KatharinaDas Glitzern des Regenbogens

Elea hatte schon immer eine Schwäche für die Farbe Lila. Schon von klein an war es Ihre Lieblingsfarbe. Ihre liebsten Blumen waren Fliederblüten und ihre an diesem Tag geborene Tochter trug eben diesen Namen. Lila. Lila war für sie das größte Geschenk, das sie sich jemals erträumt hatte. Seit Jahren versuchten sie und ihr Mann Olli ein Kind zu bekommen. Etliche Monate und Jahre vergingen, ohne dass irgendetwas passierte. Schlussendlich verhalf ihnen der Besuch in einem Kinderwunschzentrum zu ihrem Glück und 8 Monate später war heute endlich der Tag, an dem sie ihre Tochter in die Arme schließen konnte. Die Geburt war nicht einfach. Weil plötzlich keine Herztöne mehr zu hören waren, musste ein Notkaiserschnitt durchgeführt werden, vier Wochen vor dem eigentlichen Entbindungstermin. Aber alles war vergessen, als sie beide ihre Tochter zum ersten mal sahen. Beruhigt schlief Elea ein und das letzte was sie sah, waren Olli, der über ihre Haare strich und der Strauß Fliederblüten auf ihrem Krankenhaustisch.

Elea:

Elea wachte am nächsten Tag mit Schmerzen und leichter Übelkeit auf, die Übelkeit war sie seit der Frühschwangerschaft nicht mehr gewohnt, aber sie war nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die von Ihrem Unterbauch in die Beine und den Rücken schossen. Die Ärzte hatten Sie gewarnt, dass das nach einem Kaiserschnitt auf sie zukommen würde, aber so heftig hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie fingerte nach der Schwesternglocke auf Ihrem Tisch um nach einer Schmerztablette zu fragen. Gerade so konnte sie den Alarmknopf erreichen. Sobald sie gedrückt hatte, konnte sie das klingeln aus dem Gang hören.

Hoffentlich brauchen die nicht so lang. Wenigstens ne Ibuprofen brauch ich! Ich kann ja noch nicht mal den Kopf heben, ohne dass ich denk ich verreck’ gleich!“, dachte sie sich. Sie versuchte sich wieder einigermaßen bequem hinzulegen, aber die Schmerzen ließen es kaum zu. Sie wusste nicht wie spät es war, aber die Sonne schien durch den Spalt zwischen den geschlossenen Vorhängen hindurch. Es machte den Anschein, als würde der Sommer schon Ende Juni zeigen was er kann.

Gerade als sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, ging die Tür auf und eine Schwester aus der letzten Nachtschicht kam herein, die Elea schon gut kannte. Sie sah gehetzt und müde aus. Elea fragte zwar nicht, aber Schwester Karin antwortete trotzdem auf ihren wohl fragenden Gesichtsausdruck: „Entschuldigen Sie, Frau Steiner. Bei uns herrscht absolutes Chaos, 2 Kolleginnen sind krank und eine im Mutterschutz. Grade haben wir Verstärkung aus einem anderen Krankenhaus bekommen, fragen Sie mich nicht woher. Aber die müssen von uns jetzt auch noch alles gezeigt bekommen und eigentlich muss der Rest von uns in einer halben Stunde raus, sonst kriegen wir Ärger mit dem Chef. Ich sag’s ja, ein einziges Chaos. Aber darunter sollen Sie jetzt nicht auch noch leiden. Was kann ich denn für Sie tun?“. Elea fragte nach einem Medikament gegen die Schmerzen und nachdem Schwester Karin kurz darauf mit einem Becher mit einer Tablette zurück kam, schluckte Elea diese sofort hinunter. Als die Wirkung einsetzte, konnte sie noch einmal kurz die Augen zu machen, fand aber keine Ruhe.

Elea wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Als sie sich aufrichtete, waren die Schmerzen zwar nicht verschwunden, aber deutlich leichter zu ertragen. Nachdem sie nun klar denken konnte, galt ihr erster Gedanke ihrer Tochter Lila.

Sie wollte sie sofort besuchen, allerdings konnte sie sich nur schwer vorstellen, ohne ihren Mann die Frühchenstation aufzusuchen. Er sollte jeden Moment kommen, die letzten Tage war er schon immer da, als sie aufwachte und ging erst, wenn sie schon schlief. Er war immer für sie da, egal wann sie ihn brauchte. Sie nahm ihr Handy aus der Schublade im Nachttisch und wählte den Kontakt aus.

