da ist nichts weiter darin als ein Handy. Ich wische über seine Oberfläche. Was mir dann als Hintergrundbild darauf angezeigt wird, raubt mir kurzzeitig den Atem und katapultiert mich schlagartig zehn Jahre in meinem Leben zurück. Es führt mich zu einem Tag, der so schmerzlich für mich ist, dass ich seit jeher versuche, ihn aus meinen Gedanken zu streichen. Ich kämpfe gegen die Bilder an, die sich mit einer unbändigen Kraft vor meinem geistigen Auge aufbauen. Und doch kann ich nichts dagegen tun, dass eine gewisse Szenerie noch einmal wie auf einer mentalen Leinwand lebendig wird. Es ist nun der 12.08.2012.

Glasaugen

»Also, ich weiß ja nicht …!« Mareike kaute unentschlossen auf ihrer Unterlippe herum. »Ich glaube, das ist keine so eine gute Idee …!« Sie sah uns nicht an. »Ach, komm, jetzt hab dich mal nicht so!« Juri kniff sie neckisch in die Seite. » Na, kommt schon, das wird lustig!«. Er deutete auf ein altes Haus, dem der Zahn der Zeit zusehends zugesetzt hatte. Und dennoch konnte man ihm noch immer die Stattlichkeit ansehen, die es vor einigen Jahrzehnten einmal ausgestrahlt haben mochte. Seine Fenster sahen uns an wie eingetrübte Augen, die uns gebannt zu fixieren schienen. Sie blicken misstrauisch drein. Sie schienen mit unserem Vorhaben nicht einverstanden zu sein.

Es waren Sommerferien. Wo wir zu Beginn noch alle zusammen im Wald gezeltet als auch Grillpartys geschmissen hatten, gingen uns nun langsam die Ideen aus.

Wir hatten uns mit einem Eimer, Unmengen an Regenwürmern und Angelhaken ausstaffiert, um am naheliegenden Dorfweiher angeln zu gehen, als wir plötzlich vor dem alten, leer stehenden Haus innegehalten hatten. Seit ich denken kann, hatte es ein Geheimnis umgeben: Ein düsteres Geheimnis. Heute, da uns die Langeweile zu verzweifelten Aktionen wie Angeln antrieb, schien es urplötzlich eine willkommene Abwechslung und einen belebenden Nervenkitzel darzustellen.

»Juri hat recht, lasst uns reingehen!«, stimmte ich meinem besten Freund zu. Mareike hatte inzwischen begonnen, nervös mit ihren Händen herumzuhantieren. Sie hatte kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. »Wenn es sein muss …« Sie ging auf das schmiedeeiserne Gartentor zu. Es klemmte. Es schien uns zu verhöhnen. Wieder fing ich den misstrauischen und missbilligenden Blick der Fensterscheiben ein. Sie schienen nun amüsiert zu sein. »Kommt, lasst den Papa mal ran!« Juri verpasste dem Gartentor kurzerhand einen Tritt. Es sprang daraufhin knarrend auf. Fast klang es, als würde es erbost aufstöhnen. Juri stolperte über eine Baumwurzel. Flüchtig überkam mich der Gedanke, dass das Haus ihm seine vorherige dreiste Aktion womöglich hatte heimzahlen wollen und es ihm nun gewissermaßen ein Bein gestellt hatte. Wir schienen hier unerwünscht zu sein. Ich sah zum Haus empor. Noch immer fixierten uns seine Augen wachsam. Ich fühlte mich beobachtet. Kurz sah ich so etwas wie Ernüchterung in Juris Blick aufblitzen, als er erkannte, dass die Tür des Hauses nur angelehnt war. Am liebsten hätte er sie wohl mit einem weiteren wütenden Tritt aus den Angeln gehoben. Die Aufregung hatte Mareike hektische, rote Flecken auf Gesicht, Hals und Dekolletee gepinselt. Sie zuckte jäh zusammen, als sich die Tür mit einem quietschenden Knarzen öffnete.

Wo draußen die Wärme der Sonnenstrahlen die Welt hatte aufheizen lassen, war es im Innenraum eiskalt und ungewohnt still. Hier herrschte eine Mischung aus staubigem Dunst und gefilterten Sonnenstrahlen. Die Luft hingegen nahm uns in einer engen Umarmung in Empfang.

