tealoDas Treppenhaus

Ein Treppenhaus konnte ein Ort sein, an dem man seine Nachbarn trifft, sich mit ihnen unterhält oder die neusten Rezepte austauscht.

Wahrscheinlich ist das in einer Großstadt Illusion, denn vermutlich kennen die meisten nicht mal den Nachbarn von gegenüber.

Man verlässt das Haus in aller früh, kommt gegen Abend wieder nach Hause und ist froh, niemandem zu begegnen.

Und dennoch hat so ein Treppenhaus schon immer eine gewisse Faszination auf mich gehabt.

Als Kind stellte ich mir vor, was sich wohl hinter den gleich aussehenden Türen verbergen könnte, welche Menschen dort lebten und welche dunklen Geheimnisse sie bargen.

Die Wahrheit ist, dass sich hinter meiner Tür nur ein langer dunkler Flur befindet und das nicht, weil er besonders mysteriös ist, sondern weil ich es einfach nicht schaffe, mir eine neue Glühbirne für die Deckenlampe zu kaufen. Auch der Rest meiner Wohnung schreit nicht nach Sensation. Im Gegenteil findet man hier die komplette Standard-Ikea-Einrichtung – und mich. Nur mich.

Vielleicht verberge ich doch etwas, denn im Gegensatz zu meiner Arbeit im Kinderheim, bei der ich momentan versuche meinen Teenager Mädels zu erklären, dass sie wunderschön sind und sich nicht für ihre männlichen Altersgenossen verändern müssen, bin ich privat eine eher unsoziale Person.

Vor drei Jahren hatte ich einen Hamster, doch der hat es irgendwie aus dem Käfig geschafft und ist an einer Kugelschreiberkappe erstickt. Ich schaffe es nicht einmal, dass meine Kakteen gedeihen – den Versuch Orchideen am Leben zu halten, habe ich schon längst aufgegeben.

Meine Dating-Profile habe ich gelöscht, nachdem einer der Jugendlichen mir ein Match gab. Dieser Moment war nicht nur schockierend und peinlich für mich, sondern hätte mir fast den Job gekostet, nachdem ich dort nur drei Wochen angestellt war.

In den ersten Jahren meiner Arbeit im Heim lernte ich sehr viel über meine Klientel, meine Kollegen, mich selbst und die Männerwelt da draußen. Denn scheinbar schreckte es sie ab, dass ich Erzieherin in einem Heim bin.

„Ich dachte, du spielst mit kleinen Babys“, sagte einer mal, als ich ihm erläuterte, dass mein Berufsfeld grundsätzlich nicht auf Krippe und Kindergarten beschränkt sei und mit welchen Situationen man in einem Heim konfrontiert werden konnte.

Es blieb dann bei dem ersten Treffen und auch seine Nachfolger waren spätestens nach einigen Wochen von meiner Schichtarbeit und den Wochenenddiensten abgeschreckt.

Und so gewöhnte ich mich daran, allein zu sein. Allein mit meinen Ikea-Möbeln, den welken Kakteen auf dem Fensterbrett und dem dunklen Flur. Allein mit dem Staub auf dem Regal und meinen Gedanken.

Der Wecker klingelte und ich schreckte auf. Müde murrend tastete ich im Halbdunkel nach meinem Nachttischschrank und stieß dabei das ohrenbetäubend lärmende Monster herunter. Mit einem lauten blechernen Scheppern, zerschellte das Ungetüm auf dem Boden.

„Verdammte Scheiße!“, fluchte ich. Erneut tastete ich nach dem Schränkchen. Dieses Mal auf der Suche nach der Lampe. Ich blinzelte und rieb mir die Augen. Ein Morgenmensch war ich definitiv nicht. Als ich mich aufrichtete und meine Füße aus dem Bett zum Boden streckte, hatte ich das Schlachtfeld, welches sich dort befand, schon längst vergessen und trat, wie es kommen musste, genau hinein. Das kann doch alles nicht wahr sein! Ausgerechnet heute…

Schnellen Schrittes versuchte ich in die Küche zu humpeln und knipste den Schalter für den Wasserkocher an. Immerhin gibt mir mein Tee dieses wohlig-warme Gefühl von Liebe, wenn es schon kein Kerl schafft…

Zehn stressige Minuten später, in denen ich meinen Fuß versorgt, mich geduscht, angezogen und den Tee in eine Thermoskanne gefüllt hatte, warf ich meine Wohnungstür zu. Sie glich den anderen im Flur und verbarg doch eine völlig andere kleine Welt. Zwei Stufen mit einmal nehmend, sprang ich durch das Treppenhaus und obwohl ich beobachtet wurde, begegnete ich dabei niemandem.