Olli war ein wundervoller Mensch. Er hat sie immer so geliebt, wie sie eben war. Etwas verkorkst und etwas kaputt, aber absolut treu und ehrlich. Sie hatten jung geheiratet, Elea war eben erst 23 geworden und Olli stand kurz vor seinem 27. Geburtstag, als die beiden sich das Ja-Wort gaben. Danach versuchten sie lange ein gemeinsames Kind zu bekommen. 6 Jahre waren seitdem vergangen, unzählige Arztbesuche und Rückschläge mussten sie beide ertragen, bis es nun endlich soweit war und sie ihrer kleinen Tochter in die Augen sehen konnte.

Doch heute war Olli noch nicht da und sein Telefon schien aus zu sein. „Wahrscheinlich hat sein Handy wieder kein Netz! Wie oft muss ich ihm noch sagen, dass er sich endlich ein neues Handy zulegen soll?!“, murmelte Elea in sich hinein, doch sie hatte keinen Kopf, um sich Sorgen zu machen. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Gedanken, Lila wieder zu sehen. Sie machte sich deshalb erst einmal alleine auf den Weg zur Frühchenstation. Zwar langsam und immer noch unter Schmerzen von der schwierigen Geburt, doch der Wille und die Liebe trieben sie voran.

Der Weg war zwar nicht weit, doch es kam ihr vor, als wären es Kilometer. Als sie die Station endlich erreichte, war dort niemand zu sehen. Nur die Babys lagen in den kleinen Wärmebettchen. Keine anderen Eltern oder Pflegekräfte, die sich um die kleinen Würmchen kümmerten. Elea nahm nichts um sich herum war. Sie wollte nur zu Ihrer Tochter. In dem kleinen Zimmer standen acht Bettchen, in sieben davon lagen Kinder. Einige davon schliefen, andere quäkten munter vor sich hin. Elea war zum Glück nicht so viel zu früh geboren worden, dass es kritisch war und sie auf die Frühchen-Intensivstation musste, es ging ihr gut und sie sollten sich beide nur von der Geburt erholen. In ein paar Tagen dürften sie beide nach Hause, hatte der Arzt gestern gesagt.

Sie suchte die Bettchen ab, in welchem genau Lila lag, wusste Elea nicht, da Olli die Schwester gestern beim zurückbringen begleitet hatte. Sie war fasziniert, wie unterschiedlich so kleine Menschen doch aussehen und wie friedlich sie schliefen.

Nachdem sie alle Bettchen durchgesehen hatte, wurde ihr etwas mulmig. Es gab noch ein Bett, dieses war allerdings leer. Als sie näher kam konnte sie das Namensschild lesen. Lila. Und auf der leeren Matratze lag ein abgerissenes Armbändchen mit dem Namen ihrer Tochter darauf.

Elea konnte Lila nirgends finden. Sie hatte große Angst.

Sie rannte so schnell es in ihrer aktuellen Lage möglich war aus dem Zimmer und rief um Hilfe, aber keiner kam um ihr zu helfen.

Eilig schleppte sie sich die Station weiter nach hinten, sie kannte sich nicht aus und wusste auch nicht wohin sie gehen sollte. Sie suchte die Krankenschwestern, aber die Station war wie ausgestorben. In den anderen Zimmern waren zwar einige Eltern mit ihren Babys, allerdings war auch hier nirgends eine Spur ihrer Tochter oder einer Ansprechperson, die ihr helfen konnte, sie zu finden.

Die verängstigte Frau entschied sich deshalb, wieder auf ihre Station zurück zu gehen, um dort nach Hilfe zu suchen. Als sie dort ankam, stürmte sie direkt zum Schwesternzimmer. Die neue Schicht musste angefangen haben, denn keine der Krankenschwestern und Pfleger kam ihr bekannt vor. Sie ging auf einen jungen Pfleger zu, sie schätzte ihn auf Anfang 20. „Entschuldigung, können Sie mir sagen wo meine Tochter ist? Ich war gerade auf der Frühchenstation und sie ist weg, außerdem ist dort niemand und ich weiß nicht was ich machen soll…“ sprudelte es aus ihr heraus. Der Pfleger, dessen Name Paul war, wie sie auf seinem Namensschild lesen konnte versuchte sie zu beruhigen. „Ich kann gleich mal in der Kartei nachsehen, ob etwas vermerkt ist. Sagen Sie mir bitte erst einmal Ihren Namen.“ Elea nannte ihren vollen Namen. „Kleinen Moment,“ antwortete Paul, „ich sehe kurz in der Akte nach. …Moment…ich kann Ihre Akte hier nicht finden…Sie sind bei uns nicht als Patientin gemeldet, tut mir leid.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der nette Pfleger und kümmerte sich um den Ursprung des Piepens, das aus einem der Zimmer schallte.

