Jo-SchueLeer

 

Leer

 

 

 

Teil 1

 

Hektisch eilte er den Fußgängerweg entlang. Der Berufsverkehr hatte die Straßen fest im Griff und einige der entgegenkommenden Autos blendeten Justus für einen Augenblick. Er war froh, sich für einen Spaziergang zu Mias Lieblingsimbiss entschieden zu haben. Mit der Tüte in der Hand und ein wenig schneller, als es der Zustand seiner momentanen Ausdauer eigentlich zuließ, bog er in die schmale Seitenstraße der 30er Zone ab. In dieser hatten Mia und er sich vor einem Jahr eine ruhige Doppelhaushälfte mit Garten gemietet. Er hoffte, dass seine Freundin noch nicht vom Pilates-Kurs zurück war, doch als er ihren roten Fiat in der Einfahrt sah, fluchte er leise. Er hatte geplant, vor ihr wieder zuhause zu sein, um die Überraschung zum Jahrestag perfekt zu machen.

 

Doch anders als erwartet, war Mia noch nicht im Haus. Seine Freundin stand an der Straße und unterhielt sich angeregt mit einem fremden Mann, der im Auto saß. Abrupt blieb Justus stehen und ein kalter Schauer lief ihm den Rücken herunter, als er das Kennzeichen seiner früheren Wahlheimat erkannte. Hamburg. Er fragte sich, was den Autofahrer nach Ostfriesland führte. Mia schien aufgebracht zu sein, doch Justus stand noch zu weit entfernt, als dass er verstand, worum es bei dem Gespräch ging.

 

Langsam schritt er auf die beiden zu. Die Hektik, die noch vor wenigen Augenblick um ihn herum geherrscht hatte, nahm er nun nicht mehr wahr und es fühlte sich an, als würde jede seiner Bewegungen in Zeitlupe geschehen. Noch bevor er ein Wort, das die beiden austauschten, aufgreifen konnte, entdeckte Mia ihn und ein überraschtes Lächeln schob sich auf das zuvor noch erzürnte Gesicht.

 

„Wo kommst du denn her, Justus?“, fragte sie und im selben Augenblick entdeckte sie die Tüte in seiner Hand, auf die der Name des Imbisses fett gedruckt war.

 

Waltrauds Imbissstube

 

„Vielen Dank nochmal.“ Die getönten elektrischen Fenster des Beifahrersitzes fuhren hoch, bevor Justus einen genaueren Blick auf den Mann mit der tiefen, rauchigen Stimme am Steuer erhaschen konnte. Justus bezweifelte, den Mann zuvor schon einmal gesehen zu haben und auch das Kennzeichen weckte in ihm keine Erinnerung. Fast lautlos startete der Motor und ebenso still fuhr der Fremde davon.

 

„Was wäre der perfekte Jahrestag auch nur ohne das leckere Essen aus Waltrauds Stube?“, lächelte Mia ihn spitzbübisch an und versuchte ihn abzulenken.

 

„Wer war das?“ Neugierig musterte Justus seine Freundin, die mit einem Mal wieder die Ruhe in Person zu sein schien. Mia wandte sich von ihm ab und ging zu ihrem Fiat 500.

 

„Keine Ahnung, ich kenne den Mann nicht. Er hat die Justus-von-Liebig-Straße gesucht. Anscheinend wohnt dort ein Bekannter von ihm“, erklärte sie beiläufig, als sie ihre Sporttasche aus dem Kofferraum hob.

 

„Das ist am anderen Ende der Stadt“, stellte Justus fest.

 

„Das habe ich ihm auch erklärt, aber er wollte mir nicht glauben.“ Genervt schnalzte Mia mit der Zunge, wie sie es immer tat, wenn jemand zu lange brauchte, um zu einem Ergebnis zu kommen. Oftmals schoben die beiden Mias Temperament auf die italienischen Wurzeln mütterlicherseits. Sie sprach nicht oft von ihrer Familie, die sie schon in jungem Alter verloren hatte. Aber letzten Sommer, als es nachts so heiß war, dass die beiden es in ihrem frisch renovierten Schlafzimmer nicht mehr aushielten und nach draußen auf die Terrasse flüchteten, erzählte Mia Justus die halbe Nacht von ihrer Kindheit in Leer, ihren Eltern und ihrem Bruder. Sie hatte alle drei eines Tages bei einem schweren Verkehrsunfall verloren und war zu ihrer Großmutter gekommen, die auch in der Stadt wohnte. Ihre Großmutter starb einige Jahre später. In dieser Sommernacht sprach Mia so offen wie noch niemals zuvor über ihr Leben. Und Justus hörte zu. Ihrer leisen, harmonischen Stimme zu lauschen, die sich all die Ereignisse ihres Lebens von der Seele sprach, fesselte ihn mehr als das spannendste Hörbuch, welches er je gehört hatte.

 

„Er hätte die Adresse doch ins Navi eingeben können.“ Schulterzuckend lehnte er sich an Mias Auto.

 

„Es wird dich schockieren, aber ich bin nicht die einzige Person, die der Technik abschwört und einen Straßenatlas benutzt, um ans Ziel zu kommen.“ Frech grinste sie zu ihm herüber, als sie den Kofferraum zuschlug.

 

„Mamma Mia“, neckte er sie und kniff ihr liebevoll in die Seite. Gemeinsam traten sie in die Wohnung und Justus lotste sie geschickt auf die Terrasse, wo der Tisch bereits gedeckt war.

 

„Oh, du hast dir solche Mühe gemacht!“ Sichtlich gerührt über die Pfingstrosen in der Vase und die Schokolade neben ihrem Teller ließ Mia ihre Sporttasche neben der Terassentür fallen. Justus ging zurück in die Wohnung, stellte die Bestellung aus dem Imbiss auf den Wohnzimmertisch und fischte eine kleine Schatulle aus der Kommode. Nervös trat er vor Mia und ging langsam auf die Knie. Ein unsicheres Kribbeln breitete sich in seinem Bauch aus. Überrascht schlug Mia die Hände vor den Mund und Tränen schossen in ihre Augen. Langsam öffnete er die Schatulle und ein schmaler, filigraner Ring mit einem schlichten Stein kam zum Vorschein.