„Was ist denn mit dir los, Anna? Du siehst furchtbar aus.“ Normalerweise mochte ich die absolute Ehrlichkeit von Jacob, doch heute hatte ich dafür keinen Nerv.

„Vielen Dank!“, erwiderte ich sarkastisch.

„Wie dem auch sei… Möchtest du erst die guten, oder die schlechten News hören?“, fragte er mich mit einem Augenzwinkern. So schlecht konnten die Neuigkeiten also nicht sein.

Jacob ist der Chef unserer Einrichtung und das, obwohl er mit seinen fünfundzwanzig Jahren kaum älter ist, als ich. Vermutlich wollte sich aber sonst niemand dieser Meisteraufgabe stellen.

Er fuhr sich mit seiner linken Hand durch die kurzen dunkelbraunen Stoppeln auf seinem Kopf.

Jacob wusste, dass er gut aussah und unsere Mädels sahen das genauso. Es gab regelmäßig gebrochene Herzen, wenn er sie mit seiner professionellen Art abwies.

„Bitte erst die schlechte, ganz schnell“, antwortete ich.

„In Ordnung. Also es ist so, dass wir den Ausflug ins Grüne für heute abgesagt haben, da der Wetterbericht Regen angekündigt hat…“

„Und die…“ wollte ich gerade ansetzen, als Jacob schon weiter erzählte.

„Die gute Nachricht ist, dass ich mir schon einen Plan B überlegt habe: Wir fahren mit den Kids ins Schwimmbad und gehen anschließend Burger essen. Die Tische habe ich gerade eben reserviert. Es geht also alles klar.“

Dieses verschmitzte Grinsen, das ein kleines Grübchen auf der linken Wange zum Vorschein brachte, war schon verdammt süß. Mist! Was denke ich denn da?

„Na schön. Dann eben keine Wanderung durch den Harz. Kommt mir eigentlich ganz gelegen. Ich bin heute Morgen in die Scherben meines Weckers getreten“, sagte ich.

Jacob sah auf meine Füße. „Ich kenne mich mit der modernen Kunst absolut nicht aus, aber bei „Junk Art“ solltest du lieber aufpassen.“ Er entsicherte die Tür zum Büro und gab mir die Schlüssel für den Kleinbus.

Als wir den Kids verkündeten, dass wir wegen des Wetters nicht wandern, sondern schwimmen und Burger essen würden, waren alle mehr als begeistert. Selbst die, die vor einigen Minuten noch wegen Kopfschmerzen oder Übelkeit klagten und baten, im Haus bleiben zu können. Wunder geschehen immer wieder.

Vier Stunden später standen wir alle völlig erschöpft am Ausgang des Burger-Restaurants, schauten hinaus in den strömenden Regen und zu den aschgrauen Gewitterwolken.

„Der Himmel weint ganz doll“, bekundete Emily traurig, ihre Unterlippe leicht nach vorn geschoben. Sie war mit acht Jahren unsere Jüngste und presste ihre Nase gegen die Scheibe.

„Weil du nicht aufgegessen hast, du Pappnase“, antwortete Jim und schob sie unsanft zur Seite, um ebenfalls sein Gesicht gegen das Glas zu drücken. „Wann gehen wir denn endlich? Oder wollen wir hier warten, bis wir Wurzeln schlagen?“

Der Slang der Jugendlichen war meist obszön, doch Jim nutze nur Redewendungen von seinem großen Bruder, zu dem er aufsah und das sorgte immer für Momente zum Schmunzeln.

„Da! Der Himmel bricht auf!“, sagte er nun und knallte mit seinem Zeigefinger mehrfach gegen das Fenster, was uns böse Blicke eines Kellners einbrachte.

Aber er hatte recht. Die Wolken gaben einen Blick auf den blauen Himmel dahinter frei und auch die ersten Sonnenstrahlen ließen nicht auf sich warten.