Da streifte plötzlich etwas meinen Schädel. Ich duckte mich und hechtete Richtung Ausgang. »Also Saskia, wirklich, was bist du nur für ein Angsthase!« Juri zog mich zurück in den Innenraum. »Es ist nichts anderes als ein Vogel!« Er deutete auf einen kleinen Spatzen, der den Kopf schief hielt und in abgehakten Bewegungen im Vorraum herumhüpfte. Wenige Sekunden später erkannte ich auch, wie er wohl hier hereingekommen sein musste. Einem der starrenden Augen des Hauses fehlte an einer Stelle das beschützende Glas.

Ich ging eine massive Holztreppe hinauf, deren Geländer eine so fette Staubschicht bedeckte, dass sie den Flächen im Laufe der Zeit einen weißen Anstrich verpasst hatte. So wie ich mich auf deren Balustrade abstützte, wäre ich auch schon beinahe die Brüstung heruntergefallen. Ich war hier oben nicht allein. Da war jemand. Er stand neben mir. Unmittelbar neben mir. Und er starrte mich mit toten Augen an. Dadurch, dass die Sonne begann in einem anderen Winkel zu stehen, den Weg in diesen Raum zu finden und ihn allmählich auszuleuchten, erkannte ich, was ich die ganze Zeit über für ein Lebewesen gehalten hatte. Es war das ausdruckslose, namenlose Gesicht einer Schneiderpuppe.

Als ich einige Zeit später jenseits des länglichen Korridors in einem der Zimmer einen Punkt im Raum ausmachte, an dem Kakerlaken wie ein wuselndes schwarzes Knäul über den Boden glitten, wollte ich auf der Stelle das Haus verlassen. Schreiend eilte ich die Treppe hinunter. Erst, als ich meinen Kopf erschöpft im Hausflur an der Tür eines Kleiderschrankes anlehnte, waren die anderen schließlich bei mir gewesen. Juri riss mir die Hände vom Gesicht. Er zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. »Saskia, was ist los?« Meine Stimme war anschließend eher ein unstabiles Zittern als standhafte Worte. »Da oben ist ein Skelett!« Ich wollte mich aus Juris Griff winden, doch er zwang mich abermals, ihn anzusehen. »Was für ein Skelett?« Als ich Juri nicht augenblicklich antwortete, begann er, mich zu schütteln. »Was für ein Skelett, Saskia? Was hast du gesehen? Wen hast du gesehen?«, fragte er mich erneut. Ich schluckte und mein Adamsapfel wölbte sich wie eine Faust gegen meinen Hals. »Ein Skelett … es war klein … Kakerlaken … so viele davon!« Ich redete wirres Zeug. »Ein kleines Skelett? Wie klein, Saskia?« Juri ließ von mir ab. Er verschwand die Wendeltreppe hinauf und kam nach nur wenigen Minuten wieder zurück. »Es ist nur das Skelett einer Katze …«

Ich war nicht mehr bereit dazu, auch nur noch eine Sekunde länger in diesem Haus zu verweilen. Ich wollte hier raus! »Komm, lasst uns gehen! Wir haben alles gesehen!« Ich machte eine ausladende Handbewegung. Ich wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, als Juri innehielt. »Wartet! Nun schaut doch!« Er deutete in eine düstere Ecke des Flures, die man kaum einsehen konnte, weil dort die Fensteraugen durch hölzerne Fensterläden blind waren. Karge, steinerne Stiegen führten dort in ein tiefergelegenes Stockwerk.

»Ein Keller …!«, stellte ich trocken fest. Juris Stimme hingegen schien durch ihre Lebendigkeit etliche Loopings zu fahren. »Ja, ein Keller!« Ich hob drohend den Zeigefinger. »Vergiss es, Juri, ich weiß ganz genau, was du denkst …!« Juris Augen waren groß und seine Regenbogenhaut schien das Weiß seiner Augen dabei beinahe gefressen zu haben. Er hatte sich regelrecht mit Enthusiasmus zugekifft. »Wenn ihr nicht wollt, meinetwegen … Geht doch schon einmal vor, ich komme dann nach. Das lasse ich mir nicht entgehen!« Er klatschte vor Entzückung in die Hände.