Sie hatte die Worte zwar gehört, verstehen konnte Elea sie aber nicht. Rückwärts ging Elea den Schritt zurück, den sie im Stationszimmer stand. Sie hielt es für das beste, zu ihrem Zimmer zurück zu kehren und auf Olli zu warten. Wie in Trance torkelte sie zurück, aber als sie das Zimmer betrat, wurde ihr übel. Ihr Bett war leer und frisch bezogen. Auf dem Tisch lag nichts außer dem obligatorischen Telefon und auch die Fliederblüten waren weg. Das Zimmer sah nicht so aus, als wäre sie dort jemals Patientin gewesen. Einzig und allein ein fremdes Handy lag auf dem Bett.

Elea nahm es in die Hand, woraufhin der Bildschirm hell wurde und sich entsperrte. Als sie den Bildschirm genauer betrachtete, musste sie sich übergeben. Sie wusste nicht ob vor Schmerzen oder der Panik, die sie in sich aufkommen spürte, denn als Hintergrundbild konnte sie ein Bild ihrer weinenden Tochter erkennen.

Elea fing am ganzen Körper an zu zittern und sie fühlte sich wie versteinert. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie hatte das Handy auf „ihr“ Bett geworfen und war erst einmal ins Bad des Zimmers gelaufen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie angefangen hatte zu weinen, aber nun strömten Tränen über ihr Gesicht. Vorsichtig nahm sie das Handy mit dem furchtbaren Hintergrund erneut in die Hand und betrachtete es dieses mal genauer. Was sollte diese ganze Sache? Warum war sie in diesem Krankenhaus eine Unbekannte? Und die schlimmste Frage: Wo war ihre Tochter? Fand sie diese Antworten in dem Smartphone?

Sie entsperrte es erneut und öffnete eine der wenigen Apps, von der sie sich Hinweise erhoffte, die Kontaktliste. Leer. Kein einziger Kontakt war gespeichert. Sie schloss die App wieder. Auch sonst waren nur wenige Apps gespeichert, davon kaum eine, in der sie irgendwelche Infos zum Besitzer herausfinden könnte. Zwischen Wetter, Uhr, und den Einstellungen fiel ihr die Foto-App ins Auge. Nur hier könnte sie noch Hinweise bekommen. Auch wenn sie angespannt war und Angst vor dem hatte, was sie erwarten würde öffnete sie die App zügig und was sie erwartete, hätte sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht ausmalen können.

Der Ordner Fotos war nicht leer, sowie die Kontaktliste. Elea sah Bilder. Viele Bilder. Fotos von sich selbst an unterschiedlichsten Orten und Tagen. Sie sah sich mit ihrer Mutter im Garten ihres Elternhauses, sie konnte sich mit Freundinnen beim shoppen in der Stadt sehen und es gab Bilder von ihr und Olli. An ihrem gemeinsamen Haus, unterwegs, es gab Bilder von der Zeit als sie noch nicht schwanger war, dann Bilder als sie schwanger war und noch viele mehr. Die Fotos mussten über mehrere Jahre entstanden sein, Ihre Mutter war vor 3 Jahren an Brustkrebs gestorben und auch von ihr gab es mehrere Bilder. Aber alle hatten eine Gemeinsamkeit: auf jedem einzelnen der Bilder war Elea zu sehen.

Panik machte sich in Eleas Körper und Kopf breit, sie begann zu schwitzen und gleichzeitig fröstelte sie. Wer könnte so krank sein, dass er sie in allen Lebenssituationen fotografiert und diese Bilder über Jahre speichert, je mehr sie nachdachte, desto absurder erschien ihr die gesamte Situation. Gestern war der schönste Tag ihres Lebens gewesen und heute schien ihr die gesamte Realität durch die Finger zu gleiten.

In diesem Moment begann das Handy zu vibrieren. Durch das Eintreffen einer Nachricht wurde Eleas Aufmerksamkeit wieder auf das Handy gezogen. Sie konnte zunächst nicht erkennen, was auf dem Foto zu sehen war. Erst als sie die Nachricht öffnete, sah sie den Umriss einer Person, sie konnte nicht erkennen um wen es sich handelte. Das war allerdings nicht das verstörendste an dem Foto. Die Gestalt, die vor dem Eingang zur Frühchenstation stand, trug auf dem Arm Eleas Tochter Lila.

Das Handy vibrierte erneut. Dieses mal wurde kein Bild sondern eine Nachricht angekündigt.