„Na dann mal los. Nutzen wir die Chance und gehen zum Bus“, sagte Jacob, während er die Tür aufhielt und uns alle mit einer wedelnden Armbewegung hinauslotste.

„Frau Gallehn? Jim will mit dir reden. Allein, sagt’er.“

Ich hatte meine Jacke noch nicht einmal ausgezogen, da wurde ich schon von Lisa aus dem Büro geholt. Wenn einer meiner Jugendlichen mit mir unter vier Augen sprechen wollte, dann hieß das oft nichts Gutes. Doch keiner vermochte zu ahnen, wie schlimm es für mich werden würde.

Ein „Kieb Aut“ Plakat, sollte nicht nur die anderen Jugendlichen, sondern vor allem die Erzieher vom Eintreten abhalten. „Jim? Ich bin’s“, sagte ich, nachdem mein Anklopfen auf keinerlei Reaktion gestoßen war. Wir hatten zwar Generalschlüssel, die uns im Notfall den Zugang zu den Zimmern verschafften, aber soweit keine Gefahr drohte, benutzen wir sie nicht. Ich wog das Schlüsselbund in meiner linken Hand, während ich mein rechtes Ohr gegen die Tür presste.

„Jim? Du wolltest mit mir sprechen?“ Schritte. Im Türschloss wurde der Schlüssel gedreht. Ich schritt zurück. Durch einen kleinen Spalt konnte ich ein Auge erkennen, dahinter war das Zimmer wie ein schwarzes Loch. Das Auge visierte mich. Unheimlich. Ging es mir durch den Kopf.

Dann ging die Tür weiter auf und Jim winkte mich stumm hinein. Nur eine kleine Taschenlampe, die auf dem Fensterbrett lag, erleuchtete das Zimmer. Meine Augen musste sich erst an die Lichtverhältnisse gewöhnen. Jim folgend, setzte ich mich auf den Schreibtischstuhl.

„Also, was gibt es denn? Ist alles in Ordnung?“, fragte ich vorsichtig.

Er nickte, hielt inne und schüttelte dann den Kopf.

Irgendetwas stimmt hier doch nicht. Was war los? Er war doch sonst nicht so… geheimnisvoll.

Jims Kopf war gesenkt, seine Augen blickten wirr und scheinbar nervös über den Boden.

„Es gehört mir gar nicht. Hab’s nur gefunden…“

Verwirrt schwieg ich. In meinem Kopf überschlugen sich die Möglichkeiten: Kippen? Alkohol? Drogen? Irgendein anderes Diebesgut?

„Was hast du gefunden, Jim?“

Seine Augen glitzerten, als er mich ansah. Dann schob er sein Kopfkissen beiseite und nahm einen kleinen schwarzen Gegenstand in die Hand. Bedächtig schaute er es an. Es schien, als würde er überlegen, ob es das Richtige war, was er tat, oder ob er die Situation noch rückgängig machen konnte.

Schließlich reichte er mir das Objekt.

Meine Finger umschlossen den dunklen, kalten Kunststoff. Ein Handy.

Erst war ich erleichtert, dass es sich nicht um Drogen handelte, aber dann wurde mir bewusst, dass ich mit meiner letzten Annahme wohl richtig lag.

„Ich habe nichts damit zu tun. Frau Gallehn. Ich schwöre!“

Eine Träne kullerte über seine rechte Wange.

„Nun hör mal Jim. Wenn du dieses Handy hier gefunden hast, dann bringen wir es zum Fundbüro. Der rechtmäßige Besitzer wird sich melden und es abholen. Kein Grund zur Sorge. Wo hast du es denn gefu…“

Völlig perplex hielt ich inne, als Jim vom Bett aufsprang, seine Jacke schnappte und schluchzend aus dem Zimmer stürmte. Merkwürdig.

Ich starrte auf das Handy in meiner Hand. Zögerte. Sollte ich…? Nein!

Nachdem ich das Zimmer von Jim verlassen und abgeschlossen hatte, stand ich im Büro und hielt noch immer das Smartphone in meinen Händen. Irgendwie war mir nicht wohl bei der Sache. So als würde man allein bei Dämmerung durch den Wald laufen, sich beobachtet fühlen und in jedem Schatten und Rascheln einen Angreifer vermuten.

