DomiDas Duplikat

»Wer einen Fehler macht und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.«            Konfuzius

  

Sie presst den kalten Lauf gegen ihren zittrigen Körper. Kein unbekanntes Gefühl, auch wenn sie sich über die neuen Griffschalen aus dunklem Tropenholz wundert. Anders, aber nicht fremd. Und dennoch so neu.

Sie ist bereit es zu tun.

»Tee, frischer Kaffee, möchte noch jemand heiße Getränke?«, belästigte die für ihr Alter viel zu auffällig geschminkte Frau die Reisenden, während sie mit ihrem eisernen Wägelchen versuchte, den mit zahlreichen Koffern zugestellten Gang des ICEs zu durchqueren. Wenn dieser blöde Typ neben mir einfach duschen gegangen wäre, hätte ich meinen Würgereiz jetzt nicht unterdrücken müssen. Hätte ich doch nur die verdammte Kreditkarte mitgenommen. Statt der komfortablen Ledersitze und der ganzen schnöseligen Anzugsträger, hatte ich nun einen Stoffsitz mit einem Brandloch auf dem Sitzpolster und einen alten Mann mit siffigen Klamotten neben mir. Kleider machen Leute! Papa hat es immer schon propagiert! Ganz klasse, Emma, top Auswahl, wirklich. Emma zückte ihr Smartphone aus ihrer Hosentasche und musste genervt feststellen, dass der ursprüngliche 4G-Empfang in ihrer Statusleiste fehlte. Thank you for travelling with Deutsche Bahn.

»Ich bekomme einen Kaffee!«, sprach Emma, ohne den Augenkontakt zur Mitarbeiterin der Deutschen Bahn auch nur einmal zu suchen, geschweige denn ihre Gegenfrage abzuwarten: »Schwarz!«

Schwarz, wie Papas Kreditkarte.

Mühselig und fassungslos ob des horrenden Preises suchte Emma die geforderten 3,30 € aus ihren Hosentaschen zusammen, von denen sie einige Münzen auf den gestreiften Teppichboden fallen ließ, als sich ihr Handy durch ein aufdringliches Vibrationssignal bemerkbar machte. Der muffig riechende Mann neben ihr auf dem begehrten Fensterplatz erkannte die Hektik und meldete sich mahnend zu Wort: »In der Ruhe liegt die Kraft, Kleines. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir und vor allem hast du noch gute 15 Minuten bis zum nächsten Halt. Dein Geld läuft dir schon nicht weg, aber mit deiner Geduld und besonders deiner Gesundheit solltest du etwas umsichtiger sein – man lebt schließlich nur einmal.«

Bla bla, man lebt nur einmal. Jetzt fehlt nur noch, dass er mir mit der Carpe-diem-Scheiße kommt. Wie Robbin Williams damals. Zum Kotzen, wie auch immer dieser olle Film hieß, den Mama so sehr geliebt hat. Zurück zum Wesentlichen: Endhaltestelle. Und verflucht, ja, zum Glück kann ich diese Irrenanstalt hier verlassen: schreiende Gören, ätzende Durchsagen, die sowieso kein Mensch versteht, und on top stinkende Männer. Was denkt sich dieser Typ eigentlich? Immer diese alten Leute, meinen immer, sie müssten sich überall einmischen. Ich bin fast volljährig und lasse mir nichts sagen. Und auch wenn ich vielleicht nicht so aussehe, ich bin kein verdammtes Kind mehr!

Völlig verärgert von ihren Mitmenschen erinnerte sich Emma an die Nachricht zurück, die sie vor einigen Minuten per WhatsApp erhielt: »Denkst du bitte an das Rezept? Die Apothekerin weiß schon Bescheid. Kuss Papa!« Emma wurde heiß. Und auch der Pappbecher randvoll mit Schwarzem Gold, den sie endlich in ihren Händen hielt, trug zu einer erneuten Hitzewallung bei. Verdammt, da war ja was! Emma guckte aus den durch Regen und Staub verdreckten Fenstern des Zuges. Hier ändert sich wohl auch nichts mehr. Die Sonne ist im Norden wohl nie zu sehen. Aber egal, denn ich halte alles, was ich brauche, in meinen Händen. Und das Gute ist, Mama wird es mir nie wieder verbieten können.