Hallo Elea. Wahrscheinlich weißt du nicht wer ich bin, aber ich weiß ganz genau wer du bist. Die Bilder hast du sicher schon gesehen. Ich kenne dein Leben fast so gut wie du selbst, also versuch erst gar nicht mich zu verarschen. Ich werde dir Hinweise senden, bis du weißt wer ich bin. Du sollst wissen, wer dir dein Leben zur Hölle macht, genauso wie du mir meines zerstört hast. PS: Komm nicht auf die Idee mich zu verfolgen, das Bild ist vor über einer Stunde entstanden.“

Das war alles. Elea setze sich wieder auf das Bett, sie war schon auf dem Weg zur Tür gewesen, um den Entführer bei der Frühchenstation abzufangen. Aber war es ein Mann? Sie könnte sich niemanden vorstellen, der ein neugeborenes Kind aus einem Krankenhaus kidnapped, weder Mann noch Frau. Und vor allem niemanden der ihr so etwas antun würde. Sie hatte keine Feinde, verstand sich eigentlich mit den meisten Menschen sehr gut. Auch wenn man es in der aktuellen Situation nicht von ihr sagen könnte, war sie ein relativ fröhlicher und offener Mensch. Sie litt schon lange unter Depressionen, aber ihre Medikamente waren gut eingestellt, so dass sie seit Jahren keine Downphase mehr hatte.

Sie hatte endlich wahrheitsgetreu sagen können: „Es geht mir gut!“. Aber in diesem Moment konnte sie sich nicht vorstellen, dass alles wieder normal werden würde.

Wo blieb nur Olli? Wieso musste sie das alles alleine durchmachen? Das war eine der zentralen Fragen in ihrem Kopf. Sie entschied sich, noch einmal bei ihm anzurufen, in der Hoffnung, dass er vorhin nur kein Netz hatte. Sie suchte ihr Handy allerdings vergeblich. Wahrscheinlich hatte sie es im Stationszimmer oder auf der Frühchenstation liegen lassen. Gerade als sie sich auf die Suche machen wollte, erreichte sie das nächste Bild auf ihrem Fund-Handy. Es zeigte ein Bild von einem Krankenhauseingang. Von dem Krankenhaus, in dem Elea sich ebenfalls gerade befand. Dieses mal waren aber keine Personen zu sehen, sondern es war nur ein kurzer Text dabei: „Ich werde die Geschichte rückwärts in Bildern dokumentieren, bis du dich erinnerst.“

Als sie sich auf den Weg machte um ihr Handy zu suchen, fing Elea wieder an zu weinen. Wenn sie Olli nicht erreichen konnte, dann vielleicht ihre beste Freundin Karla. Aber dazu musste sie erst ihr Handy wieder finden. Elea ärgerte sich darüber, dass sie sich nie irgendwelche Telefonnummern merken konnte. Sie hätte zwar die aus ihrer Kindheit aufsagen können, wahrscheinlich auch wenn man sie um 3 Uhr nachts wecken würde, (wie es ihr Vater immer gesagt hatte) aber diese Nummer existierte leider schon lange nicht mehr. Und sie hatte weder die Handynummer von Olli noch von irgendjemand anderen im Kopf.

Das nächste Foto, das sie auf dem Flur der Station bekam, zeigte einen Krankenwagen von außen. Das Bild schien auf einem Parkplatz aufgenommen zu sein, der Elea zwar bekannt vor kam, aber eigentlich auch jeder Parkplatz eines Supermarktes hätte sein können. Ob es bei dem Foto um den genauen Standort ging oder um das Fahrzeug an sich erfuhr Elea nicht. Sie sah immer noch keinen Zusammenhang zwischen den Bildern. Keines der bisherigen Bilder löste etwas in ihr aus. Was wollte diese Person von ihr?

Das einzige was sie wusste war, dass sie zu ihrem Kind musste. Obwohl ihr das Laufen schwer fiel, diese Gedanken trieben sie weiter voran.

Als sie wieder am Stationszimmer war, schenkten die Pflegekräfte ihr kaum Beachtung, alle hatten viel damit zu tun, sich um die Patienten zu kümmern. Sie fragte eine der vorbeikommenden Schwestern, ob denn zufällig ein Handy gefunden wurde und mit leicht gestresstem Blick bat Schwester Beate sie kurz zu warten. Mit den Worten „Hmm, ja also ich hab hier schon eins, sieht aber nicht mehr gut aus.“ überreichte sie Elea ihr total zerkratztes Smartphone. Zudem war der Bildschirm komplett gesprungen. „Spider-App“ würde Olli sagen. Sie bedankte sich schnell und begab sich wieder auf den Weg in das Krankenzimmer. Das Handy ließ sich nicht einschalten und war für sie somit unbrauchbar.