Klick. Mein Daumen war wie automatisch über die Start-Taste gewandert.

Der Bildschirm leuchtete auf und im selben Moment setzte mein Herz einen Schlag aus.

Was? Das kann nicht… Was soll denn das?

„Jim?“, rief ich, doch niemand antwortete mir.

Ich setzte mich. „Es gehört mir gar nicht. Ich habe nichts damit zu tun. Frau Gallehn. Ich schwöre!“, schwirrten mir Jims Worte erneut durch den Kopf.

Erneut drückte ich auf die Start-Taste. Erneut leuchtete das Display auf.

Doch es gab keine Zweifel. Mein Gehirn hatte mir nichts vorgespielt, meine Augen mich nicht getäuscht. Auf dem Sperrbildschirm war ein Foto zu sehen. Eine junge Frau. Ihre Augen geschlossen. Das Gesicht blutverschmiert. Mein Gesicht.

„… Tagträumerin. Anna? Was ist denn heute mit dir? Anna?“

Jacob hatte seine Hand auf meine Schulter gelegt und schüttelte mich sanft, als ich aus meiner Starre erwachte.

„Ich… Oh, tut mir leid… Ich…“ Das Gewicht des Smartphones lag noch schwer in meiner Hand. Immer noch verwirrt, suchte ich meine Tasche und ließ das Handy schließlich hineingleiten.

„Du brauchst dringend Urlaub! Oder leidest du unter den Schmerzen deines Wecker-Unfalls?“

„Nein, nein! Ich… war nur in Gedanken versunken. Es ist alles in Ordnung. Werde dann mal nach den Kids schauen…“ Schnell wollte ich mich der Situation entziehen und versuche an Jacob aus dem Büro zu schlüpfen, doch er hielt mich am Arm fest und schaute mir tief in die Augen, als ob er meine Gedanken lesen oder meine Seele scannen wollte.

Zwanghaft versuchte ich ein Lächeln aufzusetzen, während ich an das blutüberströmte Bild von mir dachte.

Er lockerte seinen Griff und ließ mich gehen.

„Was wollte Jim denn eigentlich? Er ist vorhin an mir vorbeigesprintet, als hätte er einen Geist gesehen.“

„Jim. Er. Liebeskummer! Er hat Liebeskummer. Macht sich Sorgen, dass er… dass er nie eine Freundin bekommt…“

Die Stille meiner Wohnung, die normalerweise eine entspannende Wirkung auf mich hatte, schien jetzt ihre kalten Hände um meine Kehle zu legen und drohte mich zu erwürgen.

In den letzten Stunden hatte ich mehrfach auf das erleuchtete Handydisplay gestarrt, um irgendeinen Hinweis auf den Besitzer zu bekommen. War das ein blöder Scherz von Jim? Nein! So etwas würde er nicht tun. Zum einen war er nur gegen seine Altersgenossen aufmüpfig und zum anderen kannte er sich mit Technik nicht besonders gut aus. Dass es sich um eine Fotomanipulation handelte, war mir schnell klar geworden. Aber wer sollte sich wegen eines Scherzes so viel Mühe bereiten? Wenn es kein Foto von mir gewesen wäre, dann hätte ich nicht mit Sicherheit sagen können, dass es unecht war. Aber von mir gab es solche Bilder nicht! Ich hatte nie einen schweren Unfall gehabt, bei dem ich so aussah.

Ob es auf dem Handy noch weitere Fotos von mir gab?

Bisher hatte ich es nicht gewagt, eine PIN auszuprobieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich die vierstellige Ziffer erraten würde, lag sehr gering. Und doch zog ich es nun in Erwägung.

Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass die meisten ihr Smartphone mit der Zahlenfolge 1234 sicherten, also tippte ich diese Kombination ein.

Fehlanzeige.

Das Geburtsdatum des Besitzers kam mir als Nächstes in den Sinn. Aber da ich nicht wusste, wem das Handy gehörte…

Wie ferngesteuert gab ich vier Zahlen ein, die mich seit dem Beginn meines Lebens begleitet hatten. 1796. Mein Daumen schwebte zitternd über der Bestätigungs-Taste. Ich starrte das Handy an.

Dann drückte ich darauf.

Nichts.

Gerade wollte ich erleichtert aufatmen, als sich das Display veränderte und mich ein neues Hintergrundbild anstarrte.

