SophieDas zweite Leben

Ich werde verfolgt. Von etwas oder jemanden deren schaffte sich nicht offenkundig zu zeigen. Mein Tempo stieg rasant an, damit ich die 100 Meter bis zu meiner Haustüre noch schaffe. Jetzt, nachdem ich die Türe hinter mir geschlossen habe ein ich sicher. Ich lege meine Schlüssel auf die Kommode und gebe ein lautes Hallo von mir. Marinus antwortet „Hallo“, zum Glück bin ich nicht alleine zuhause.

Es klingelt, ich renne zur Türe, mit der Hoffnung, dass  mein Paket endlicht kommt, was ich letzte Woche bestellt habe. Doch nach dem ich die Türe aufgemacht habe, sehe ich weder einen Paketboten, noch ein Paket. Das Einzige was ich sehe ist ein Handy, ein schwarzes Handy. Es ist etwas größer als mein eigenes, weshalb ich direkt ausschließen kann es verloren zu haben. Nachdem ich mich nochmals umgeschaut habe und niemanden sehe, nehme ich das Handy und schalte es an. Es ist nicht gesichert, weder ein Passwort noch ein Fingerabdruck. Auf dem geöffneten Bildschirm sind nur vorinstallierte Apps wie Fotos, Telefon, Nachrichten, Kontakte und Kamera. Ich stehe noch immer an der geöffneten Tür, während ich das Telefon Symbol öffne. Weder ein Kontakt noch ein Anruf im Verlauf. Ich gehe wieder auf den Home-Bildschirm und öffne das Foto Symbol. Darauf sind Bilder von mir. Einzig und alleine von mir! Beim groben durchschauen erkenne ich ein paar Bilder wieder. Sie sind von meinem Instagram-Account, doch es sind ebenfalls Bilder, die ich nirgendwo veröffentlicht habe, Bilder die ich während unseres Spanien Urlaubs gemacht habe und welche, die wohl heimlich von einer fremden Person fotografiert wurden. Man erkennt an den Seiten einige Blätter und Äste eines Busches. Völlig erstarrt lasse ich meine Hand mit dem Handy sinken. Bevor ich mich umdrehe sehe ich mich zur Sicherheit noch einmal um. Immer noch halb erstarrt schließe ich die Tür hinter mir und lehne mich beruhigt dagegen. Meine Beine knicken ein, ich sitze genau mit dem Rücken gegen unsere graue Haustür gelehnt, mit Blick dem Richtung Wohnzimmer, aus dem Marinus gerade kommt. Schon als er mich sieht merkt er, dass etwas nicht stimmt, er hat ein Talent dafür zu erkennen, wann es mir schlecht geht und wann ich ängstlich bin, weshalb es mir schwer fällt ihn anzulügen, wobei ein richtiges lügen ist das irgendwie nicht wenn ich sage, dass ich einfach nur diese Bestellung haben möchte, totale Hoffnung hatte und dass ich einen extrem stressigen Tag im Büro hatte. Man muss eben nicht die Details verraten. Kurz bevor er mich mit einem Schwung an meinem Arm hochziehen kann, lasse ich das Handy verschwinden, in dem ich es in die Hosentasche schiebe. Er nimmt mich in den Arm und sagt, dass wir heute nicht kochen müssen sondern uns etwas liefern lassen können. 

Während er mit unserer Pizzeria telefoniert, gehe ich kurz ins Bad, um mich frisch zu machen. Er hat mir sicherlich angesehen, dass etwas nicht in Ordnung ist, ich kann es jetzt noch in meinem Spiegelbild erkennen.

Auf dem Weg nach unten lege ich noch einen kleinen Zwischenstopp im Schlafzimmer ein, um das Handy in meinem Kleiderschrank zu verstecken und um die lästige Jeans und die Bluse endlich gegen eine Jogginghose und ein Sweatshirt zu tauschen. 

Den Abend verbringen wir ganz entspannt auf dem großen Sofa  und schauen fernsehen, während wir unsere Pizzen essen.

Die nächsten beiden Tage verliefen ohne irgendwelche Vorkommnisse, ich bin ganz normal zur Arbeit gegangen, wie immer ins Fitnessstudio und danach nach Hause. Bis jetzt! 