 

„Mia, möchtest du mich hei-“

 

„Ja!“, unterbrach sie ihn und fiel ihm um den Hals. Sie küssten sich und konnten sich auch den Rest der Nacht kaum voneinander trennen. Das Essen stand am nächsten Morgen noch immer kalt und unberührt auf dem Wohnzimmertisch.

 

 

 

Teil 2

 

Als Justus aufwachte, war Mia schon zur Arbeit und die ersten Sonnenstrahlen des Tages tanzten auf seiner Nase. Sie hatte das Haus bereits um halb sechs verlassen. Viel Schlaf hatten sie in der Nacht nicht bekommen.

 

Wenig später schloss Justus mit einem wohligen Gefühl im Bauch die Haustür hinter sich ab. Noch immer konnte er es kaum fassen, dass Mia seinen Antrag angenommen hatte. Glücklich schritt er zu seinem Auto. Justus öffnete die Fahrertür und gerade als er einsteigen wollte, entdeckte er es. Stutzig hielt er in der Bewegung inne und musterte das schmale, schwarze Gerät auf seinem Autodach als könne es nicht real sein.

 

Auf dem Dach seines Wagens lag ein Handy. Ein fremdes Handy. Irritiert sah Justus sich in der Straße um, doch es war keine andere Person zu sehen. Vorsichtig, als wäre es aus feinstem Glas und würde schon bei dem geringsten Druck zerspringen, nahm er das fremde Gerät in seine Hand.

 

Als würde das Handy sich vorstellen wollen, leuchtete das gesperrte Display auf. Auf dem Hintergrundbild war lediglich eine Hand zu sehen, welche einen Ring trug. Justus rutschte das Herz in die Hose, als er den Ring erkannte, den er noch vor wenigen Stunden Mia auf den Ringfinger der linken Hand geschoben hatte. Er beäugte das Handy von außen akribisch. Es war nicht Mias Handy, dessen war er sich sicher. Sie verabscheute Smartphones und deren Technik.

 

Die Dinger belauschen einen, Justus, oft hatte sie ihn überreden wollen, die Smartgeräte aus ihrem gemeinsamen Haushalt zu verbannen.

 

Mit einem lauten Klappen schlug eine Autotür hinter ihm zu. Justus fuhr zusammen und drehte sich um. Ein Umzugswagen parkte auf der Auffahrt der anderen Doppelhaushälfte. Justus blickte irritiert zu dem kleinen, rundlichen Mann der freudestrahlend über die Rasenfläche zwischen den Auffahrten auf ihn zukam.

 

„Moin! Ich bin Antonio, der neue Nachbar aus 211a! Kannst mich aber Toni nennen, das machen alle!“ Sein Lächeln entblößte eine Reihe gelblich verfärbter Zähne. Justus tippte auf einen starken Raucher, noch bevor der Geruch ihn erreichte und in seiner Vermutung bestätigte.

 

„Justus“, stellte er sich knapp vor und schüttelte widerwillig die schwitzige Hand seines neuen Nachbarn. Er wollte sich lieber mit dem mysteriösen Gerät in seiner anderen Hand beschäftigen. „Ich habe gar nicht mitbekommen, dass die Schmidts ausgezogen sind“, sprach er seinen Gedanken aus und blickte zu der Doppelhaushälfte seines Nachbarn, die mit einem Mal so verlassen aussah.

 

„Wir haben die Hälfte letzte Woche ergattert. Ein echtes Schnäppchen, da konnten wir nicht widerstehen. Ach, da kommt meine Frau. Maria.“ Toni drehte sich zu dem alten Kleinwagen um, der an der Straße hielt. Eine schmale, große Frau stieg aus und winkte den beiden freundlich zu, bevor sie zu dem Umzugsauto ging.

 

„Schatz, ich brauche mal deine Hilfe“, rief Maria ungeduldig zu Toni, welcher mit den Achseln zuckte.

 

„Na denn, auf eine gute Nachbarschaft!“, verabschiedete er sich.

 

„Ja, auf eine gute Nachbarschaft“, murmelte Justus und blickte wieder auf das Handy. Sein Hochgefühl der letzten Nacht verwandelte sich in immer stärker werdende Krämpfe im Bauch, die ein ungutes Gefühl hervorriefen. Sein Blick hing wie gebannt am leuchtenden Display und er hielt sich das Handy ein wenig näher an das Gesicht, um den Ring deutlicher zu sehen. Vielleicht handelte es sich ja gar nicht um Mias Verlobungsring?

 

Das Handy piepte plötzlich auf und ein kleiner Schriftzug erschien, bevor sich der Displayhintergrund änderte.

 

Face ID erkannt

 

Wie zum Teufel…? Justus schnappte nach Luft, seine Knie wurden weich und sein Herz begann wie wild in der Brust zu schlagen. Schweiß trat auf seine Stirn, als er den Home-Bildschirm erkannte. Es zeigte ein Restaurant in Hamburg. Das Restaurant.

 

Das kann nicht wahr sein, dachte er sich und schlug seine Fahrertür lauter als beabsichtigt zu. Justus spürte Tonis neugierigen Blick im Rücken, als er zu seiner Haustür stolperte. Erst beim vierten Versuch schaffte er es, seinen Haustürschlüssel in das Schloss zu stecken und die Tür aufzuschließen. Er schlug sie hinter sich zu und wankte zur Treppe zu seiner Rechten, die sich als nächstmögliche Sitzgelegenheit bot. Das fremde Handy glitt ihm aus den Händen und fiel scheppernd auf die Fliesen. Justus flehte innerlich, dass er sich irrte und das Bild ihn getäuscht hatte. Dass er nicht seine Vergangenheit in Hamburg gesehen hatte. Nicht das Ergebnis seiner Taten, die er vor sechs Jahren hinter sich gelassen hatte, als er nach Leer gezogen war. Hatten sie ihn doch gefunden?