Elea beschloss sich selbst auf die Suche nach Hinweisen und vor allem Lila zu machen. Sie verließ die Station und fuhr mit dem Aufzug in die Eingangshalle des Krankenhauses. Sie hatte immer noch ihr Krankenhaus-Hemd an, aber das war ihr egal. Im Aufzug ploppte eine weitere Bilddatei auf dem Handy auf. Sie zeigte eine Straßenkreuzung. Sie kannte die Kreuzung, sie war in der Nähe ihres Hauses. Aber was wollte ihr der Entführer sagen? Als der Aufzug anhielt, spürte sie einen starken Schmerz im Unterbauch, aber nichts konnte sie aufhalten, als sie den Anmeldebereich der Klinik betrat.

Sie überlegte, die Dame am Empfang anzusprechen, aber da sie nicht einmal auf ihrer eigenen Station bekannt war, ließ sie den Gedanken wieder fallen. Einen richtigen Plan was sie tun sollte hatte sie nicht.

Die Nachrichten kamen nun in immer kürzer werdenden Abständen bei ihr an. Die nächste zeigte erneut ein Bild der Kreuzung, dieses mal allerdings kein aktuelles Bild. Dieses musste schon älter sein. Das Neubaugebiet, das sonst im Hintergrund zu sehen sein müsste, war noch nicht im Aufbau. Auf der Straße konnte man die Überreste von Glasscherben erkennen. Kurz darauf wurde ihr wieder ein Text geschickt. Elea verschwand auf die Toilette um ihn in Ruhe lesen zu können. „Wenn du immer noch nicht weißt, um was es geht, dann ist dir sowieso nicht mehr zu helfen. Dein Kind hat es überall besser, als bei einer Mutter wie dir, die vor nichts zurück schreckt und für die Menschenleben keine Rolle spielen. Ein Leben für ein Leben.“

Mit diesen Gedanken sank sie auf den Boden. Sie landete in einer Blutlache, die aus ihrer OP-Wunde tropfe. Die Naht war wieder aufgegangen.

Elea wurde durch ein lautes Krachen geweckt, die Tür zur Toilette wurde aufgestoßen. Die Empfangsdame des Krankenhauses hatte sie in die Toilette rein- aber nicht wieder rausgehen sehen und hatte sich deshalb Sorgen gemacht. Als sie dann auf keinerlei Klopfen oder Rufe reagierte, entschied sie sich den Sicherheitsdienst zu rufen. Elea war nur kurz bei Bewusstsein. Die Schmerzen waren zu stark und sie hatte viel Blut verloren.

Das nächste mal erwachte sie erst wieder, als sie in einem Krankenbett lag. Im ersten Moment hoffte sie, dass alles nur ein Traum gewesen war, aber dem war nicht so. Ein Arzt stand mit einem Klemmbrett in der Hand an ihrem Bett. Er kam ihr nicht bekannt vor, er war keiner ihrer behandelnden Ärzte bei der Geburt gewesen.

Gut, dass Sie wach sind. Mein Name ist Dr. Rother. Können Sie mir Ihren Namen nennen?“ Elea war sehr müde, konnte kaum Antworten. „Elea Steiner.“, flüsterte sie monoton, zu keiner Emotion in der Lage. Das mussten die Schmerzmittel sein. „Was ist denn passiert?“ fragte sie. „Ihre Sectionaht ist aufgegangen, Sie haben sich wohl überanstrengt. Aber kommen wir zu meiner eigentlich Frage. Frau Steiner, Sie hatten kürzlich einen Kaiserschnitt. Können Sie mir sagen, wie Sie zu uns ins Krankenhaus kommen? Haben sie einen Partner? Und wo ist ihr Kind?“ fragte er möglichst ruhig. In diesem Moment stieg in Elea wieder die Panik auf. Sie erinnerte sich an alle Ereignisse der letzten Stunden und an noch viel mehr. Sie kannte plötzlich den Zusammenhang der Bilder und warum ihr diese bekannt vorkommen sollten.

Die Bilder der Erinnerungen ließen sich nicht aufhalten und Elea hoffte auf mehr Schmerzmittel um sie unterdrücken zu können. Aber der Verlust Ihrer Tochter wäre noch viel schmerzhafter. Sie musste sich den Szenen in ihrem Kopf stellen.

Die Erinnerungen waren lange hinter einer Blockade in ihrem Kopf verborgen gewesen. So lange, dass sie nicht einmal mehr wusste, dass sie existierten. Aber diese Mauer, die sie immer erhalten hatte, bröckelte nun, bis sie schlussendlich komplett einriss.