Es ist zehn Uhr und wir liegen schon im Bett, als ein Geräusch aus meinem Kleiderschrank kommt. Marinus dreht sich zu mir um und schaut mich an. Da ist es schon wieder ein nicht lange andauernder Ton, direkt aus meinem Kleiderschrank. Mit Schwung wirft Marinus seine Decke weg und steht auf und bewegt sich in die Richtung des Lichtschalters. Nachdem er das helle Licht eingeschaltet hat und wir beide kurz das Gesicht verzogen haben, geht er mit wenigen Schritten zu meinem Kleiderschrank.  Da ist es schon wieder, kurz bevor er die Türe mit einem Ruck aufzieht. Sein Blick ist genau in mein Chaos gerichtet. Er wohl keinen Überblick hat, deshalb dreht er sich zu mir um und fragt mich, ob ich weiß, was das sein könnte. Meine Reaktion kam etwas verzögert und war auch nur ein einfaches „unten rechts“. Die Schublade gibt beim Rausziehen ein leises Quitschen von sich. Er muss nicht lange suchen, bis er es entdeckt hat, das schwarze Handy!

Es gibt einen Grund warum ich ihm letztens nichts davon erzählt habe.

Es gibt etliche Fotos, die mich zeigen, wie ich mit sehr viel Geld von einem Bankautomaten weggehe. Er jedoch weiß, dass ich das Geld nicht von meiner Arbeit habe, da wir ein Eheleute Konto führen und dort weder so viel eingezahlt noch abgehoben wurde. 

Sein Blick wechselt zu mir, ich schaue ihn einfach nur an und schüttle mit dem Kopf. Seine Augen wenden sich von mir ab, nach unten, genau auf dem hellen Display. Er schaut mich an, nichts ahnend gehe ich auf ihn zu. Die Töne, es waren Nachrichten, die angekommen sind. 

3 Nachrichten von einer unbekannten Nummer. Ich reiße ihm das Handy aus der Hand und drehe mich weg. Beim Entsperren merke ich, dass er mir gefolgt ist. Sein warmer Atem, ich spüre ihn noch immer auf meinen Schultern, die durch das einfache Trägertop nicht abgedeckt sind. Nachdem ich mich noch ein bisschen gedreht habe, öffne ich die Nachrichten. 

Die Erste klingt noch recht harmlos ein einfaches „du hast mein Geschenk bekommen“, die Zweite macht Anspielungen auf meinen Alltag, während die Dritte und letzte, auch die längste Nachricht wie eine Drohung klingt. Die Worte, ich habe das Gefühl, sie fliegen auf mich zu und brennen sich in mein Gedächtnis ein „Höre auf mich zu ignorieren, du wirst dein Leben nicht so weiterführen wie es bis jetzt war. Ich lasse dich auffliegen! Schneller als du denkst!“ Ich lese es mehrfach, um die Worte zu realisieren. Marinus hat die Nachrichten auch gelesen, er fragt mich, was das zu bedeuten hat. Erst leise, aber dann wird seine Stimme immer lauter und aggressiver, so habe ich ihn noch nie erlebt! Er versucht mich am Oberarm zu packen, doch ich reagiere schnell und laufe mit dem Handy aus dem Raum, die Treppen runter, den Flur entlang. Von der Kommode nehme ich meine Schlüssel und verschwinde durch die Eingangstüre, mit Ziel des Autos. Marinus ist mir gefolgt, ich habe seine Schritte schon auf der Treppe gehört, wie sie sich so schnell er kann fortbewegen und jetzt sehe ich ihn auch, wie er auch raus in den Vorgarten rennt. Mit einem letzten Blick schaue ich ihm in die Augen, bevor ich die Autotüre schließe und den Motor starte. Das Handy werfe ich auf den Beifahrersitz, während ich um die Ecke biege und ihn das letzte mal sehe. 

Ich hätte nie damit gerechnet, dass dies das letzte Mal war, das wir uns sehen, dass ich ihn berührt habe und das letzte Mal, das ich seinen Atem in meinem Nacken spürte. Hätte ich gewusst wie das endet, wäre ich Zuhause geblieben und hätte ihm alles erklärt, er hätte es bestimmt verstanden, alles wäre besser als das jetzt.