 

Justus versuchte seine Atmung zu kontrollieren und schloss seine Augen. Langsam merkte er, wie sein Herzschlag sich beruhigte. Justus bemühte sich einen klaren Gedanken zu fassen, doch er wurde von dem Vibrieren des Handys auf den Fliesen abgelenkt. Es hallte durch den kleinen Flur und Justus verkrampfte innerlich. Dieses kleine, unschuldig wirkende Gerät, kratzte an der Oberfläche einer Truhe, die er tief in seinem Inneren verschlossen hatte. Sie hatte schon eine Staubschicht bekommen, so selten hatte er an sein Leben in Hamburg gedacht, seit er Mia kannte. Mia. Sie würde in Gefahr sein. Das Bild von ihrem Ring machte dies unmissverständlich klar. Entschlossen raffte er sich auf und griff nach dem schmalen Gerät. Er drückte auf die Home-Taste und hielt es abermals vor sein Gesicht. Das Handy entsperrte sich und Justus öffnete die empfangene Nachricht.

 

Mamma Mia, ich denke, du weißt noch was passiert, wenn du nicht mitspielst. Ticktack, ticktack, die Uhr läuft.

 

Justus schluckte schwer und schloss die Augen, was nur bewirkte, dass sich ein Film hinter seinen verschlossenen Lidern abspielte, den er bisher mit aller Kraft verdrängt hatte. Er riss die Augen wieder auf und blickte abermals auf die SMS.

 

Mamma Mia, sie kannten den Spitznamen, den er Mia liebevoll gegeben hatte.

 

Justus wusste, was passieren würde. Zu oft hatte er dabei zusehen müssen. Zu oft hatte er mit anpacken müssen. Zu oft hatte er mit den schmerzvollen, ängstlichen Schreien, die sich in sein Gehirn eingebrannt hatten, einschlafen müssen. Zu oft hatte er sich mit Schuldgefühlen gequält und sich selbst gehasst.

 

Ticktack, ticktack, die Uhr läuft, keuchend stand Justus auf und ging zum Festnetzanschluss. Das Buch, in das Mia die wenigen Nummern geschrieben hatte, mit denen sie regelmäßig telefonierten, lag neben dem Telefon. Er blätterte zu der Seite, auf der die Telefonnummer von Mias Arbeit stand.

 

Vermutlich würden sie versuchen, Mia mit einem getäuschten Vorwand von der Arbeit wegzulocken. Mit zitternden Händen wählte er die Nummer.

 

Eine gestresste Frauenstimme meldete sich. „Kinder- und Jugendpsychiatrie Leer, Station 2, Tannenkamp am Apparat.“

 

„Hallo, Justus Claasen hier. Ich bin Mias Freund. Kann ich bitte mal mit ihr sprechen?“, seine Stimme bebte und er war dankbar, dass sie nicht komplett wegbrach.

 

„Mia hat sich heute Morgen kurz vorm Frühdienst krankgemeldet. Sie erreichen sie bestimmt bei sich zuhause.“ Die Frau klang verwundert.

 

„Was… wie bitte… ja“, stotterte Justus ebenso verwirrt. Mia war nicht bei der Arbeit angekommen. Ein Schauder lief ihm den Rücken herunter und er bekam am ganzen Körper Gänsehaut.

 

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Sie klingen nicht gut.“ Ohne zu antworten brach Justus das Gespräch ab und stellte das Telefon zurück auf die Ladestation.

 

Die Kollegin schien nicht zu wissen, dass Mia mit ihm zusammenwohnte. Das wunderte Justus nicht, da Mia keinen Kontakt zu ihren Kollegen außerhalb der Station pflegte.

 

Ein weiteres Vibrieren des Handys durchbrach die innerliche Leere, die sich ausbreitete und ihn langsam, aber sicher in ihren Bann zog. Hastig öffnete er die SMS.

 

Justus-von-Liebig-Straße 112.

 

Mehr Informationen gab ihm der Absender nicht. Justus-von-Liebig-Straße. Augenblicklich dachte er an den Fremden mit dem Hamburger Kennzeichen. Justus ärgerte sich, dass er sich gestern so leicht von Mia hatte ablenken lassen, obwohl ihm das Hamburger Kennzeichen verdächtig vorkam. Allerdings hatte sie nicht ahnen können, in welche Gefahr sie sich damit bringen würde.

 

Zielstrebig ging Justus mit großen Schritten die Treppe zum Schlafzimmer hoch. Er öffnete den geräumigen Kleiderschrank und schob Mias Kleider zur Seite, um an den eingebauten Safe zu gelangen. Wie in Trance gab er den Code ein.

 

253

 

Drei Zahlen. 253. 25.3. Das Datum, an dem sich alles änderte. Der Safe sprang mit einem zufriedenen Surren auf und Justus entnahm die Pistole samt Halfter und eine kleine Visitenkarte. Erschöpft setzte er sich auf das Bett und blickte die Karte an, auf die lediglich eine Mobilnummer gedruckt war. Kein Name, keine Adresse, keine Firma, nichts Weiteres als die Nummer. Justus wusste, dass er diese Nummer anrufen musste. Das war die Regel. Eine der wenigen Regeln, die er zu befolgen hatte. Sobald etwas Auffälliges passierte, sollte er sich melden.

 

Resignierend seufzte er und gab die Nummer in sein eigenes Mobiltelefon ein. Justus drückte auf das grüne Telefonhörersymbol und der Anschluss wurde angewählt.

 

Kein Anschluss unter dieser Nummer“, verkündigte eine Computerstimme. Ungläubig gab er abermals die Telefonnummer in sein Handy ein und drückte auf das grüne Symbol.

 

„Kein Anschluss unter dieser Nummer.“

 

Justus traute seinen Ohren nicht. Ratlos inspizierte er die Karte in seinen Händen, doch es schien dieselbe zu sein, die er vor sechs Jahren in die Hand gedrückt bekommen hatte. Der Kaffeefleck, der sich auf der Rückseite verewigt hatte und ihr die Seriosität nahm, war unverkennbar. Wie konnte die einzige Verbindung, die ihn retten konnte, eine Lüge sein? All die Jahre hatte er es nie in Erwägung gezogen, die Nummer auf der Karte zu wählen. Doch er war sich der Sicherheit, die sie ihm versprach, stets bewusst.