Ich machte mich auf den Weg in Richtung Ausgang. Mareike folgte mir. Sie ließ sich ein paar Meter jenseits des Hauses ins Gras sinken. Ich hörte in der Entfernung, wie Juri immer wieder vor sich hin fluchte. »Man ey!«, stieß er von Zeit zu Zeit aus. »Was ist denn los?« Ein Scheppern ertönte. »Hier ist es dunkel!« Ich vollführte ein ungläubiges Kopfschütteln. »Ja, dann mach´ halt das Licht an!« Wieder drangen etliche Flüche an mein Ohr. »Geht nicht!« Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Warum nicht? Das Zauberwort heißt Lichtschalter, Juri!« Ich warf Mareike einen vielsagenden Blick zu. »Ich sagte doch; geht nicht! Das Licht ist kaputt! Die Glühbirne scheint nicht mehr zu funktionieren! Und Fenster gibt es hier unten in diesem verdammten Keller auch nicht!« Entnervt kickte ich einen Kieselstein bei Seite. »Ja, dann hat der Abenteuerspielplatz wohl für heute geschlossen! Nun komm schon endlich hoch, Juri!« Kurz schwieg er. Beinahe glaubte ich, eine stumme Zustimmung in seinem betretenen Schweigen zu erkennen.

»Hey Kettenraucherin, lass mal dein Feuerzeug rüberwachsen!« Seine Stimme drang abermals zu uns in den Garten empor. »Du willst was von mir, also komme gefälligst hoch und hole es dir selbst!« Ich ärgerte mich über mich. Schließlich hatte ich schier automatisch zum Feuerzeug in meiner Hosentasche gegriffen und mir somit meine Sucht quasi unmittelbar eingestanden. Ich schämte mich insgeheim dafür. Die Wut trieb mich dazu an, Juri das Feuerzeug im Anschluss auch nicht auszuhändigen, sondern vielmehr schmiss ich es ihm im wahrsten Sinne des Wortes vor die Füße. Er war inzwischen im Türrahmen erschienen. »Also Saskia, wirklich, musste das sein?« In seiner Stimme schwang so etwas wie eine unterschwellige Enttäuschung mit. »Was willst du eigentlich? Hier hast du es doch!« Ich streckte die Zunge heraus. Juri verschwand wieder im Inneren des Hauses. Kaum, dass ich ihn aus den Augen verloren hatte, ärgerte ich mich auch schon über mich selbst. Wütend stapfte ich Richtung Gartentor.

Mit einer unglaublichen Kraft wurde ich von den Füßen gerissen. Ein explosionsartiger Knall erfüllte die Luft. Er brachte den Boden zum Pulsieren und Vibrieren. Von da an schien es neben der Farbe Rot keine andere mehr zu geben. Sie suchte in blutigen Spuren meinen Körper heim und ein ganzer Eimer davon schien über dem Himmelszelt ausgekippt worden zu sein. Auf einmal war da eine brutale Hitze um mich herum. Eine immense Rauch- und Staubwolke stieg in den Himmel empor. Ich begann, verzweifelt die sengende Luft einzuatmen, was mir jedoch keine Erleichterung brachte. Selbst Atmen tat weh.

Da, wo zuvor alles in einem explosionsartigen Knall betäubt worden war, begann nun ein ohrenbetäubendes Knistern und Knacken um sich zu greifen. In weiter Ferne schrie jemand immer wieder um Hilfe. Ich sah zum Haus empor. Auch wenn die Explosion es beinahe komplett weggerissen hatte, so konnte man noch immer seine Fassade erkennen. Wie eh und je schauten mich die Glasaugen des alten Hauses eindringlich an. Sie waren nun nicht mehr finster, sondern durch das Feuer rot und blutunterlaufen. »Das habt ihr nun davon«, schien es zu sagen. Das war der Moment, in dem mich eine mächtige Schwärze übermannte und ich bewusstlos wurde. Die roten Augen nahm ich dabei mit mir mit. Sie sanken tief auf den Grund meiner Seele nieder und sie waren fortan in dem einen oder anderen Albtraum wiedergesehen. Dies war Tag eins meines restlichen Lebens.