Mit tränenden Augen fahre ich durch die Straßen. Alles ist leer, nur vereinzelt sieht man ein Auto auf der anderen Spur. Kurz hinter mir biegt ein dunkles Auto auf die Straße, ich sehe nur das helle Scheinwerferlicht , dass plötzlich immer schneller auf mich zu kommt. Ich bekomme Panik und muss an die Nachricht von eben denken: „Du wirst dein leben nicht so weiterführen wie es bis jetzt war. Ich lasse dich auffliegen! Schneller als du denkst!“ Dieser Satz wiederholt sich in meinem Kopf wie das Echo in den Bergen. Ich blicke panisch in den Rückspiegel, dass Auto ist immer noch hinter mir, ganz dicht hinter mir. Ich versuche zu bremsen, aber es funktioniert nicht und ich fahre direkt auf eine Kreuzung.

Ich reiße das Lenkrad herum und kann der Kreuzung ausweichen, aber rase geradewegs auf eine Laterne zu. Ich verschränke meine Arme über meinem Kopf, mit der Hoffnung dies könne mich auch nur ansatzweise schützen. Nicht mal zehn Sekunden später liegt mein Auto mit der Motorhaube um die Laterne gewickelt. Ich sehe überall Blut, der Airbag ist ausgelöst, mein Kopf tut weh. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann!

 

Meine Augen öffnen sich langsam. Meine Hände, mein Kopf, mein ganzer Körper tut weh. Oh Gott, mein Rücken, okay ich bin erst 32 aber diesen Gedanken musste ich loswerden. Ich befinde mich in einem dunklen Raum, ich bin weder zuhause, noch im Krankenhaus, was ich bei diesen unerträglichen Schmerzen auch noch als plausibel gehalten hätte, aber dort bin ich nicht. Wo um alles in der Welt bin ich?

Ich blicke mich um und das Einzige was ich erkennen kann, ist eine flackernde Halogenlampe genau über mir. Ich möchte aufstehen, um durch den dunklen Raum zu gehen und einen Ausgang suchen, doch erst jetzt fällt mir auf, dass ich auf einem Stuhl sitze. Meine Handgelenke sind mit weißen Kabelbindern, die mittlerweile eher rot von meinem Blut sind, weil sie sich in meine Handgelenke einschnüren, an eine Armlehne gebunden. Auch meine Beine kommen nicht von der Stelle, ich kann sie nicht bewegen, bei einem kurzen Blick nach unten sehe ich warum, Kabelbinder. Ich komme mir vor wie in einem falschen Film, wie den den ich letztens mit Marinus gesehen habe. Ich wünsche, ich konnte jetzt in denen Armen liegen und aus diesem Albtraum erwachen. Mit einem ziehen versuche ich mich loszureißen, doch ich unterbreche es sofort, es tut unendlich weh. 

Ein paar Meter von mir entfernt hellt ein Bildschirm auf. Eine kalte Stimme meldet sich:„Du hast mein Leben zerstört, jetzt bis du an der Reihe.“ Auf dem Bildschirm startet ein Video. Es zeigt Bilder, Bilder von mir. Diese Stimme redet weiter, es muss ein Tonband sein, dass unter das Video gelegt wurde, ich kann nämlich immer noch niemanden sehen. 

„Du wunderst dich, was du hier machst, wer ich bin und warum ich so viel über dich weiß, nicht wahr?“ Ich brülle in die Dunkelheit, in Richtung des Fernsehers: „Komm raus und zeige dich oder sage mir wenigstens, wer du bist und was ich mit dir zu tun habe!“ Die Stimme antwortet, wodurch ich bemerke, dass es kein Tonband sein kann, sondern die Person hier ist, hier irgendwo in meiner Nähe. Sie antwortet auf meine Fragen. 

„Wollen wir uns nicht erst einmal begrüßen? Hallo Amalie, oder sollte ich doch lieber sagen hallo Luna?“ Ich unterbreche sie: „Woher wissen sie das?“ gebe ich etwas leise und überrascht von mir. „Sag mal, hast du mich etwa gerade unterbrochen? Das macht man aber nicht. Lass mich weiter reden. Ich bin Nora, Nora Schwindt. Na, kommt dir der Nachname bekannt vor? Du trägst ihn auch, wenn du dich gerade mal nicht Amalie nennst.“ Ich überlege, aber ich kann immer noch nicht sagen, wer sie ist und woher sie mich kennt, woher sie das über mich weiß, dass weiß niemand, nur ich selber.