Jemand schrie und vor Schreck ließ ich die Höllenmaschine aus meinen Händen fallen.

Erst nach einigen Minuten, erkannte ich, dass der Schrei aus mir gekommen war. Ich hatte den schwarzen Kasten nicht aus den Augen gelassen, doch er lag mit der Frontseite nach unten auf dem Boden. Langsam näherte ich mich und griff das Gerät mit zwei Fingern, als ob es mit Viren verseucht wäre und mich dies vor einer Infektion schützen würde.

Ein langer Riss zog sich einmal quer von der linken oberen zur rechten unteren Ecke.

Mist! Wenn es jetzt nicht mehr funktioniert? Oder… wäre das vielleicht das Beste?

Zum tausendsten Mal an diesem Tag drückte ich auf die Start-Taste und war kurz erleichtert, als mein Gesicht angeleuchtet wurde.

Nun konnte ich mir das zweite Horror-Bild genauer ansehen. Und es gab keine Zweifel. Auch dieses Mal handelte es sich um ein Foto von mir. Meine Augen waren nach hinten verdreht, sodass man nur das Weiß des Augapfels sehen konnte. Einer meiner Arme fehlte entweder gänzlich oder war auf unnatürliche Weise hinter meinen Rücken gedreht. Meine Klamotten zerfetzt, wie nach einem schweren Unfall … und Blut. Überall Blut.

Stumm liefen Tränen über mein Gesicht. Welcher Mensch konnte nur so krank sein? Wer wollte mich mit diesen abscheulichen Abbildungen erschrecken? Und warum?

Die gesamte Nacht hatte ich kein Auge zugemacht. Falls ich doch in eine Art Dämmerzustand verfiel, ließen mich grauenvolle Bildfolgen von blutigen Frauen aufschrecken.

Am nächsten Morgen meldete ich mich krank und bekundete, dass ich meinen Fuß vom Arzt abchecken lassen wollte.

Ich musste herausfinden, wem dieses Handy gehörte, also verbrachte ich den gesamten Vormittag damit, alle Dateien durchzustöbern. Ohne Erfolg.

Es gab noch einige Ordner mit ähnlichen Bildern von mir, aber sonst keine Hinweise auf den Besitzer.

Sollte ich damit zur Polizei gehen? Es wegwerfen? Vergraben? Vergessen?

Verzweifelt starrte ich den Sperrbildschirm an. Immer noch lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich musste mir Hilfe holen, mit jemandem darüber sprechen! Jacob. Er kennt sich mit der Technik aus und kennt bestimmt eine Möglichkeit, den Eigentümer zu orten!? Außerdem ist er mein Chef und irgendwie hat das Ganze auch mit dem Heim zu tun, schließlich habe nicht ICH das Smartphone gefunden, sondern Jim.

Es klingelte. Schockiert hielt ich den Atem an. Doch es war nicht das fremde, sondern mein eigenes Handy, auf dem ein Anruf einging. Wenn man vom Teufel spricht.

„Hey, ich bin’s. Du, hör mal. Ich weiß, dass du heute deine Ruhe brauchst, aber mir ist da noch eine Sache eingefallen, die ich total vergessen hatte. Die Anti-Mobbing-Kampagne. Wir haben den Werbedeal bekommen! Und ich dachte, da du bei uns hier in den letzten Wochen so eine gute Motivationsrednerin für die Mädels warst, könntest du auch die Präsentation halten? Die ist allerdings schon dieses Wochenende. Bekommst du das hin? Bitte! Ich glaube an dich!“

„Ja… also… Ich… Ich weiß nicht, ob… ob ich das schaffe“, stotterte ich.

„Klaro! Wenn es jemand hinbekommt, dann du! Ich maile dir einfach mal die Daten und du überlegst es dir. In Ordnung?“

„Ich seh es mir an. … Jacob? Es gibt da noch etwas, über das ich mit dir reden muss. Vielleicht könnten wir uns mal treffen? Heute Abend?“

„Anna, wenn du mich um ein Date bitten möchtest, dann sag das doch einfach.“

Unglaublich. Selbst durch das Telefon konnte ich sein Lächeln und sogar ein Augenzwinkern heraushören.