Zeit(spr)ung

Mit einer brutalen Geschwindigkeit falle ich in die Wirklichkeit zurück. Es ist der 13.04.2020. Ich bin wieder in meiner Wohnung. Noch immer halte ich das Handy in der Hand. Ich bin auf dem Display zu sehen, wie ich mit einem Eimer voller Regenwürmer und einer Angelroute im Grünen posiere. Hinter mir sieht man schemenhaft die Umrisse des alten Hauses. Noch immer scheinen mich unzählige Glasaugen hypnotisch zu fixieren. Ein Geräusch lässt mich urplötzlich zusammenfahren. Es ist ein SMS-Ton. Ich erwecke den Bildschirm des Handys erneut zum Leben:

Wenn du es selbst nicht tust, zeige ich der ganzen Welt, wer du wirklich bist …

Ich erstarre noch während ich die SMS lese und erkenne gleichzeitig, dass es sich bei der Zeitung im Paket nicht um schützendes Verpackungsmaterial handelt. Es hat eine ganz andere Funktion. Ich muss mich setzen. Es handelt sich zwar durchaus um eine Zeitung, doch dabei nicht um irgendeine. Es ist der Anzeiger meiner ehemaligen Heimatstadt. Allen voran ist es der abgebildete Artikel, der mich erschaudern lässt. Er handelt vom 12.08.2012.

Gasexplosion durch jugendlichen Leichtsinn – Ein Toter und eine Verletzte

Allein die Überschrift reicht aus, um mich in ein zerstörtes Frack und Nervenbündel zu verwandeln.

Die Drohung der SMS flammt abermals in meinem Kopf auf. Was soll ich nur tun?

Die Schöne und das Biest

»Ich bin genug! Ich bin einzigartig! Ich bin etwas Besonderes!«, murmelt Mareike verächtlich vor sich hin. Sie speit es sich regelrecht entgegen. Die Worte fühlen sich fremd an. Doch das ist auch kein Wunder, schließlich sind es ja nicht ihre Eigenen. Es sind Saskias. Sie steht vor dem Badezimmerspiegel und traut sich nicht, die angelaufenen Scheiben von ihrem Dunst zu befreien und ihr Antlitz dabei kurzerhand zu entblößen. Sie will sich nicht sehen. Sie ist alles andere als einzigartig oder etwas Besonderes. Und vor allen Dingen ist sie nicht genug. Nach und nach verflüchtigt sich die Feuchtigkeit des warmen Duschwassers und raubt dem Spiegel allmählich seine Verklärung. Langsam aber sicher beginnen sich Mareikes Gesichtszüge darunter abzuzeichnen. Sie werden immer mehr freigelegt, bis sie sich schließlich irgendwann in die groteske Fratze starrt, die ihr Gesicht ist. Selbst, wenn Mareike zu einem Lächeln ansetzt, sieht sie dabei noch immer aus wie eine Figur aus einem Horrorkabinett. Ein geschultes Ärzteteam hatte zwar bereits vor etlichen Jahren versucht, ihr ursprüngliches Gesicht wiederherzustellen, doch noch immer graben die Überbleibsel von Brandwunden tiefe Furchen in ihre Haut hinein. Es handelt sich dabei um eine Maske, die Mareike nicht abzusetzen vermag, schließlich ist sie nicht nur unmittelbar mit ihrer Haut verwachsen, sondern vielmehr ihre eigene Haut selbst. Mareike versucht sich an einem Lächeln und sie erinnert sich dabei sogar selbst an eine hässliche, verwilderte Straßenkatze, die drohend und wild fauchend ihre Zähne zeigt. Wut steigt in ihr hoch.

Mareike muss an Saskias Lächeln zurückdenken, das einem von beinahe jedem ihrer Instagrambilder entgegenstrahlt und das dabei den Anschein macht, als würde sie gerade Werbung für aufhellende Zahnpasta machen. Auch ihre Haut ist dabei stets so makellos und eben, wie als wäre sie gerade wie die Göttin Aphrodite dem Meeresschaum entstiegen. Sie scheint nahezu perfekt zu sein.