Ein lautes, ich habe dich etwas gefragt, dann darfst beziehungsweise sollst du antworten, kommt auf mich zu. 

Ein leises ja kommt aus meinem Mund. „Gut, wie ich merke, verstehen wir uns blendend, doch bevor ich dir beantworte wer ich bin, schaust du dir dieses Video an.“ 

Es startet ein weiteres Video auf dem Bildschirm mit einem schwarzen Bild am Anfang, auf dem steht „ich werde dich auffliegen lassen.“ Das Video läuft durch, nicht lange, höchstens fünf Minuten, wobei mein Zeitgefühl vielleicht auch nicht ganz richtig ist, zumal ich keine Ahnung habe wie lange ich hier schon bin oder was für eine Tageszeit gerade ist. 

Die Stimme beginnt wieder zu sprechen: „Das habe ich schön zusammengeschnitten, oder? Dein ganzes Leben zusammengefasst in einem Video.“

„Ach und bevor ich es vergesse dein einer Ehemann, Marinus schaut es sich gerade ebenfalls an, ich habe es ihm zukommen lassen, weil ich davon ausgehe, dass es ihn interessiert.“

Das hat sie nicht gemacht! Er darf das nicht sehen! Sie macht alles kaputt! Das kann nicht sein. Ich muss sofort zu ihm. Ich muss ihm alles sagen, was ich eigentlich schon viel früher hätte tun müssen. Mit einem Ruckeln versuche ich mich frei zu reißen. „Nicht doch, willst du mich verlassen? Wir beginnen doch gerade erst eine Beziehung auf zubauen. Und übrigens, du musst es nicht noch mal versuchen, du verletzt dich nur selber.“ Eine weitere Lampe geht vor einer Stahltüre an. „Siehst du, du kommst hier nicht raus, selbst wenn du dich von diesem Stuhl los reißt, bin ich dir immer einen Schritt voraus.“ 

Die Tür öffnet sich und eine Frau, ungefähr so groß wie ich, sie hat gelockte Haare und vor Wut leuchtende Augen.  kommt auf mich zu. Ihre blonden gelockten Haare, ihr Gesicht, diese Wut in ihren Augen, aber trotzdem weiß ich nicht, wer sie ist und woher ich sie kenne. Ihre Stimme, die ich eben gehört habe, ich hätte sie einer anderen Person zugeordnet, nicht ihr. Sie wirkt nett und freundlich, so einer Person würde ich normalerweise vertrauen. Sie fängt wieder zu sprechen an: „Kennst du mich wirklich immer noch nicht? Denk noch einmal genau nach, vielleicht denkst du auch mal an das zweite Haus, indem du viel Zeit verbringst unterhalb der Woche, ich würde sogar fast behaupten, indem du mehr Zeit verbringst als bei deinem anderen Ehemann.“ Mit einem kurzen Kopfschütteln gebe ich zu, dass ich sie nicht erkenne und im zweiten Zug überlege ich tatsächlich, was sie mit diesem Haus zu tun hat. Ich bewege mich in Gedanken durch die Eingangstür, den langen Flur entlang zur Küche, auf dem Weg die paar Bilder, die ich selber aufgehangen habe vor ein paar Monaten als wir eingezogen waren. Dann viel es mir ein, in einem Umzugskarton war ein Bild in einem Rahmen, mit drei Personen Lou, Chris und klar sie war auch auf diesem Bild zu sehen, glaube ich zumindest. Sie sieht heute ein bisschen älter aus, aber das könnte tatsächlich die Frau von dem Bild sein. Ich habe es damals nicht länger anschauen können, da Chris es mir aus der Hand gerissen hat, ohne das ich es mir genauer anschauen konnte. Er wich meinen Fragen aus und wechselte schnell das Thema. Er machte mir klar, dass Lou es hier lieben würde, und das wir noch den Garten einrichten müssen, das Schwimmbad, die Terrasse und das neue Klettergerüst für Lou, was direkt zu ihrem neuen Trampolin führt. Sie riss mich aus meinen Gedanken: „Na, kannst du dich doch noch an etwas erinnern, gibt sie mit einem erstaunlich freundlichem Ton von sich.“ Ich will nicht darauf eingehen, was wenn ich mich täusche. Ich denke nicht, dass sie diese Frau auf dem Foto war. Ich rede mir ein, dass sie sich einfach nur ähnlich sehen. Jeder hat doch irgendwo jemandem, der ihm ein bisschen ähnlich sieht. Mal wieder durchkreuzt sie meine Gedanken „Okay dann eben nicht, dann muss ich dir wohl auf die Sprünge helfen.“ Sie hebt ihren rechten Arm, in welchem sie eine Fernbedingung hält und dreht sich zum Fernseher um. Sie öffnet ein Bild. Das gleiche Bild, was ich bei unserem Umzug kurz in der Hand gehalten habe, jenes Bild, von dem Chris ablenken wollte. „Was hast du mit ihnen zu tun?“, meine Stimme wird laut. Ich bin aggressiv! Sie kann mich doch nicht einfach an einem Stuhl fesseln und mir irgendwelche Bilder zeigen! Ich will hier weg!