Elea hatte erst letzte Woche ihren 18. Geburtstag gefeiert. Sie war glücklich und fühlte sich frei. Die Schule endlich abgeschlossen, stand sie kurz vor dem Studium und mit ihrem gesparten Geld konnte sie sich endlich ein Auto leisten. Es war kein großes Auto und kein Luxus-Schlitten, ganz im Gegenteil eigentlich. Es war ein kleiner ,alter Opel, der wahrscheinlich gerade noch so durch den TÜV gekommen war. Trotzdem war er IHR erstes Auto. Sie hatte ihn gerade vom Händler abgeholt. Er war relativ günstig, so dass sie ihn sich leisten konnte und sogar noch etwas Geld übrig hatte. Noch auf dem Parkplatz rief Elea ihre beste Freundin Karla an. „ICH HAB IHN!! Ich hol’ dich ab und wir machen eine kleine Spritztour durch die Stadt, bist du dabei?“ Natürlich kam Karla mit. Elea nahm in ihrem neuen Auto platz. Sie genoss die Freiheit, nicht mehr immer einen Chauffeur zu brauchen. Sie hätte nicht gedacht, dass sie sich jetzt schon ein Auto leisten könnte, aber das Angebot des Händlers war unschlagbar und sie musste einfach zugreifen.

Im Rückspiegel sah sie den netten Verkäufer noch einmal und winkte ihm zu, bevor sie um die nächste Ecke verschwunden war.

Sie hatte Spaß, als sie die Straßen entlang düste. Bis zu Karlas Wohnung waren es nur 3 Querstraßen, aber die genoss die Fahranfängerin in vollen Zügen. Eine Rechtskurve an der nächsten Ampel und dann war sie da. Sie schaute in den Rückspiegel, und sah das Mädchen auf dem Fahrrad auf die Straße zu rauschen, das noch schnell über die gerade rot gewordene Fußgängerampel fahren wollte. Elea bremste, doch es passierte nichts und sie schoss vollkommen ungebremst auf den Übergang zu.

Sie realisierte die Situation erst, als der Aufprall und das Knirschen vorbei waren, wusste im ersten Moment gar nicht, was passiert war. Das Bremspedal hatte sich verklemmt, eine gefährliche Tatsache, die der Händler ihr verschwiegen hatte. Sobald das Auto zum stehen kam, löste sie Gurt und stiegt aus. Was sie vor sich sah, hätte einem Horrorfilm nicht ähnlicher sein können. Das kleine Mädchen lag in einer unnatürlichen Pose auf der Straße, der Helm war ihr etwas ins Gesicht gerutscht, dadurch war es zum Teil verdeckt. Passanten waren sofort zum Unfallort geeilt, in der Ferne hörte Elea, wie jemand den Notarzt alarmierte. Sie stand immer noch wie angewurzelt vor ihrem Auto, wusste nicht wie man in dieser Situation handelt. In der Abendsonne brach sich das Licht in den auf dem Asphalt verteilten Glasscherben und es sah so aus, als hätte jemand das Glitzern des Regenbogens eingefangen und versucht die Grausamkeit dieser Szene zu verdecken.

Ab diesem Punkt wurde die Erinnerung brüchig, sie hörte die Sirenen eines Krankenwagens, spürte die Trauer, den Zorn, die Angst, alles zur selben Zeit. Hatte die Gesichter von einem Paar vor Augen, sie vermutete die Eltern des Mädchen, die sie anschrieen, zerfressen von Hoffnungslosigkeit. Sie wusste, dass das Mädchen bei dem Unfall ums Leben gekommen war. Sah sich selbst im Gespräch mit Polizisten, den Unfall nachstellend auf der Wache und auf der Straße.

Das alles hatte Elea so fest in ihren Gedanken verschlossen, dass nicht einmal sie selbst Zugriff darauf hatte. Aber nun wusste sie, was passiert war und auch, wer ihre Tochter entführt hatte und wer vorhatte sie umzubringen.

Olli:

Wie jeden Tag in der letzten Woche machte sich Olli auf den Weg ins Krankenhaus, aber heute war es etwas besonderes. Seine Tochter wurde gestern endlich geboren und auch wenn es keine einfache Geburt war, war Olli unfassbar stolz auf seine Frau und überglücklich. Er hatte gestern extra noch frische Blumen gekauft, die er ihr heute mitbringen wollte. Fliederblüten waren um diese Jahreszeit nicht mehr leicht zu bekommen, aber er wollte Elea mit ihren Lieblingsblumen eine Freude machen.

Das Auto hatte er einige Meter vom Eingang weg parken müssen. Olli wunderte sich wie fast jeden Tag, dass das Krankenhaus auch so früh schon gut besucht war, aber da die Sonne schien und es nicht kalt war, genoss er den kurzen Spaziergang.