Abermals beginnt sich Mareikes monströse Fratze im Badezimmerspiegel abzuzeichnen. Doch kurz bevor sie sich vollständig offenbaren kann, haucht Mareike ihren Atem auf das Glas nieder, sodass sich ihr Antlitz kurzerhand wieder verflüchtigt. Und das Schlimmste an der ganzen Sache ist: Ihre Follower glauben ihr auch noch! Ja, genau, der verlogenen Saskia, die wohl in ihrem Leben beinahe genauso viel gelogen hat, wie sie Atemzüge getan hat. Vor allem diejenige Saskia, die einst das Leben in die Luft gejagt hat, das Mareike hätte leben können und das nun sie selbst anstelle von ihr in vollen Zügen genießt. Schließlich war es Saskias Feuerzeug gewesen, mit dem Juri die Gasexplosion verursacht hat. Saskia ist an allem schuld! Wie hat sie nur beinahe unversehrt aus dieser Feuerhölle herauskommen können, während Juri gestorben ist und Mareike als ewige Erinnerung dieses Biest ähnliche Aussehen geblieben ist. Sie ist die Schöne und Mareike das allseits verhasste und einschüchternde Biest! Dabei ist es doch insgeheim Saskia, die das eigentliche Biest ist! Na, warte, die Welt würde schon noch erfahren, wer sie wirklich ist!

Mittlerweile hat sich die entstellende Maske nun vollends über Mareikes Gesichtszüge gelegt. Abermals flammt die Wut in ihr auf. Sie holt weit aus und schlägt mit ihrer Faust mitten in ihr Spiegelbild hinein. Ein Feuerwerk aus Scherben erfüllt den Raum und es reißt blutige Schlieren in Mareikes Handrücken hinein. Doch es ist ihr schlichtweg egal. In ihr kehrt augenblicklich Ruhe ein. Die monströse Fratze ist endlich verschwunden.

„Druckausgleich“

Hilfe! Ich ertrinke! So hilft mir doch jemand! Bitte! Ich ringe krampfhaft nach Luft und japse dabei vor mich hin. Ich kann nicht mehr. »Saskia, reiß dich zusammen!«, schreie ich mich selbst an, aber ich komme nicht gegen die Stimme in meinem Kopf an. Der 12.08.2012 … der 12.08.2012 … der 12.08.2012 … Dieses Datum verfolgt mich wie ein Albtraum, der mich von Zeit zu Zeit immer mal wieder heimsucht und den ich stets wie eine bleierne Kugel am Bein mit mir herumschleppe. Er nimmt mich in regelmäßigen Abständen gefangen. Doch heftet mir heute diese Kugel nicht nur am Fuß, sondern sie lastet mir vielmehr schwer auf der Seele. Meine Vergangenheit zieht mich immer mehr in die Tiefe. Es fühlt sich an wie Ertrinken. Ich bekomme keine Luft mehr. Das Gewicht der Sorge wird immer schwerer, dabei möchte ich doch so gerne auftauchen. Doch stattdessen bin ich dumpf und nur eine abgeschwächte Version meiner selbst. Die Wassermassen drücken auf mich. Da ist so immens viel Druck! Ich bin wie der Abdruck, der an der Wand zurückbleibt, wenn man die Möbel verrückt. Ich bin ausgewaschen. Ich bin eine fade Kopie. Ein Schatten meiner selbst. So empfinde ich mich zumindest. Doch stattdessen male ich mich nach außen hin mit bunter Farbe an, benutze Facetune und Photoshop, um begehrter und attraktiver zu wirken. Ich pinsle mir tagtäglich eine bunte, schillernde Maske auf. Doch mit den Tagen wird es immer mühsamer … Ich kann schlichtweg nicht mehr. Es ist schwer, unfehlbar zu sein. Es ist schwer, Vorbild zu sein. Es ist schwer, tagtäglich jemand anderes zu sein, als man es insgeheim doch eigentlich ist. Dabei hatte ich am Anfang doch lediglich meinen Enthusiasmus mit der Welt teilen wollen. Doch nun zerteile ich mich, um allen gerecht zu werden. Ich will perfekt sein! Warum? Weil ich andere nicht mit meinem wahren Ich enttäuschen will … Da sind all diese Menschen, die Werbepartner … und vor allem ist da diese scheinbar unfehlbare Saskia, der eine scheinheilige Illusion anhaftet, die doch eigentlich grundsätzlich gar keiner erfüllen kann. Vor allem nicht ich.