 

Justus überlegte, was ihm damals beigebracht wurde. Wie musste man in solch einer Situation agieren? Er wog seine Optionen ab und fasste schließlich einen Entschluss. Justus blieb nichts anders übrig, als zu der Adresse zu fahren, die der Absender in der SMS genannt hatte. Wenn er mit den wenigen Beweisen auf der Polizeiwache auftauchen würde, hätten die Polizisten ihn kopfschüttelnd wieder nach Hause geschickt. Doch was würde ihn bei der Adresse erwarten? Oder wer?

 

Als er die Treppe herunterstürmte griff er beiläufig nach seinem Autoschlüssel, der noch immer auf den Fliesen lag und ging aus dem Haus. Die Handys legte er auf den Beifahrersitz und jagte mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Wohnsiedlung.

 

Das Haus mit der Nummer 112 war ein altes Kapitänshaus, wie es in Leer viele gab. Der Vorgarten erweckte den Eindruck, als sei er seit Jahren nicht mehr gepflegt worden. An der großen Hausfront schlängelte sich Efeu fast bis unter das Dach empor.

 

Zu Verkaufen, warb ein großes Schild einer Immobilienfirma an der Ecke, wo Garten und Auffahrt sich trafen. Justus zog die Stirn kraus und kontrollierte auf Google Maps seinen Standort. Doch sein Handy bestätigte die Angaben der SMS. Justus ignorierte die innere Stimme, die ihn förmlich anschrie, beide Beine in die Hand zu nehmen und Leer augenblicklich zu verlassen, und stieg aus. Das Kapitänshaus wirkte verlassen und die Haustür war verschlossen. Bevor Justus um das Haus zum Garten ging, nahm er die Pistole aus dem Halfter und entsicherte sie. Eine Hand an der Waffe beobachtete er die Fenster, doch hinter keinem konnte er eine Bewegung feststellen. Als er an der Rückseite angekommen war, rüttelte er an der Hintertür. Auch sie war verschlossen. Schnellen Schrittes kehrte Justus zum Auto zurück. Er wollte gerade einsteigen, als ihm ein Deja Vu wiederfuhr. An der gleichen Stelle auf dem Autodach, an der am Morgen das fremde Handy lag, befand sich ihr Ring. Ungläubig drehte er ihn zwischen seinen Fingern, bis er die Gravur im Inneren gefunden hatte.

 

MIA ∞ JUSTUS

 

 

 

Teil 3

 

Angespannt legte Justus seine Pistole und das fremde Handy in das Handschuhfach und schloss es ab, bevor er seinen Wagen verließ und hinter sich verriegelte. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn und rasendem Puls trat er in die Polizeiwache der Stadt.

 

„Moin, wie können wir helfen?“ Ein junger Polizist, vermutlich noch in der Ausbildung, trat vor Justus. Ein breiter Tresen trennte die beiden und Justus stützte sich erschöpft ab.

 

„Ich muss mit Ihrem Vorgesetzen sprechen.“ Justus sah sich in der kleinen Station um.

 

„Worum geht es denn?“ Der Polizist lächelte noch immer.

 

„Ich habe eine Vermisstenmeldung abzugeben. Es geht um eine Entführung“, brachte Justus hervor.

 

„Wie lange ist die Person bereits verschwunden?“, engagiert nahm sich der Polizeischüler ein Formular und einen Stift.

 

„Seit heute Morgen.“

 

Der Polizist hielt in der Bewegung inne und Justus wusste, dass er verloren hatte. „Lassen Sie mich mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.“

 

„Das ist nicht nötig. Da können wir nichts machen.“ Er sah Justus entschuldigend an.

 

„Hören Sie, meine Verlobte wurde entführt! Sie ist nicht bei der Arbeit erschienen und ich habe ihren Verlobungsring gefunden.“ Aufgebracht holte Justus den Ring aus seiner Hosentasche und reichte ihn dem Polizisten.

 

„Hört sich für mich eher an, als hätte sie es sich anders überlegt und Reißaus genommen.“ Voller Mitleid im Blick legte er den Ring wieder auf den Tresen und das Formular zurück.

 

„Mia Baumfalk. Bitte.“ Flehend blickte Justus ihn an.

 

„Baumfalk?“ Stirnrunzelnd schaute der Polizist Justus in die Augen.

 

„Ja, vielleicht ist sie noch in ihrer Zweitwohnung gemeldet. Die Wohnung gehörte ihrer Großmutter. Anni Baumfalk.“

 

„Anni Baumfalk? Warten Sie kurz. Ist sie mit den Baumfalks verwandt, die vor zehn Jahren umgekommen sind? Schreckliche Familientragödie.“ Traurig schüttelte der Polizist den Kopf und schien in Gedanken verloren zu sein. „Mit Basti war ich gut befreundet. Wir hatten am Tag vor dem Unfall noch gespielt.“

 

„Das war Mias Familie, die damals ums Leben kam“, erklärte Justus dem Polizisten.

 

„An eine Mia kann ich mich gar nicht erinnern. Vielleicht eine entfernte Verwandte?“ Grübelnd ging der junge Mann zu dem Computer an seinem Schreibtisch und tippte im Stehen etwas ein.

 

„Seltsam, aber es gibt keine Mia Baumfalk hier in Leer.“ Der Polizist blickte von seinem Computer hoch, doch Justus stürmte bereits aus der Polizeistation.

 

Keine Mia Baumfalk, angestrengt dachte er in seinem Auto nach. Sie mussten Mia aus dem Melderegister gelöscht haben. So konnten sie seine Verlobte leichter verschwinden lassen. Kein Name, keine Leiche. Einfaches und schnelles Geschäft. Aber wie hatten sie das geschafft? Und wieso konnte der Polizist sich nicht an Mia erinnern? Das Vibrieren im Handschuhfach riss ihn aus seinen Gedanken. Mit zitternder Hand schloss er das Fach auf und nahm das fremde Handy mit dem leuchtenden Display heraus.