Beim Bäcker, der auf dem Weg lag, nahm er noch zwei Brezeln mit. Das war schon zu einer Art Ritual geworden. Die Verkäufer dort kannten ihn schon und hatten die Tüte schon vorbereitet. Er bedankte sich und verließ die Bäckerei zügig. Er konnte es nicht erwarten, seine Frau und Tochter wieder zu sehen.

Auf dem Weg begegneten ihm nur wenige Leute. Als er bei der Klinik ankam, sah er niemanden mehr. Olli bemerkte, dass er Eleas Blumen in der Eile im Kofferraum vergessen hatte und kehrte noch einmal um. Da bemerkte er eine Person, die hektisch das Krankenhaus verließ. Die Situation kam ihm merkwürdig vor, so dass er seinem Gefühl vertraute und ihr folgte.

In sicherem Abstand blieb er ihr auf den Fersen. Olli bemerkte die unruhige Art der Frau. Sie drehte sich immer wieder um, so als ob sie Verfolger erwarten würde.

Im ersten Moment war ihm das Baby nicht aufgefallen, doch als er nun näher kam, bemerkte er das Neugeborene.

Jetzt nahm auch die Frau Notiz von ihm.

Er schätzte sie auf Anfang, vielleicht Mitte 40. Doch das war nicht wichtig. Er stellte sich vor sie und hielt sie auf.

Die Fremde blickte zu ihm und nahm ihn jetzt erst richtig war. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Entschuldigung, was machen sie hier mit meinem Kind?“, konfrontierte er sie mit ernster Miene. Die Entführerin war sichtlich gestresst und hatte offensichtlich nicht mit ihm gerechnet. „Ähm, ich,…“, stotterte sie, „Sie hat nicht aufgehört zu weinen, da dachte ich, dass ich sie etwas nach draußen bringe.“, versuchte sie sich zu erklären. Etwas irritiert erwiderte er: „Na dann kann ich ja jetzt übernehmen.“ Nachdem er keine Reaktion bekam, nahm er der Frau sehr bestimmt seine Tochter ab. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er. Ihr Gesicht war bleich geworden und sie bewegte sich nicht von der Stelle.

Kurz darauf brach sein Gegenüber in Tränen aus. Er versuchte sie zu beruhigen, aber drang kaum durch das Schluchzen und Weinen der Frau hindurch. „Wollen wir uns nicht einen Moment setzen? Wir können über alles reden, wenn sie möchten.“, fragte er beunruhigt.

Sie nahmen auf einer Bank am Straßenrand platz, sein Kind hielt er fest an seiner Brust.

Petra Habel erzählte Olli die ganze Geschichte von Anfang an. Sie war die Mutter des vor 11 Jahren verstorbenen Mädchens, das bei Eleas Autounfall tödlich verletzt wurde. Seitdem hatte sich so viel Wut in ihr angestaut, dass sie Rachepläne schmiedete.

Sie machte Fotos von ihr und suchte einen Weg, sich an ihr zu rächen. Das Elea damals nicht Schuld an dem Unfall war, blendete die Mutter einfach aus. Als sie dann erfuhr, dass Elea schwanger war, war ihr klar, dass sie sich auf die nun getane Weise rächen könnte und ihr ebenfalls das Kind wegnehmen wird. Sie nahm einen Job als Krankenschwester in dem Krankenhaus an, in dem Elea entbinden wollte.

Während des Gesprächs versuchte Olli mehrfach die Polizei von seinem Handy aus zu erreichen. Das ältere Modell hatte in letzter Zeit immer wieder Probleme, sich in ein Netz einzuwählen. Irgendwann klappte es. Er konnte natürlich nicht direkt mit den Beamten sprechen, er wollte nicht, dass Petra Habel etwas davon mitbekam, aber das Gespräch zwischen ihm und der Schwester war für die Beamten deutlich zu hören und sollte aufschlussreich genug sein. Er stellte der Schwester Fragen, die weitere Details wie den Standort verkündeten, wie zum Beispiel: „Und sie haben deswegen meine Tochter bis hierher zum Stadtpark getragen?“ oder „Aber warum haben sie denn versucht unser Kind zu entführen? Das bringt ihre Tochter auch nicht zurück.“