Erst ein erneutes taktvolles Klopfen auf ihrer rechten Schulter, welches stark dem Vibrationssignal ihres Handys ähnelte, holte Emma aus ihrer Trance zurück, in der sie dem unangenehmen Geruch ihres Sitznachbarn immerhin für einige Sekunden entfliehen konnte. Sie drehte sich in Richtung des schmalen Ganges und sah einem kleinen dicklichen Mann direkt in die Augen. Alter, der hat aber lange nicht mehr geschlafen. »Krasse Augenringe!«, murmelte Emma leise vor sich hin und musste dabei an die Amethysten in dem Schmuckkästchen ihrer Mutter denken.

»Guten Tag, die Fahrkarten bitte!«

Shit!

Emma versank nach und nach in ihrem Sitz, während sie sich überlegte, wie sie so schnell an eine Fahrkarte gelangen könne. Hilflos schaute sie umher. Ihr Sitznachbar beobachtete sie erneut. »Das ist meine Enkelin!«, begann er die Konversation. Und Emma sah auf. Auch der Kontrolleur musterte den alten Mann nun wartend, wie er diese offensichtliche Lage entschärfen wolle.

Wie weit wird sie kommen?

»Na schauen Sie mal, junger Mann. Das ist doch schließlich ein Wochenend-Ticket. Damit darf ein Großvater doch zusammen mit seiner Lieblingsenkelin fahren und sie kostenfrei mitnehmen, wenn sie unter 15 Jahre alt ist? Oder haben wir uns da von ihrer Kollegin falsch beraten lassen?« Der selbstsichere Blick galt nun dem Schaffner, der zwar ansetzte, aber plötzlich durch die Lautsprecherdurchsage seines Kollegen unterbrochen wurde:

»… Endhaltestelle. Wir bitten alle Fahrgäste auszusteigen und wünschen Ihnen im Namen unseres DB-Service-Teams einen angenehmen Aufenthalt. Der Ausstieg ist in Fahrtrichtung rechts.«

Netter Typ. Erst lügt er dem Schaffner straight ins Gesicht und jetzt bietet er ihm auch noch einen giftgrünen Bonbon an, den er aus seiner zigmal geflickten Jackentasche zog. Na lecker. Emma erkannte den Hustenbonbon. Die hatte Papa damals auch immer in seiner Tasche –  nur echt mit der Fahne. Hauptsache die legten noch Wert auf Premiumqualität – aber sind wir ehrlich, mich hätte das Angebot genauso schnell verjagt wie den Mann mit den dunklen Schattierungen unter den Augen. Dieser winkte nämlich abrupt ab, bevor er mit einem konsternierten Gesichtsausdruck das Abteil verließ.

Ohne sich bei ihrem Sitznachbarn zu bedanken, stieg Emma aus dem Zug und zündete sich getrieben von dem ritualisierten Drang eine Zigarette an. Erst als der warme Qualm die Lunge des jungen Mädchens erreichte, entspannten sich ihre festgezurrten Gesichtszüge. Langsam ließ sie sich durch das hektische Treiben der Pendler führen. Das permanente Rot der Rücklichter hatte eine beruhigende Wirkung auf Emma. Sie verspürte eine Art erhebendes Gefühl, als sie den spazierenden Menschen ihren Zigarettenrauch in deren Gesichter pustete. Die sollen sich alle mal den Stock aus ihrem Arsch ziehen!