„Nein, es….“

„Ich muss los, Anna. Hier geht schon wieder alles drunter und drüber. Bis nachher!“

Das ist kein Date! Es ist ernst…

Um mich ein wenig abzulenken, startete ich den Computer und beschäftigte mich einige Zeit mit der Kampagne. Es ging darum, Werbung zum Thema Mobbing zu machen. Besser gesagt, auf die Probleme der Opfer aufmerksam zu machen, die Helfer zu stärken und alle Beobachter zu ermutigen, sich gegen Mobbing einzusetzen. Dazu würden einige Vorträge im Rathaussaal sowie eine Spendensammlung stattfinden. Für uns als Heim war dies eine tolle und repräsentative Öffentlichkeitsarbeit.

Ich war so beschäftigt mit der Vorbereitung, dass ich die Zeit völlig vergaß und so schreckte ich zusammen, als es an meiner Tür klingelte und ich kurz darauf Jacobs Stimme durch den Flur hallen hörte.

Und dann stand er da. In meinem Treppenhaus, an meiner Tür.

Wir setzten uns auf die Couch und nachdem er mich über meinen Fuß befragt und wir etwas über die Jugendlichen und das Wetter gequatscht hatten, hielt ich es nicht länger aus.

Das Smartphone platzierte ich auf dem Tisch und begann Jacob alles darüber zu erzählen, was ich wusste, auch wenn das nicht besonders viel war.

„Und du meinst, dass dir jemand an den Kragen will?“, fragte er.

„Keine Ahnung. Aber wieso macht jemand so etwas?“

„Ich habe schon lange aufgehört die Geschehnisse auf diesem Planeten und die seltsamen Angewohnheiten der Menschen zu hinterfragen. Sicherlich ist es nur ein Scherz oder… eine Art Kunstprojekt? JunkArt?“

Da war schon wieder dieses Zwinkern in Kombination mit dem Grinsen. Verflucht.

Doch ich konnte und wollte diese Fotos nicht als Spaß abtun. Es war krank. Jemand hatte sich einen Plan überlegt, wie dieses Handy zu mir kommen konnte. Unmöglich handelte es sich dabei um einen Zufall.

„Nun mach dir darüber nicht so viele Gedanken. Die Sorgenfalten stehen deinem schönen Gesicht absolut nicht.“ Langsam beugte er sich vor. Wollte er mich etwa küssen? Jetzt? Das kann doch alles nicht war sein.

Und ehe sich meine Gedanken einig waren, hatte ich ihm schon eine Ohrfeige verpasst.

Verblüfft glotzte Jacob mich an. Dann stand er auf, schlürfte durch den dunklen Flur, nahm seine Jacke von der Garderobe und verschwand, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Mist. Verdammt. Hatte ich wirklich gerade meinen Chef geschlagen? Oder bildete ich mir das alles nur ein? War es vielleicht nur ein Albtraum? Das Handy? Die Fotos? Die Ohrfeige?

Leider hatte ich kein Glück und erwachte nicht aus einem Dornröschenschlaf. Es war real. Ich befand mich wirklich in einem Albtraum und sah keinen Weg hinaus.

Die Tage vor der Präsentation waren wie ein Rausch an mir vorbeigegangen und die anderen Sorgen begannen wie eine Nebelwolke dumpf in meinem Kopf zu verschwinden.

Ich stöpselte meinen Laptop an irgendwelche Kabel, die mir eine junge Frau gereicht hatte.

So nervös war ich schon lang nicht mehr.

Dann verdunkelte sich der Saal und ich wurde einzig und allein durch den surrenden Lichtstrahl des Beamers beleuchtet, der meinen Laptophintergrund an die Wand warf.

Mit einem tiefen Atemzug und einem Doppelklick startete ich die Präsentation.

Irgendwie sieht das aber so gar nicht aus, wie das, was ich vorbereitet habe.

Ging es mir noch durch den Kopf, als sich aus dem schwarzen Bild eine Figur herauskristallisierte. Als sich die Konturen scharf gestellt hatten, bewegte sich die Person, welche ihr Gesicht hinter einer Maske verbarg. Sie begann zu sprechen, während ich verzweifelt versuchte, das Video zu beenden.

„Anna“, sagte eine Frauenstimme und ich drehte mich zur Wand hinter mir um. In mir regte sich ein Gedanke, den ich nicht fassen konnte, bevor er wieder weg war. Woher kenne ich diese Stimme?