 

Warte im Haus auf uns

 

Nachdenklich blickte er auf die Nachricht. Sollte er es wirklich wagen und ihnen in die Falle laufen? Er könnte den Motor starten und in eine neue Stadt fahren, weit entfernt. Aber sie hatten Mia. Seine Mia. Und hatte er nicht eine Verantwortung auf sich genommen, als er sie in sein verkorkstes Leben ließ? War er es ihr nicht schuldig, sie aus der Situation zu befreien? Justus bezweifelte, dass er es sich je verzeihen könnte, wenn er die Frau, die er liebte und die ihm die Kraft gegeben hat, die Truhe seiner Vergangenheit verschlossen zu lassen, im Stich ließ.

 

Er griff in das Handschuhfach, um die Pistole hervorzuholen, doch er tastete nur den kalten Plastikboden. Ungläubig starrte er in das Fach, es war tatsächlich leer. Justus war sich sicher, dass er sein Auto abgeschlossen hatte. Sie hatten ihm seine Waffe entwendet. Er fluchte und schlug versehentlich auf die Hupe, sodass einige vorbeilaufende Passanten verwundert in seine Richtung blickten.

 

Wachsam fuhr er die Straße zur Doppelhaushälfte entlang. Als Justus die Haustür aufschloss und in die lichtdurchflutete Wohnung trat, dachte er unwillkürlich an den letzten Abend. Hatte er sein Glück zu sehr herausgefordert? Durfte er nach all seinen Taten noch glücklich sein? Mia war mehr, als er sich je hatte erträumen können. Doch war es nicht zu egoistisch sie in solch eine Gefahr zu bringen? Er hätte selbstlos sein sollen und damals auf ihre Flirtversuche in der Bar nicht eingehen dürfen. Er hätte wissen müssen, was ein Leben an seiner Seite für Nebenwirkungen hatte und doch hat er Mia damit belastet, ohne nachzudenken. Justus tigerte im Wohnzimmer auf und ab. Sein Blick wanderte zu dem unberührten Essen auf dem Tisch und er merkte, wie sein Magen knurrte. Ihm war zwar jeglicher Appetit vergangen, doch ein Blick auf die Uhr verriet, dass er seit über 24 Stunden nichts gegessen hatte und eine Stärkung gebrauchen könnte. Justus entknotete die Tüte, öffnete die Styroporverpackung und biss von dem Hamburger ab. Nach zwei weiteren Bissen entschied er sich, ein Glas Leitungswasser aus der Küche zu holen. Justus hatte bereits das halbe Glas ausgetrunken, als er aus dem Küchenfenster in Richtung Garten blickte. Toni und Maria standen am Gartenzaun und beobachteten ihn mit ernster Miene. Justus ging zum Wohnzimmer und wollte schon die Terrassentür öffnen, um zu fragen, was los war. Doch er fasste neben den Türgriff. Auch beim zweiten Versuch erwischte er den Griff nicht. Er blickte in den Garten, die Bäume und Gartenmöbel begannen sich zu drehen. Justus versuchte, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Es war, als hätte man ihn auf Drogen gesetzt, die plötzlich und mit voller Kraft zu wirken schienen. Seine Knie wurden weich und er hatte Mühe zu stehen. Kraftlos versuchte er sich am Tisch festzuhalten, doch er rutschte an der glatten Platte ab und fiel zu Boden. Alles um ihn herum drehte sich und Justus konnte weder einen klaren Gedanken fassen, noch sein Umfeld richtig wahrnehmen. Er hörte eine Tür zuschlagen.

 

„Mia?“, nuschelte er schwach. Er versuchte die Augen zu öffnen, doch alles verschwamm in seinem Blickfeld.

 

„Es ist bald vorbei, Baby“, die harmonische Stimme seiner Verlobten klang wie in weiter Ferne. Er spürte auf seiner Brust ihre warme Hand, die er schon so oft ergriffen, geküsst und gestreichelt hatte. Ihr Gewicht drückte ihn auf den Boden und Justus hatte das Gefühl, sie würde ihm den Atem aus der Lunge pressen. Panisch schnappte er nach Luft.

 

„Toni, hilf mir ihn zu stützen und dann schnell rüber.“ Eine tiefe Stimme mischte sich in Justus´ Gedankenspiel und er merkte, wie er den Grund unter seinen Körper verlor. Dann sank er in völlige Finsternis.

 

 

 

4.Teil

 

Klatsch

 

Erschrocken fuhr Justus hoch. Kaltes Wasser tropfte von seinem Gesicht auf sein T-Shirt. Er blinzelte und es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Augen an das grelle Licht über ihm gewöhnten. Ein fremder Mann stand mit einem leeren Glas in der Hand vor Justus und blickte finster auf ihn herab. Justus saß auf einen Holzstuhl gefesselt in einem kalten Kellerraum. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke und ließ den Fremden vor ihm noch finsterer erscheinen. Justus´ Arme waren stramm hinter seinem Rücken zusammengebunden und ein brennender Schmerz schlich sich durch die Verrenkung von den Händen bis zur Schulter hoch. Er hatte das Gefühl, sich bei der kleinsten Bewegung selbst die Schulter auszukugeln. Seine Beine waren an die vorderen Stuhlbeine fixiert.

 

„Wo ist Mia?“, seine Stimme brach und Justus ärgerte sich, dass er nicht mehr Kraft aufbringen konnte, um Stärke und Willenskraft auszustrahlen. Suchend blickte er sich um. Eine einzige Tür zu seiner Linken führte aus dem Raum und stand weit offen.

 

„Hast du schön geschlafen, Prinzessin?“ Verächtlich verzog der Fremde sein Gesicht zu einem Grinsen, ohne auf Justus´ Frage einzugehen. Justus erkannte die markante tiefe, rauchige Stimme sofort. Es war der Fremde, der gestern mit Mia gesprochen hatte.