Mit einem lauten Seufzen begrüßte Emma den ihr so bekannten Ort, der zwar definitiv nicht zu den schönsten Städten Deutschlands gehörte, aber dennoch seinen ganz eigenen Charme hatte. Und auch der mittlerweile monoton fallende Nieselregen, der leicht auf den Asphalt prasselte und alles andere als gemütlich zu sein schien, hielt Emma nicht davon ab, ihrem Ziel entschlossenen Schrittes entgegen zu stapfen.

Ich hoffe für Michelle, dass es wenigstens diesmal wichtig ist. Emma und Michelle waren schon eine ganze Weile beste Freundinnen. Während Emma in einem großen Haus mit Garten und professionellen Überwachungssystemen aufgewachsen ist, wurde Michelle schon früh ihrer Familie entrissen und in die Obhut des Jugendamtes genommen, welches sie dann einige Zeit später dem Kinder- und Jugendheim der benachbarten Stadt übergeben hatte.

Die Freundinnen hatten es immer als ihr persönliches Schicksal angesehen, dass sie sich beide auf einer der Straßenpartys an den gleichen Typen heran geschmissen hatten. Nur wenige Monate später waren sie trotz der divergierenden Erziehungsstile ihrer Erzeuger – oder gerade deswegen – unzertrennlich und kümmerten sich umeinander, wie es normalerweise funktionierende Familien tun sollten. Es war also nicht das erste Mal, dass es Emma auf dem Weg zu ihrer Freundin durch einen Wald trieb. Erneut holte sie ihren Tabak heraus und drehte sich eine weitere Fluppe. Gauloises Melange Noir. Mal sehen, ob der wirklich so heftig ist, wie alle immer behaupten. Der stärker werdende Regen hatte ihre offenen langen Haare nun völlig durchnässt. Immer wieder platschten ihre Füße in matschige Pfützen. Doch Emma genoss ihren Spaziergang durch den dunklen Wald. Ihr Fehler. Ihre Mutter hatte mit ihr nie solche Spaziergänge gemacht. Emma! Komm schnell rein, du machst ja dein Kleid ganz dreckig! Und deine neuen Ballerinas, die solltest du doch erst am Mittwoch anziehen, wenn du zum Ballettunterricht musst. Die Stimme von Emmas Mutter ließ die Jugendliche aus ihren Tagträumen fahren.  Als hinter ihr ein lautes Knacken erklang, musste Emma unkontrolliert an die hölzernen Schläge jener Frau denken, die ihr komplettes Leben bestimmt hatte. So wie ihre Mutter sie immer beobachtet hatte, so fühlte sich Emma genau in diesem Moment. Es war ein unbehagliches Kribbeln, das sich langsam die Wirbelsäule hoch arbeitete und immer dann auftauchte, wenn ihre Mutter diesen einen Satz aussprach, den sie Emma fast täglich an den Kopf warf: Hätte ich dich bloß nie bekommen.

Mit hektischen Blicken fuhr Emma immer und immer wieder durch das dichte Geäst und schaute sich dabei hilfesuchend um. Dabei war sie sich nicht sicher, wonach sie suchte oder ob vielleicht sogar eher jemand nach ihr suchte? »Hallo?«, keifte Emma. Natürlich folgte darauf keine Antwort. Welcher Killer sagte einem denn schon vorher Bescheid? Hallo? Ja, genau du! Darf ich dir vielleicht die Kehle aufschneiden. Hör auf damit, Emma! Gleich hast du es geschafft!

Kalter Regen wurde von starken Windböen in Emmas Gesicht gepeitscht. Es knackte durch die hohen Tannen, als zerbreche altes Holz. Ich werde langsam irre. Nach einem letzten Blick über die Schulter, begann Emma etwas schneller zu gehen. Beim nächsten Knacken zog Emma erneut den Kopf ein. Was zur Hölle? Plötzlich riss es Emma von den Beinen und ihr Kopf schlug dank der Schwerkraft ungehindert auf den schlammigen Boden auf. Nach einigen Sekunden der Benommenheit richtete sie sich wieder auf und betrachtete die Ursache für ihren Sturz. Ein dicker Ast lag mitten auf dem Waldweg. »Fuck!«, entfuhr es Emma und sie zog sich adrenalingeladen auf ihre wackeligen Beine. Nach einem kurzen Zögern beeilte sie sich nun doch, dem düsteren Forst zu entkommen. Hätte sie sich doch nur ein weiteres Mal umgedreht.