„Ach, du kannst dich also doch erinnern, du kennst diese Personen auf dem Bild also doch? Lou ist eben nicht einfach so auf die Welt gekommen! Hast du jemals ihre Mutter gesehen? Nein, natürlich nicht! Du hast mir alles genommen, mein Kind und meinen Mann!“ Ihre Mutter ist doch Tod. „Das kann nicht sein, sie können nicht ihre Mutter sein, ihre Mutter ist Tod, sie ist bei einem Autounfall gestorben, sie ist doch Tod.“ „Solche Lügen hat er dir also über mich erzählt, vielleicht bin ich für ihn eben gestorben, er ist es ja auch für mich. Aber meine Tochter ist es nicht! Sie ist mein ein und alles und wird es immer bleiben! Ich liebte meine Familie. Ich vermisse meine Tochter. Er hat mir gesagt, sie kommen mich besuchen, so oft es geht. Sie waren nicht ein einziges mal bei mir, nicht ein mal innerhalb von fünf Jahren! Ich habe Lou das letzte Mal im Arm gehabt, als sie gerade mal ein Jahr alt war, diese kleinen Hände und diese Füße. Sie hatte die gleiche Nase wie ihr Vater, aber dafür meine Augen.“ Sie hat recht, die Nase, die ist wirklich von Chris, aber woher weiß sie das? Ich glaube nicht, dass sie ihre Mutter ist, er wird mich nicht die ganze Zeit angelogen haben. Das kann einfach nicht sein, so ist er nicht. „Du wunderst dich schließlich, dass er nichts von mir erzählt hat, oder? Aber seien wir doch einmal ganz ehrlich. Weiß er von Marinus oder von Amalie? Weiß Marinus von meinem Chris und meiner Lou? Nein! Ich habe dich lange beobachtet, dich und dein Leben,  tagsüber so und abends so. Deine Geschäftsreisen, wie du die Besuche bei meiner Tochter immer genannt hast.“ „Es wird einen Grund geben, weshalb Chris nicht von ihnen erzählt hat. Er wollte bestimmt nur mit allem abschließen, wie es jeder nach einer Trennung möchte. Das ist bestimmt alles.“ „Er möchte mit mir abschließen, mit einer gemeinsamen Tochter geht das nicht so leicht, er kann sie mir nicht einfach weg nehmen und einer fremden Frau überlassen, während er mal wieder nicht zu Hause ist, weil er im Gericht hockt oder noch ganz dringend etwas in seiner Kanzlei erledigen muss. Er ist schuld daran, dass meine Tochter eine fremde Frau „Mama“ nennt und dich in den Arm nimmt und ansieht, wie sie mich anschauen sollte. Sie ist mein Kind und du bist nichts als eine Lügnerin, als eine Hochstaplerin!“ Geht sie denn etwa aus, dass ihre Tochter, die gerade einmal ein Jahr alt war, als sie verschwand, sie noch erkennen würde? Sie ist selber Schuld, Chris hätte niemals sechs Jahre ohne Frau leben können. „Er hat mich angezeigt. Er hat mich bei der Polizei verraten und dann hat er mir nicht einmal vor Gericht geholfen, obwohl er Anwalt ist wollte er mich nicht verteidigen. Er wollte meine Tochter für sich alleine, er wollte sie nicht teilen.“ 

Warum hat er sie angezeigt? Warum hat er ihr vor Gericht nicht geholfen? Er würde niemals jemanden der unschuldig ist anzeigen oder hängen lassen. Er ist perfekt, er würde so etwas nicht tun, nein, nicht er. 