 

„Gehörst du zu Alonsos Männern?“ Verbittert, als hätte er in eine Zitrone gebissen, verzog sein Gegenüber das Gesicht. Justus musterte ihn eindringlich. Er kannte die engen Verbündeten von Alonsos Schutzgeldtruppe. Schließlich gehörte er selbst einmal zu dem auserwählten Kreis des Hamburger Verbrechers. Aber der Mann blieb ein Fremder für ihn. Justus schätze ihn auf Mitte zwanzig. Doch die tiefen Augenringe und der leidende Blick ließen ihn deutlich älter wirken.

 

„Wir gehören nicht zu dem Arschloch.“ Er schnalzte mit der Zunge und unwillkürlich musste Justus an Mia denken.

 

„Wir? Wer seid ihr?“ Die staubige Luft in dem kleinen Raum brachten Justus zum Husten. Sein Mund war trocken und seine Zunge fühlte sich schwer und pelzig an.

 

„Schon wieder die falsche Frage, Matteo.“ Ungeduldig schüttelte der Mann den Kopf.

 

Justus stockte der Atem. Der junge Mann gehörte definitiv zu seiner Vergangenheit in Hamburg. Unter Alonsos Männern war er als Matteo bekannt. Eine Identität, die er damals angenommen hatte. Matteo de Luca, der Sohn eines Italieners und einer Deutschen, wurde ihm damals in der gemieteten Wohnung mit den kahlen Wänden von seinem Teamleiter eingetrichtert. Bis zu dem Tag in seinem 26. Lebensjahr hörte er noch auf den Namen Jonathan. Das war zu der Zeit, als er nach seinem Abschluss an der Polizeiakademie ins Team geholt wurde, um eine Schutzgeldmafia in Hamburg auffliegen zu lassen. Und an diesem Tag, schlüpfte er in die Rolle des Matteo de Luca.

 

„Erinnerst du dich an den 25.3.2013?“ Seine rauchige Stimme bebte und Tränen des Zorns traten in die Augen des jungen Mannes.

 

Justus schwieg. Zu gut erinnerte er sich an den Tag vor sechs Jahren.

 

„Ich helfe dir auf die Sprünge, Schatz.“ Mia trat aus dem angrenzenden dunklen Raum. 

 

„Mia.“ Nun traten auch Justus Tränen in die Augen. Tränen der Erleichterung. Sie lebte. „Wie bist du hierhergekommen?“

 

„Am 25.3. hast du Beatrice und Francesco Rossi bei Alonso verpfiffen und behauptet, sie haben ihn bei der Polizei verraten, nachdem die seine Wohnung gestürmt hatte. Natürlich konnte Alonso das nicht ungestraft lassen. Was wäre er denn sonst für ein schwacher Mafiaboss? Du weißt doch, wir Italiener haben viel Temperament.“ Mia sprach mit Justus, als würde sie ihm ein Märchen vor dem Schlafengehen erzählen. Mit dem Unterschied, dass es wahr war und er das grausige Ende kannte. Zielstrebig pirschte sie sich an ihn heran, wie ein Raubtier, das seine Beute ins Visier nahm.

 

„Mia, bitte nicht.“ Gequält schloss er die Augen und wandte sich ab. Langsam zählte er eins und eins zusammen. Doch Mia dachte nicht daran, still zu sein. Ruckartig ergriff sie sein Kinn und zwang ihn, sie anzusehen. Ihre dunklen Augen funkelten vor Zorn und er fand keinerlei Vertrautheit in ihnen.

 

„Er schickte seine Leute zu dem Restaurant der Rossis. Sie bestellten sich immer wieder Schnaps und die verschiedensten Köstlichkeiten aller Art. Sie bekamen alles, schließlich wussten die Rossis, dass es Alonsos Männer waren. Und als der letzte Gast aus dem Restaurant gegangen war und Francesco Rossi den Laden für den Abend schließen wollte, holten sie ihre Knarren raus und scheuchten die Rossis wie Vieh in die Küche. Erst bekam Luca, der älteste Sohn einen Kopfschuss vor den Blicken seiner Eltern. Dann Beatrice. Und zum Schluss Francesco. Aber das weißt du ja bereits alles, du warst ja dabei. Doch ihr habt etwas übersehen, denn der siebzehnjährige Alessandro überlebte. Ihr hattet ihn am Abend nicht gesehen, weil er sich im Vorratsraum versteckte, als ihr seine Familie abgeschlachtet habt!“ Mia schrie ihm fast in das Gesicht.

 

„Du verstehst das nicht“, brüllte er ihr entgegen. Justus empfand Hass. Hass für sie, dass sie die Truhe geöffnet und die Dunkelheit befreit hatte. Und Hass auf sich selbst. Er hätte damals eher aussteigen müssen. Doch es war alles zu spät. Die Dunkelheit fraß ihn langsam innerlich auf.

 

„Alessandro, denkst du, ich habe etwas nicht verstanden?“ Sie drehte sich zu dem jungen Mann um und auf einmal verstand Justus alles.

 

„Verdammt“, fluchte er leise.

 

„Ja, sieht ziemlich schlecht für dich aus, mein Lieber“, sagte Mia, während Alessandro schweigend in der Ecke stand und Justus voller Hass mit Tränen in den Augen anstarrte.

 

„War gar nicht so leicht, dich zu finden.“

 

„Ich bin im Zeugenschutzprogramm“, murmelte er kaum hörbar. Das war die gerechte Strafe. Er wusste, dass es eines Tages so hatte kommen müssen.

 

„Wissen wir inzwischen auch. Naja, jetzt sind wir ja alle hier und können uns endlich unterhalten. Mama, Papa wollt ihr nicht dazu kommen? Ich möchte euch jemanden vorstellen.“ Entschlossen trat Toni in den Raum, Maria folgte ihm unsicher. Sie fühlte sich sichtlich unwohl bei der Sache. Er suchte ihren Blick, doch sie sah nur ausweichend auf den Boden.