Als sich die Fassaden des Kinder- und Jugendheimes langsam vor Emma aufbauten, empfand die Jugendliche ein unbeschreibliches Heimatgefühl. Emma fuhr mit den Fingern ihrer linken Hand Masche für Masche am grünen Metallzaun entlang. Kein unbekanntes Gefühl, denn sie war oft zu Besuch in dieser Einrichtung, besonders als sie damals Ärger mit ihren Eltern hatte. Aber wann gab es diesen mal nicht? Es roch nach Gras. Wie immer mied Emma die fünf Stufen und bevorzugte es, die nachträglich angebaute Rampe bis zur Eingangstür hochzugehen. Ein auffallender Zettel hinderte sie daran, die Tür zu öffnen: »Kein Besuch nach 21 Uhr!« Hier ändert sich wohl auch nichts mehr! Emma guckte spaßeshalber auf ihr Handy, obwohl sie ganz genau wusste, dass es bereits nach 21 Uhr war. Lächerlich! Dann drückte sie die Klinke hinunter und trat hinein. Ihre Sehnsucht nach Geborgenheit wurde sofort gestillt, als Michelle ihre dünnen langen Arme um Emmas Hals schmiss. Es folgten viele weitere Umarmungen und gerade diese machten den Moment so unfassbar wertvoll. Und liebevoll. Ein unbekanntes Gefühl!

Nach einem Stück selbstgemachter Pizza und zahlreichen Gesprächen mit den anderen Bewohnerinnen dieser Einrichtung, kam Emma zu dem Eindruck, dass sich hier wirklich nicht viel verändert hatte. Außer der Reinigungskraft. Die alte Fachkraft hätte angeblich gekündigt und jetzt erledigte Sandria den Job. Für die meisten eine gänzlich fremde Person, aber Emma kannte Sandria schon eine ganze Weile…

»Diese hier oder doch lieber die anderen?«, Michelle hielt ihrer besten Freundin zwei Paar Schuhe vors Gesicht und entschied sich mit Hilfe von Emma für die roten Pumps. »Gut, haben wir dann alles?«, wollte Emma wissen und sah auf ihr Handy, um ihrer Freundin damit ein bisschen Druck zu machen. Vier verpasste Anrufe von Papa. Musste der alte griesgrämige Mann denn immer stören?! Michelle tastete ihre schwarze Bauchtasche ab und vergewisserte sich, dass ihr Smartphone da war, in dessen Schutzhülle sich ihr Ausweis, ein 10-Euro-Schein und Busfahrkarten befanden. Was will sie denn bitte mit 10 Euro? Gerade einmal ein Gramm für uns beide?

Beide verabschiedeten sich von dem diensthabenden Erzieher und stiegen in die Linie 19, mit welcher sie direkt vors “The Gasp” gelangten.

Wie weit wird sie kommen?

In dem Club angekommen feierten die Freundinnen ausgiebig ihr Wiedersehen und stießen auf ihre kaputten Familien an. Als Michelle plötzlich ihr Handy zückte und ihr mildes Lagerbier auf dem Tresen stehen ließ, verließ sie schnellen Schrittes den Club. Emma bekam Michelles Abgang nur im Augenwinkel mit, da sie sich von einem schlaksigen Typen hat anquatschen lassen. Boah nervt der. Kann der nicht wieder abziehen? Egal! Emma griff nach seiner Hand und zusammen rannten sie Michelle hinterher. Und dort stand sie. Was zum Teufel macht SIE denn hier? Hatten wir nicht eine Vereinbarung? Verräterin!