„Ich habe ihm nur geholfen. Wegen seinem Vater hatte er immer schlechte Laune. Er hat sich nur über ihn aufgeregt. Er mochte ihn nicht einmal.“

Mir fällt auf, dass sie in der Vergangenheit von ihm spricht. 

„Ich wollte ihm helfen, ich wollte ihm nur helfen, indem ich seinen Vater umgebracht habe. Er wollte uns alles zerstören! Er wollte, dass Chris das alleinige Sorgerecht für Lou bekommt und er wollte uns trennen. Genauso wie du uns getrennt hast.“ Ich versuche das alles zu verstehen! „Sie haben seinen Vater umgebracht und wundern sich, dass er ihnen vor Gericht nicht geholfen hat. Er mochte seinen Vater, er hat mir oft von den Wochenendausflügen erzählt und hat mir gesagt, dass Lou auch später davon erzählen soll. So gut es geht fährt er jedes Wochenende mit ihr an den See zu seiner Bootshütte, so wie er und sein Vater früher.“

„Sei jetzt leise!“ Sie schmeißt die Fernbedienung zur Seite und holt etwas aus ihrer Hosentasche. Eine Klinge springt hervor. Sie glänzt, durch das Licht der Halogenleuchte. „Sein Vater hat uns auseinander gebracht und du hast ihn vergessen lassen, aber jetzt werde ich mir meine Tochter und meinen Mann wiederholen. Sie werden dich vergessen, genauso, wie sie mich vergessen haben.

Sie geht auf mich zu. Das Messer, die scharfe Klinge kommt immer näher.

Sie sind selber Schuld, sie haben seinen Vater und ihren Opa umgebracht. Vergessen ist einfach, aber verzeihen ist schwer. Sei still, fällt sie mich an: „Ich will das nicht, dass ist doch alles nicht wahr.“ Es ist die Wahrheit, alles ist die Wahrheit, sie sind Schuld und jetzt versuchen sie ihre Schuld auf mich zu schieben. Denken sie wirklich, dass macht sie besser und lässt sie verzeihen? Sie dreht sich um, klappt das Messer zusammen und öffnet die Tür. Sie geht. Das kann nicht sein. Ich kann es nicht geschafft haben. Das ist unmöglich. Sie hat mich in diesem Raum gelassen, aber sie ist gegangen. Was macht sie jetzt?

 

Die Türe öffnet sich wieder. Sie ist wieder da, dieses mal hat sie eine Sektflasche in der rechten Hand und zwei Gläser in der Linken. „Ich möchte gerne mit dir anstoßen. Ich möchte mit dir darauf anstoßen, dass ich meine Familie ab heute wieder meine Familie nennen kann.“ Sie stellt alles auf dem Boden ab. Das ist doch nicht möglich. Wie kann sie nur so hasserfüllt und so uneinsichtig sein? Mit einem lauten Knall öffnet sie die Flasche und schüttet etwas in die Gläser, die sie nebeneinander auf dem Boden aufgestellt hat. Nachdem sie fertig ist, stellt sie die Flasche neben sich und hält mir ein Glas vor die Nase. Ich will mal nicht so sein. Sie hält mir das Glas an den Mund, sodass ich trinken konnte, was auch in der Zeit ohne Flüssigkeit wirklich nötig ist. Eigentlich hätte ich mich mehr über ein Glas Wasser gefreut, aber trinken ist jetzt eben erstmal trinken. Sie beginnt mit ihrer anderen Hand ebenfalls zu trinken. Als beide Gläser leer sind, stellt sie beide wieder auf den Boden und greift in die Hosentasche. Da ist es wieder. Die Klinge springt auf, genau wie eben. Doch dieses mal konnte sie nicht mit ihr reden. Sie verkürzt alles, indem sie die Klinge mit Anlauf in meine Brust rammt. Ich versuche zu reden. Ich versuche zu atmen, aber nichts geht, es ist einfach unmöglich. Alles schmerzt, doch plötzlich ist alles vorbei. 

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