Das Gespräch mit Petra Habel dauerte sehr lang, Olli konnte sie eine ganze Zeit lang in ein Gespräch verwickeln und erfuhr immer mehr Details des Plans der Entführerin. Er dachte nicht darüber nach, dass seine Frau besorgt sein könnte. Nach der OP am vorherigen Tag würde sie sowieso länger schlafen, dachte er. Ihm war nicht bewusst, was im Krankenhaus passierte. Alles was zählte, war, dass er die Frau, die sein Kind entführen wollte, solange aufhielt, bis die Polizei eintraf. Schon von weitem konnte man die Sirenen hören. Petra Habel schreckte auf. „Haben Sie die Polizei gerufen?“ fragte sie ihn fassungslos. „Frau Habel,…Petra, Sie haben versucht, mein Kind zu entführen. Es geht ihnen nicht gut. Sie sollten sich in professionelle Hilfe begeben.“ versuchte Olli die Situation zu entschärfen, doch sein Versuch blieb erfolglos. Petra Habel sprang auf und rannte los. Nicht wissend, wo sie hin laufen sollte, rannte sie geradewegs auf die Straße. Olli konnte nicht hinsehen, aber er hörte den Aufprall und die quietschenden Reifen eines Fahrzeugs, das Petra Habel bei voller Fahrt erfasst hatte.

Olli drückte Lila fest an sich. Mit zitternden Händen wählte er die Nummer des Notarztes. Währenddessen traf die Polizei ein. Er erklärte den Beamten die Situation und sie entließen ihn mit der Bitte für sie erreichbar zu bleiben.

Olli eilte zum Krankenhaus um nun endlich bei seiner Frau zu sein. Als er sie auf ihrer Station nicht finden konnte, fragte er am Empfang nach. „Station 2, Zimmer 02.13“, schrieb ihm die Dame auf.

Als er das Zimmer betrat, stand er vor seiner in Tränen aufgelösten Elea und einem Arzt, der ruhig auf sie einredete. Elea versuchte ihm zu erklären, was vorgefallen war, der Arzt tat das ganze als Nebenwirkung der Schmerzmittel ab und nahm sie nicht ernst. Alles änderte sich, als Olli mit ihrer kleinen Tochter im Arm in der Tür stand.

Elea:

Elea versuchte aufzuspringen, um ihrem Mann in die Arme zu fallen, doch der Arzt verbot ihr das Aufstehen, da die Wunde sich sonst wieder öffnen könne. Sie war überglücklich und hatte doch noch so viele Fragen. Der Arzt verabschiedete sich, er wollte später noch einmal kommen und nach ihr sehen.

Es tut mir so leid, mein Handy hat wieder nicht funktioniert. Ich dachte du schläfst noch, deshalb habe ich mich nicht so beeilt.“

Bist du wahnsinnig? Unsere Tochter war auf einmal weg und ich konnte sie nicht mehr finden. Auf der Frühchenstation war niemand, den ich fragen konnte und dann war ich plötzlich nicht mehr als Patientin registriert. Meine Sachen waren auch auf einmal verschwunden und mein Handy war kaputt.“ schluchzte sie.

Du hast es also mitbekommen. Ich dachte sie hätte dich verschont.“ Man hörte Olli den Schmerz an. Er erzählte Elea die Geschichte und beantwortete ihre Fragen. Petra Habel hatte ihre Akte vernichtet und die Daten aus dem PC gelöscht. Da sie als Schwester im Krankenhaus angestellt war, schöpfte niemand Verdacht. Elea konnte keine Schwester finden, da sich diese gerade in diesem Moment in einer kurzen Besprechung befanden, das war nicht einmal von Petra geplant, sondern reiner Zufall. Ihre Sachen hatte Petra zusammen mit der Bettwäsche in einen Wäschesack gesteckt und an die Wäscherei gegeben. Dort fiel natürlich auf, dass viele Sachen nicht zur Krankenhaus-Wäsche gehörten. Diese wurden am Empfang abgegeben und Elea und Olli konnten sie später abholen. Die Nachrichten hatte Petra bis auf die erste alle von einem Online-Programm aus geschickt. Dort konnte sie die Nachrichten und Bilder anonym versenden und die Zeiten des Versendens vorab einstellen. Die Fotos wurden deshalb auch noch während ihres Gesprächs verschickt.

Olli erzählte Elea nichts von dem Unfall, der sich ereignet hatte, sie erfuhr allerdings ein paar Tage später davon. Die Polizei bat die beiden um eine Zeugenaussage zu dem Fall, danach hörten sie allerdings nie wieder etwas davon.

Elea musste noch einige weitere Tage im Krankenhaus verbringen, damit die körperliche Wunde abheilen konnte. Sie nahm den Vorschlag der Ärzte an und begab sich in psychologische Betreuung, da sie seit dem Tag unter enormen Verlustängsten litt und ihr Kind kaum mehr aus den Augen ließ.

Trotz dem schwierigen Start konnten sie nach einigen Monaten die Vergangenheit hinter sich lassen und waren auf dem Weg eine glückliche Familie zu werden.

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