Michelle stand wild diskutierend vor einer Frau, die sich in ihren Vierzigern zu befinden schien. Zuerst wollte Emma laut brüllen, doch mit aller Kraft konnte sie sich noch ein lautes Schreien verkneifen. »Warte kurz!«, forderte Emma ihre neue Errungenschaft auf und drehte sich zu den Frauen. Vielleicht sollte ich mir mal anhören, was meine liebe Tante zu sagen hat. Trotz Emmas Bemühungen, nicht aufzufallen, wurde sie schnell bemerkt.

»Emma.«, japste Michelle.

»Was hast du hier zu suchen, Sandy?« Emma spie beinahe den ‘Künstlernamen’ ihrer Tante aus. Sandria machte vorsichtig einige Schritte auf ihre Nichte zu, doch mit jedem Schritt gewann Emma wieder etwas Abstand. »Wisst ihr was? Ihr könnt mich mal. Ich zisch’ ab.«

Wenn Mimi mich schon verrät, dann hole ich mir den Stoff eben alleine. Soll sie sehen, wie sie den Abend heute rumkriegen will. Und so jemand schimpft sich ’beste Freundin’! Scheiß auf sie! Scheiß auf ihr Geld! Und scheiß auf den Typen!

Auch wenn die Drogen in einer abgelegenen Straße deponiert waren, ging Emma lieber auf Nummer sicher und zog sich die Kapuze ihrer Jacke tief in das Gesicht. »Unter der Kapuze hat sie ihre Ruhe, eine stille Minute…«, begann sie ihren langanhaltenden Ohrwurm, als sie plötzlich immer schneller werdende Schritte hinter sich wahrnahm, die sie an den heutigen Vorfall im Wald erinnerten. Zur Sicherheit drehte sie sich einmal um, doch hinter ihr war nur ein Fußgänger mit seinem Hund zu sehen, der keine Fragen stellen würde. Verängstigt ging Emma weiter und begann vor sich hin zu summen. Lauter als gerade eben noch. 

Vor einem blauen Müllcontainer blieb Emma stehen. Niemand würde an einem so dreckigen Ort Drogen vermuten. Als Emma den Deckel erwartungsvoll aufschob, gefror ihr das Blut in den Adern. In der mit Moos bewachsenen Tonne lag auf dem Altpapier nicht wie gewohnt ein durchsichtiges Tütchen, sondern ein Buch. Emma kannte es nur zu gut! Auf dem ledernen Einband war ein Wappen aufgedruckt, welches die   uralte und mysteriöse Abstammungslinie ihrer Familie repräsentieren sollte. Wer auch immer den Namen der von Foerdiks trägt, soll für Respekt und Loyalität einstehen. Dies machte die goldene und mittig platzierte Justitia deutlich. Wenn alles so gerecht sein soll, warum zwingt Papa mich dann dazu, seine versnobte Kanzlei zu übernehmen? Diktatur statt Partizipation? Tolles Gleichgewicht!

»Wie jetzt?«, fragte sich Emma laut und schlug irritiert die erste Seite auf. Sie war sich sicher, dass es ihr Fotoalbum war, doch auf der ersten Seite befand sich entgegen all ihrer Erwartungen nicht das kitschige Familienfoto, zu welchem sie damals gezwungen wurde.  

Horror-Fund … Passanten entdecken stark verstümmelte Leiche in renommierter Grünanlage … Mordkommission ermittelt … Zeugen werden gesucht … Erste Obduktionen ergeben einen Todeszeitpunkt von vor circa zwei bis drei Jahren. Mit schwitzigen Händen drehte Emma den eingeklebten Zeitungsausschnitt um. Luft, Emma. Du musst atmen! Sie wollte überprüfen, wann der Artikel veröffentlicht wurde, doch sie konnte nichts finden. Enttäuscht blätterte sie weiter und weiter. Auf jeder Seite war im Wechsel jeweils ein Zeitungsartikel oder ein Polaroid zu sehen, auf dem sie zusammen mit ihrer Mutter abgelichtet wurde. Alles erstunken und erlogen! Und trotzdem fehlte sie ihr!