„Du brauchst gar nicht zu versuchen, das Programm zu beenden. Ich habe mich in deinen Laptop gehackt. Und an alle Männer im Raum, die jetzt erstaunt sind: Ja – eine Frau hat sich in einen fremden Computer gehackt, stellt euch das mal vor…

Aber kommen wir zurück zu dir Anna und dieser lächerlichen Werbeaktion gegen Mobbing.

DU hast mein gesamtes Leben zerstört! Ja, denn die ach so gute und ach so soziale Anna, die sich so liebevoll um die Sorgen der Kinder kümmert, war früher selbst eine Mobberin.

Und es ist nie nur bei verbalen Angriffen geblieben. Du hast mein Selbstbewusstsein, meine Psyche, Mich als Person völlig zerstört. Und keinen hat es interessiert. Alle waren auf deiner Seite: unsere Mitschüler, die Lehrer, ja sogar meine Eltern konnten nicht glauben, dass die Musterschülerin Anna so etwas Böses und Abartiges tun könnte.

Du hast mich gedemütigt, verletzt und zerstört. Ich musste die Schule wechseln, nachdem alle die Bilder von mir gesehen hatten. Doch weißt du was? Das hat nichts genutzt, denn das Internet kennt keine Grenzen. An der neuen Schule kannten sie die Fotos von mir, längst, bevor ich einen Fuß in das Gebäude gesetzt hatte. Und schon bald musste ich auch diese Schule verlassen, weil ich es nicht mehr aushielt. Seitdem bin ich immer noch in psychischer Behandlung. Meinen Schulabschluss konnte ich nie machen und ich trau mich nicht mehr unter Menschen.

Ich möchte, dass du leidest, so wie ich all die Jahre leiden musste und deshalb werde ich den versammelten Menschen hier im Saal mal ein kleines Video zeigen, dass ich zur Feier des Tages zusammengeschn…“

Jacob stand plötzlich neben mir und hielt zwei Kabelenden in den Händen.

Er schaute mich verblüfft an, sagte dann aber: „Es ist keinesfalls in Ordnung, falls es der Wahrheit entspricht, aber lass dir eins sagen, Anna. Was du unseren Kindern momentan zurückgibst, ist alles, was zählt. Du bist kein schlechter Mensch. Trotzdem solltest du herausfinden, wer diese Person ist und die Sache mit ihr klären.“

Unter Tränen verließ ich den Saal und rannte wie blind durch die Straßen bis vor meinen Hauseingang. Wer war diese Frau? Gehört Ihr dieses Handy? Was will sie von mir? Ich muss etwas tun…!

Mit zitternden Händen versuchte ich den Schlüssel in die Tür zu stecken und konnte dabei nicht ahnen, welche Geheimnisse das dunkle leere Treppenhaus dahinter verbarg.

One thought on “Das Treppenhaus

  1. Danke für deine Geschichte. Ich fand sie wirklich sehr spannend und deine Hauptperson und auch Jacob waren mir von Beginn an mega sympathisch.
    Ich fand den Anfang deiner Geschichte total authentisch erzählt und konnte mich sofort in Anna hineinversetzen und spüren, was sie fühlt. Das finde ich richtig toll.

    Auch die Art, wie Jim reagiert fand ich gut beschrieben. Ich war mitten im Geschehen.

    Das einzige, das mich glaube ich stört, ist, dass die Geschichte nicht ganz fertig wirkt…irgendwie fehlt mir noch was. Auch wenn natürlich, das offene Ende richtig cool ist und in meinem Kopf hundert Ideen sprudeln, was passieren könnte.

    Das Treppenhaus ist ein toller Schauplatz und die Art, wie du es so düster beschreibst ist wirklich gut.

    Falls es mal einen zweiten Teil gibt, lasse es mich wissen😊

    Wenn du noch Feedback suchst und noch nicht bei Instagram bei wirschriebenzuhause bist, dann stell doch dort mal deine Geschichte vor. Ist ja schade, wenn du kein Feedback bekommst.

    Alles Liebe für dich,

    Jenny /madame_papilio

    Wenn du meine Geschichte lesen möchtest, dann freue ich mich natürlich. Du findest sie unter “Nur ein kleiner Schlüssel”

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