Ich werde der Welt zeigen, wer du wirklich bist … Der Satz spukt wie eine zwielichtige Beschwörung in meinen Gedanken herum. Er zieht mich in die Tiefe. Meine Lungen als auch mein Kopf drohen zu zerbersten. Der Druck wird immer geballter. Er drückt auf meine Lebensfreude und er drückt auf meinen Atem. Kurz, bevor ich vollends ertrinke, strample ich, schlage ich um mich und mache mich frei: Ein Befreiungsschlag. Es ist Zeit an die Oberfläche zu tauchen und der Welt zu zeigen, wer ich wirklich bin. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf öffne ich die Instagram-App und beginne zu schreiben …

 

siehe https://www.instagram.com/p/B-64o1iKO08/?igshid=1gukt2c1mg35b

 

 

(Selbst-)Offenbarung

Mareike lässt ihr Handy sinken. Sie steht vorm Spiegel. Wieder einmal. Doch diesmal sind da keine feuchten Ausdünste, die ihr Antlitz verschlucken. Sie hört in sich hinein. Da ist weder eine flammende Wut, noch ein unterdrückter Hass. Da ist nichts, außer vielleicht Betroffenheit und ein klitzekleines Gefühl von Schuld. Mareike begreift etwas. Die Vergangenheit hatte nicht nur sie in ein zerbeultes Frack verwandelt, indem sie ihr diese zerschundene Fratze verpasst hatte, sondern auch Saskia hatte sie zu einem nervlichen Frack mutieren lassen. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Bewunderung. Sie bemitleidet Saskia, aber sie bewundert sie auch. Das erste Mal seit langem ist sie nicht Mareikes Feindin, sondern wieder ihre Freundin. Und Freunde reden miteinander. Freunde verzeihen sich. Freunde gehen aufeinander zu. Freunde sind ungemein wertvoll. Man muss Freundschaften schließlich wie wertvollen Schmuck pflegen. Man muss sich ihnen widmen, sie polieren und ihnen seine Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Ihre Freundschaft war durch die Zeit wie zermürbt, angelaufen und vergilbt. Es galt nun, sie wiederzubeleben, sie vom Staub und der Vergangenheit zu befreien und sie aufleben zu lassen.

Abermals sieht Mareike in den Spiegel. Sie nickt sich selbst wohlwollend zu. Endlich begreift sie, was Saskia die ganze Zeit über online gepredigt hat: Innere Zufriedenheit schlägt sich auch im Äußeren nieder. »Ich bin genug! Ich bin einzigartig! Ich bin etwas Besonderes!«, sagt Mareike automatisch zu sich selbst. Sie glaubt sich. Sie lächelt sich zu. Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit findet Mareike sich schön. Dies ist der erste Tag vom Rest ihres Lebens. Sie war endlich im Hier und Jetzt angekommen. Sie war endlich in sich selbst angekommen. Sie war sie selbst.

Mareike greift nach ihrem Handy und wählt die Nummer jenen Smartphones, das sie vor wenigen Tagen in einem Paket bei der Post aufgegeben hatte. Es läutet nur ein einziges Mal, dann hebt die Person am anderen Ende der Leitung auch schon ab. Ein hauchendes »Mareike?« dringt an ihre Ohren. Mareike erkennt ihre beste Freundin in dem Stimmlaut wieder. Es ist Saskia. Es fühlt sich an, wie nach einer langen Reise endlich nach Hause zu kommen. Sie hatte Saskia vermisst.

2 thoughts on “Maskenball

  1. Hallo Vera und Theresa,

    mir hat eure Kurzgeschichten gut gefallen. Vor allem die Art wie ihr schreibt ist sehr ansprechend und angenehm zu lesen.
    Ich hatte tatsächlich damit gerechnet, dass Mareike sich am Ende doch noch rächt. Dadurch das sie das aber nicht tut, finde ich, habt ihr mit diesem Werk eine Richtung eingeschlagen, die (meiner Meinung nach) die wenigsten “Schreiber” getan hätten. – Sehr gute Idee!!

    Liebe Grüße und viel Spaß beim weiteren Schreiben
    Sarah

    Vielleicht habt ihr ja auch Lust meine Kurzgeschichte zu lesen und vielleicht auch zu kommentieren und/oder zu liken – sie heißt “Unschuldskind”.

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