Sandria! Emma brauchte nicht lange darüber nachzudenken, wer für das Album verantwortlich war. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und schickte ihrer Tante ein Foto. Mit den noch immer zittrigen Fingern tippte sie: Fick dich, Sandy-I’m-your-candy! Gerade als Emma die Nachricht abschicken wollte, begann es, hinter ihr zu rascheln. Sie drehte sich zu dem Geräusch um, wobei sie ihr Handy auf das Display fallen ließ. »So eine Scheiße!«, zischte Emma. Doch die Wut über ihr kaputtes Handy hielt nicht lange an, als ein weiteres Geräusch ertönte. Schritt für Schritt arbeitete sich Emma an das Geraschel heran und folgte ihrem Gehör.

Wie weit wird sie kommen?

Als sie an einigen alten Möbelstücken vorbeikam, die für den Sperrmüll am nächsten Morgen drapiert worden waren, drehte sie sich um die eigene Achse, sah aber nur eine Katze, die verzweifelt eine Maus zu fangen versuchte. Ein Schmunzeln war das Letzte, was man auf Emmas Gesicht sehen konnte, bevor sie plötzlich durch einen wuchtigen Schlag auf ihren Hinterkopf außer Gefecht gesetzt wurde. Hätte sie sich nur ein weiteres Mal umgedreht, wäre sie vor Schlimmerem verschont geblieben. Es folgte ein gutturaler Laut.

»Emma? Hallo? Kannst du mich hören? Sag doch was!«, flehte eine ihr sehr vertraute Stimme. What the… warum schlägt mir jemand ins Gesicht? Schmerzerfüllt versuchte Emma langsam ihre Augen zu öffnen und erkannte trotz eines verschwommenen Sichtfeldes ihre beste Freundin über ihr knien.

»Mimi? Was machst du denn hier? Was ist passiert?« fragte Emma, während sie schmerzverrerrt ihren Hinterkopf abtastete.

»Du blutest ja! Verdammt nochmal. Kann man dich immer noch nicht alleine lassen?«, verpackte Michelle ihre Sorge in einen Vorwurf.

»Wie hast du mich gefunden? Was willst du überhaupt hier? Verpiss dich doch einfach wieder zu Sandria. Ihr scheint euch ja ganz solide zu verstehen! Was hast du eigentlich so wichtiges mit eurer neuen Putze zu besprechen, dass du mich für sie im ‘Gasp’ stehen lässt? Und wieso zum Henker hat sie überhaupt deine Handynummer?«

Emma musste ihre Frage gar nicht erst weiter ausführen, da erkannte sie bereits die Reue in den Blicken von Michelle. Na klar! Sie ist die Kontaktperson. Jetzt ergibt das alles einen Sinn! Sandria vertickt die Drogen!

Emma wandte sich von ihrer Freundin ab und sammelte all ihre Kraft, um sich wieder aufzurichten. Obwohl sie den kalten Boden heute nun schon ein zweites Mal detailgetreu betrachten durfte, wollte sie nicht weiter im nassen Dreck liegen bleiben. Und schon gar nicht mit Michelle in ihrer Nähe. Mimi bekommt ihr LSD also von Sandria. Das kann doch nicht wahr sein! Enttäuscht stütze sich Emma langsam vom Boden ab und torkelte in die Richtung des fallengelassenen Fotoalbums, als sie unerwartet ein dumpfes Scheppern wahrnahm, das Emmas Aufmerksamkeit erregte und sie nun doch wieder in die andere Richtung treiben ließ.

»Ihr beiden Hübschen geht nirgendwo hin!», hörte Emma eine herrische Stimme sagen, während sie hilflos zusehen musste, wie ihrer besten Freundin ein Sack über den Kopf gezogen wurde. Ok, Emma. Das ist alles nicht real, das muss der Schlag auf den Kopf sein!