 

„Hallo, Justus“, begrüßte ihn Toni mit einem kalten Lächeln und zündete sich eine Zigarette an.

 

„Ach, ich vergesse immer. Ihr habt euch bereits heute Morgen kennen gelernt.“ Mia ging zu ihren Eltern und stellte sich neben Toni. „Papa ist der Bruder von Francesco. Du kannst dir sicher vorstellen, wie sehr er dem entgegengefiebert hat, endlich mit dir abzurechnen!“

 

„Das kannst du laut sagen“, brummte Toni und nahm einen tiefen Zug. Gemächlich atmete er wieder aus und der Rauch verteilte sich im Raum.

 

„Wieso hast du das getan? Meine Eltern haben sich doch immer an Alonsos Regeln gehalten!“, stieß Alessandro leise, aber deutlich aus. Justus blickte ihn verzweifelt an und seufzte tief. Das alles hatte sich in einen schlimmen Alptraum entwickelt und er wünschte, er könnte seine Fehler wieder gut machen.

 

„Ich möchte die Wahrheit hören!“, Alessandro trat vor Justus und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Dieser nahm das Brennen kaum war, viel zu sehr war er damit beschäftigt, dem inneren Abgrund, welcher sich vor ihm auftat, zu entrinnen.

 

„Ich mache mir die schlimmsten Vorwürfe, seitdem das passiert ist. Ich hasse mich jeden Tag selbst für das alles, da könnt ihr euch sicher sein“, begann Justus leise und hörte Toni verächtlich schnauben. Er beachtete ihn nicht, sondern sah nur Alessandro an. „Ich war damals Teil einer Spezialeinheit, die sich mit dem Schutzgeldverbrechen von Alonso beschäftigte. Unter dem Namen Matteo de Luca war ich als verdeckter Ermittler für Alonso zuständig und gelangte in den engeren Kreis seiner Vertrauten. Es gab damals einen Maulwurf bei der Polizei, der Alonso immer mit Informationen versorgte und so wusste er von dem Zugriff, den wir geplant und letztendlich auch durchgeführt hatten. Alonso konnte flüchten und wusste, dass es einen Verräter unter seinen Leuten gab. Meine Kontaktmänner sagten mir, dass wir dicht davorstehen würden, ihn zu fassen. Und dass ich unter keinen Umständen auffliegen dürfe. Francesco Rossi hatte einen Tag vor der Razzia einen Streit mit einem von Alonsos Männern und mir, da er das Geld noch nicht zahlen konnte. Er drohte uns. Der andere Mann erzählte Alonso am Tag nach der Razzia von Francesco und dass er es ihm zutrauen könne, die Polizei eingeschaltet zu haben. Ich bestätigte die Geschichte, um von mir abzulenken.“ Justus senkte beschämt das Gesicht, während die anderen ihn fassungslos anblickten.

 

„Du bist ein Bulle?“, fauchte Alessandro ihn an und Justus nickte.

 

„Ja, ich war einer. Am 26.3, dem Tag an dem Alonso eingebuchtet wurde und rauskam, dass ich der Verräter war, tauchte ich im Zeugenschutzprogramm unter. Es war bereits alles vorbereitet und ich konnte mein Leben als Justus Claasen in Leer beginnen.“ Justus suchte Mias Blick, doch sie trat neben Alessandro und nahm seine Hand. Alessandro liefen die Tränen über das wutverzerrte Gesicht, er schüttelte vehement den Kopf.

 

„Ein Bulle. Du warst ein Bulle! Du hättest uns schützen müssen! Meine Familie retten müssen! Wie konntest du das zulassen?“ Wutentbrannt riss er sich von Mia los und stürmte aus dem Raum. Maria und Toni folgten ihm, sodass Mia allein mit Justus war. Er suchte ihren Blick, versuchte Hoffnung aus ihrem Gesicht zu lesen, fand jedoch keine.

 

„Mamma Mia“, seufzte er resignierend und auf eine gewisse Weise verstand er sie.

 

„Die Justiz übt keine Gerechtigkeit aus. Man muss es selbst in die Hand nehmen, wenn man Ruhe finden will.“ Sie lehnte sich an die kahle Wand ihm gegenüber.

 

„Wo soll das hinführen? Wollt ihr mich umbringen?“ Seine Stimme zitterte. Er hätte nicht gedacht, dass er doch so an seinem Leben hing, wenn er vor das strafende Gericht der Familie gezogen werden würde.

 

„Das liegt nicht in meiner Hand.“ Sie zuckte mit den Schultern, als würde es sie nicht einmal interessieren. Er fragte sich, ob all die Liebkosungen, die schönen Komplimente und einfühlsamen Gespräche, die sie ausgetauscht hatten, eine Lüge waren.

 

„Was habt ihr mir vorhin gegeben?“, fragte Justus. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als hätte sie nur auf diese Frage gewartet.

 

„Ich habe dir KO-Tropfen unter deinen Burger gemischt. War klar, dass du dem nicht widerstehen kannst. Es war nur eine Frage der Zeit.“ Sie ging in die Hocke, sodass sie auf Augenhöhe waren.

 

„Und das Handy?“

 

„Ich hätte nicht gedacht, dass du so heftig darauf reagierst. Musst ganz schön Schiss bekommen haben, dass Alonsos Leute hinter dir her sind.“

 

„Ich dachte, sie würden dir schlimme Dinge antun“, gestand Justus ihr.

 

„Um mich musst du dir keine Sorgen machen.“

 

„Man kann es nicht verhindern, dass man sich Gedanken um die Leute macht, die man liebt“, nuschelte er und dachte an diesen entsetzlichen Tag. Es war alles so perfekt inszeniert gewesen. Mia musterte ihn, ihre Miene ließ jedoch nicht zu, dass Justus ihre Gedanken erahnen konnte.

 

„Wieso das alles? Ihr hättet es doch viel früher hinter euch bringen können.“ Er runzelte die Stirn.