Emma begann, um Hilfe zu schreien, zumindest dachte sie daran, denn eigentlich bekam sie kein einziges Wort aus ihrem Mund. »Lass’ mich los!», versuchte sie ihren Angreifer mit schnell fuchtelnden Handbewegungen abzuwehren, der sich Emma mit rasanter Geschwindigkeit von hinten näherte. Aber Emma war zu erschöpft und dem Täter völlig ausgeliefert. So war es eine Leichtigkeit, ihr die Augen mit einem langen Stück Stoff zu verbinden und sie mit Michelle in den Transporter zu zerren.   

Alles wird gut. Der siffige alte Mann im Zug hatte es doch so gemeint. Aber der Mann hatte gelogen!

Gefesselt und geknebelt wurden die beiden Mädchen zu einem anderen Ort gefahren. Immer wieder hörte Emma ihre beste Freundin winseln. Auch wenn sie immer noch sauer auf Michelle war, sorgte sich Emma um ihre Freundin. Sie wusste, um wen es bei der ganzen Sache ging, und Michelle hatte damit absolut nichts zu tun. Sie war nur ein Kollateralschaden.

Emma wusste nicht, ob sie Stunden, Minuten oder auch nur für Sekunden im Auto lagen. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Ihre Augen brannten. Ihr Kopf pochte! Verdammte Scheiße, wo bin ich hier bloß reingeraten! Hätte ich doch bloß nie…  

Als sich die Mädchen ihrem Entführer hingeben mussten und in ein Gebäude zerren ließen, hatte Emma komplett die Orientierung verloren. So muss es sich wohl für Papa anfühlen. Retinitis pigmentosa hatte ihm nach und nach das Augenlicht genommen. Ohne Pflegepersonal hätte ich das Ganze auch nicht überstanden. Was für ihn ein Fluch war, war für mich Segen und Chance zugleich.

»Setzen!«, befahl die Stimme, die Emma so fremd und vertraut zugleich vorkam. Als eine harmonische Melodie durch den Raum tanzte, wusste Emma sofort, wo sie war. Sie konnte deutlich vor ihren Augen die drehende Ballerina ihrer Spieluhr erkennen. »So, alles erledigt, Chef!« Als Emma diesen Satz hörte, hatte sie keine Zweifel mehr.

Das ist doch Jurij, Papas Pfleger! Sandria muss ihn bezahlt haben! Jurijs Hand löste Emmas Knebel. »Was soll der Scheiß, Sandy?« Und dann ertönte das zynische Lachen von Emmas Vater. Das kann nicht sein! 

»Hast du an meine Medikamente gedacht, Emma?« Die kalte Stimme ihrer Vaters bohrte sich in Emmas Ohr wie eine gewaltige Schraube.

»Papa? Was soll das alles? Wieso?«, stammelte Emma.

»Kannst du dir das nicht denken? Dachtest du, ich würde es nie herausfinden?«

Ja, eigentlich dachte ich das!

»Gehen Sie, ich schaffe das ab jetzt allein. 50.000 Euro für Sie und das Studium ihres Sohnes, wie abgemacht!« Die Tür rastete in das Schloss ein, dann ertönte ein Klacken. »So schlecht wie die bezahlt werden, würden einige Pflegekräfte echt alles machen.« Emma spürte, wie eine knochige Hand über ihr Gesicht streichelte. »Meine liebe Tochter!« Ein Fausthieb krachte auf Emma ein. Stechender Schmerz durchfuhr ihren Körper und metallischer Geschmack bildete sich in Emmas trockenem Mund. Bei diesem Schlag war sie gegen den Spiegel ihres Kleiderschrankes geflogen, der dabei zerbrach. Pech und Unglück!

»Ich hasse dich!« Sie wunderte sich, wie ihr blinder Vater eine solche Präzision in den Fausthieb legen konnte. Ganz großer Fehler, Papa!

»Erzähl, wie hast du es angestellt?« Emma wusste, dass sie nur diese eine Chance hatte. Ich muss ihn ablenken!

»Es war ein verdammter Unfall!«, klagte sie und suchte verzweifelt nach einer der großen Scherben und begann sich dann, aus den Fesseln zu schneiden. Warmes Blut lief ihre Hände hinunter. »Wir haben uns gestritten. Mama wollte nicht einsehen, dass ich auch mal bei Freunden schlafen wollte und hat mir ständig Abführmittel in mein Essen geschüttet. Nachdem ich sie zur Rede gestellt habe, hat sie angefangen, auf mich einzuschlagen.« Als Emma es geschafft hatte, sich aus den Fesseln zu lösen, kam sie kurz ins Stocken. Ihre Hände waren blutgetränkt. Sie sprach schnell weiter. »Sie ging auf mich los! Es war das reinste Chaos. Und dann ist sie auf diesen Metallstab im Garten gefallen. Das konnte sie nicht überleben.« Langsam nahm sich Emma die Augenbinde ab. Um sie herum wurde ihr Zimmer sichtbar. Michelle lag bewusstlos auf dem Boden. Sie hatte gar nicht wahrgenommen, dass ihre beste Freundin keinen Laut von sich gegeben hatte. Emmas Vater stand mit verschränkten Armen vor ihr. In einer Hand hielt er ein Messer. Der will uns wirklich killen!

»Rede weiter!«

»Mamas Schwester, Sandria, die dir nach eurer Petersilienhochzeit wohl besser mit ihren Diensten als ‘Sandy-I’m-your-candy’ in Erinnerung geblieben sein müsste, sah sich das ganze Spektakel mit an. Sie machte mir Vorwürfe. Dann kam sie aber mit einem Deal. Als Prostituierte war ihr Leben nicht einfach.« Emma war nun weit genug an dem Schrank vorbeigerobbt, um an das eigentliche Geheimversteck, an dem sich nicht nur ihr Tagebuch befand, zu gelangen.

»Sie hat den Platz deiner Mutter eingenommen!«

»Richtig. Du hattest gerade deine OP und trotzdem dein Augenlicht komplett verloren. Die beiden waren wie Zwillinge. Wir wussten, dass du es nicht merken würdest. Und du warst mit dir selbst beschäftigt.« Als Emma das kalte Gehäuse der Waffe endlich packen konnte, atmete sie tief ein. Mach’. Jetzt. Bloß. Keinen. Fehler!

»Ich muss zugeben, dass ich einige Zeit gebraucht habe.«, gestand ihr Vater. »Aber selbst mir fällt irgendwann auf, dass es nicht die gleiche Frau im Bett ist, neben der ich zuvor jahrelang aufgewacht bin!« Vorsichtig zielte Emma mit der Waffe auf ihren Vater.

Sie ist bereit es zu tun.

»Und so wie du meine geliebte Valentina zerstückelt und ihre feinsäuberlich abgetrennten Leichenteile im Garten vergraben hast, genau so werde ich dich auch zurichten!

Deine Mutter hatte Recht: Wir hätten dich nicht bekommen sollen, denn du warst und bist unser größter Fehler, mein Liebling!«

Jeder Mensch macht Fehler. Ich war ein Kind und wusste noch nicht, was ich tat. Doch jetzt bin ich bereit, diesen Fehler zu korrigieren. Das ist meine Schuld – und es soll auch meine Schuld allein bleiben. 

Endlich ist sie angekommen.

Emma presst den kalten Lauf gegen ihren zittrigen Körper. Kein unbekanntes Gefühl. Sie nimmt einen letzten Atemzug und richtet die Pistole an ihre Schläfe fast wie in dem Film, den Mama so sehr geliebt hat.       

 

Geschrieben von Philipp Petersen und Domenica Psiuk

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