 

„Die Idee mit den Spielchen war Papas spezieller Einfall. Das hat er sich von Alonsos Männern abgeguckt. Papa war sich sicher, dass es mehr Spaß machen würde, dich auch psychisch zu quälen. Nicht nur körperlich. Du solltest leiden und dieser Tag sollte zu deinem Alptraum werden.“ Gleichgültig blickte sie ihm fest in die Augen und fand Bestätigung. Es war ein Alptraum gewesen. Eine Jagd, in der die Beute schon weiß, dass sie nur Zeit gewinnen würde, nicht jedoch ihr Leben.

 

Justus hörte, dass sich Schritte näherten und blickte wieder zur Tür, durch die Alessandro und Toni traten. Alessandro hatte eine Pistole in der Hand und Justus erkannte mit Entsetzen seine eigene Waffe wieder. Reuig und zu keinem anderen Gedanken mehr fähig, schloss er die Augen, bat innerlich um Vergebung für seine Taten und wartete auf das Geräusch, das sein Leben beenden würde. Doch es kam nicht. Stattdessen hörte er die Waffe auf den Boden fallen. Justus öffnete die Augen und sah in Alessandros müdes Gesicht.

 

„Wir töten ihn nicht. Ich will nicht mit der Schuld leben, jemanden getötet zu haben. Egal, ob schuldig oder nicht. Wir überlassen ihm die Wahl, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Du kannst es zwar nicht wiedergutmachen, aber für uns etwas erträglicher, Matteo. Es ist ein einziger Schuss in der Waffe.“ Alessandro kickte die Waffe in Mias Richtung.

 

„Binde ihn los“, beauftragte er sie und die beiden Männer verließen den Raum.

 

„Wie seid ihr an meine Waffe gekommen?“ Er kannte die Antwort bereits, wollte das Gespräch allerdings am Laufen halten, als Mia die Pistole an sich nahm.

 

„Ich habe einen Zweitschlüssel von deinem Auto, schon vergessen?“ Sie ging zu ihm und entknotete seine Beine. Er dachte an die Polizeiwache, wo sie ihm entwendet wurde und an das Gespräch mit dem Polizisten. Daher konnte dieser auch keine Mia Baumfalk ausfindig machen. Es gab keine Mia Baumfalk. Unwirsch öffnete sie die Fessel an seinem Rücken und er nahm die schmerzenden Arme nach vorne.

 

„Und was ist mit der Nummer meines Kontaktmannes?“ Justus stand von dem kleinen Stuhl auf.

 

„Ich habe ein paar Daten ausprobiert, damit der Safe sich öffnet. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass du dich für dieses Datum entscheidest. Die Karten auszutauschen war ein Kinderspiel. Die größte Herausforderung war der Kaffeefleck.“ Schweigend blickten sie sich einen Moment in die Augen.

 

„Mach das Richtige.“ Sie stellte sich auf Zehenspritzen, küsste ihn auf die Wange, legte die Waffe neben die Kellertür und verschwand für immer aus seinem Leben. Justus wusste, was zu tun war. Die befreite Dunkelheit konnte er nicht wieder in die Truhe sperren, nachdem er die Hinterbliebenen kennen gelernt hatte. Mia hatte ihm Halt gegeben und ihm wieder zu der Normalität zurückgebracht. Jetzt war sie für immer gegangen. Er fühlte sich leer.

 

6 thoughts on “Leer

  1. Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Ich mag deinen Schreibstil und du hast ein Auge fürs Detail. Die Beschreibungen der Gefühle und Zustände, fand ich sehr gut, da du gute Beispiele verwendet hast. Das einzige was mich verwirrt, ist der Standpunkt von Mia. Wenn ich das überlesen habe nehme ich es zurück, aber auf welche Seite genau steht sie? Beziehungsweise was hat sie mit der Vergangenheit zu tun? Sind Ihre Eltern doch nicht beim Autounfall gestorben, sondern waren die Opfer des Mafiabosses?
    Auf jeden Fall solltest Du weiter schreiben. Vielen Dank für die spannende Geschichte 🙂

  2. Hi, ich fand deine Geschichte auch ziemlich gut und wollte dir ein Herz da lassen. Da es aber gehakt hatte, glaube ich aber, dass es 2 oder 3 x geklickt hat. Kannst du sehen, wer gelikt hat? Sorry, dass ich es hier schreibe, aber ich wüsste nicht, wo sonst. Ich habe jetzt ein schlechtes Gewissen, weil du dich sicherlich gefreut hast. Ich habe den Support schon angeschrieben, damit sie mal nachschauen. Ich möchte nicht, dass der Verdacht aufkommt, ich (oder was ich schlimmer fände, du) würden täuschen. Ich hoffe, ich irre mich und die Likes kommen von verschiedenen Lesern. Ich schreibe dir noch einen ordentlichen Kommentar etwas später. Ganz lieben Gruß Claudia

  3. Hallo, da hast Du etwas tolles zustande gebracht. Ich habe sie zu Ende gelesen, auch wenn sie nicht ganz meinen Geschmack trifft. Ich persönlich finde diese Art zu schreiben passt besser zu einem Roman. Lange Sätze, viele Details und eine Menge Namen. Das alles verhindert es, dass die Geschichte an Spannung gewinnen kann. Für mich lebt eine Kurzgeschichte von der Kürze und genügend Interpretationsspielräumen. Ich musste mich sehr konzentrieren um die Zusammenhänge nachvollziehen zu können und einiges habe ich nicht ganz verstehen können.

    Aber das ist natürlich alles Geschmackssache 😉 Auf jeden Fall Respekt dafür! 👏

    Falls Du meine Geschichte auch lesen möchtest: “Stumme Wunden”
    Ich würde mich sehr über Feedback freuen. 😊 Liebe Grüße Sarah! 👋 (insta: liondoll)

  4. Eine nette ,schön geschriebene Kurzgeschichte,die mich gleich in den Bann gezogen hat.Ein guter Spannungsbogen,der aber zum Ende etwas abflacht.
    Es bleiben aber ein paar Fragen.Wer ist Mia? In welchem Verhältnis steht sie zu der Famile?
    Aber du hast einen guten Schreibstil,bleib dran.

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