ChrisDein Freund und Henker

Hektisch. So sind die Menschen.

Kein Blick nach links, kein Blick nach rechts. Immer stur geradeaus.

Schade für sie.

Gut für mich.

Wer ich bin? Ich bin Erich – zumindest heute.

Ich sitze in einem dieser Szene-Cafés der Innenstadt, die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen sind. Ich habe es mir gemütlich gemacht in dem riesigen dunkelgrünen Velours-Sessel vor der Bücherwand. Die Rückenlehne windet sich wie ein Überrollbügel über meinen Kopf. Oder wie eine Welle, die kurz davor ist, mich zu verschlucken.

Ich bin nicht zum ersten Mal hier. Schon einige Tage habe ich die Leute beobachtet. Sie starren in ihre Handys, schreiben Mails und knipsen Fotos von sich selbst und ihren Getränken. Sehen und Gesehenwerden hieß es früher. Mittlerweile ist Letzteres deutlich wichtiger geworden.

Was ich hier mache? Ich warte. Auf meine Verabredung. Wenn man es denn so nennen will.

Aber da kommt er ja schon durch die Tür: Valentin von Valley. Was für ein Name. Was für ein Auftritt.

Der Anzug: maßgeschneidert. Die Frisur: geschleckt. Die Brust: breit.

Wie ich aussehe? Alt – zumindest heute.

Valentins Büro befindet sich gleich ums Eck. Oberste Etage. Penthouse. Natürlich.

Während er auf seinen Soja-Cappuccino zum Mitnehmen wartet, mühe ich mich schon mal aus meiner Sitzkuhle. Der alte Erich braucht schließlich etwas Vorsprung.

Noch nicht einmal bis zur nächsten Kreuzung bin ich gekommen, da überholt er mich schon und ich muss ein bisschen Gas geben.

Er schließt die Haustür auf. Ich bin keine zehn Meter hinter ihm.

»Verzeihung, junger Mann«, krächze ich. »Können   Sie   mir   bitte   die   Tür aufhalten?«

Ich merke, wie er kurz überlegt. So tun, als hätte ich den alten Knacker nicht gehört? Aber um mir die Tür vor der Nase zuzuwerfen, bin ich zu dicht dran. Er verdreht die Augen und wartet auf mich.

»Danke, sehr freundlich«, sage ich.

Und ramme ihm mein Messer in den Bauch.

 

¨

 

Der Blick des Kommissars streift die Flasche Korn auf dem dunklen Holztisch. Frau und Kind weg, das Leben eine einzige Tragödie. Es ist eine jämmerliche Szenerie. Der Polizist ist am Boden. Seine Hand wandert langsam zu der Dienstwaffe auf seinem Schoß…

»Nein. Warum muss im Fernsehen eigentlich jeder Ermittler ein Wrack sein? Traumatisiert, depressiv, blablabla…« Paul saß auf der Couch vor dem Fernseher und schüttelte energisch den Kopf.

»Also ich finde das sehr realistisch«, antwortete ihm seine 13-jährige Tochter Lily und streckte ihm die Zunge raus.

»Vorsicht Fräulein, sonst gibt‘s gleich keinen Filmeabend!«

»Strafandrohung – immer das Erste was euch Polizisten einfällt.« So jung und schon so aufmüpfig.

»Katrin, wann genau haben wir eigentlich bei der Erziehung von Lily versagt? Vor ein paar Jahren war sie noch so süß«, fragte Paul, diesmal an seine Frau gewandt.

»Du bist der Ermittler, also musst du das wohl verbockt haben.« Katrin zwinkerte ihm zu.

»Verschwestert euch nur wieder gegen mi…«

Er kniff leicht die Augen zusammen und legte den Kopf schief. Ein schrilles Klingeln bohrte sich in seine Gehörgänge. Erst nach ein paar Sekunden realisierte er, dass das Geräusch von seinem Handy kam.

Er kannte die Nummer. Sie gehörte seiner Kollegin Sara. Er seufzte leise und warf Katrin und Lily einen entschuldigenden Blick zu.

»Sara, ist es dringend?«

»Der Henker ist zurück.«

Die Worte schossen aus der Leitung direkt in Pauls zentrales Nervensystem. Adrenalin ließ sein Herz schneller schlagen. Er hastete zur Garderobe.

»Ich bin auf dem Weg«, sagte er, während er sich schon die Jacke überstreifte.

»Sorry, Mädels. Wir holen unseren Abend nach.«

Er küsste seiner Frau und seiner Tochter auf die Stirn und stürzte aus der Tür. 

 

Absperrband und Blaulicht ziehen die Menschen schon immer an, wie das Licht die Motten. Als Paul das Siegestor im Münchener Stadtteil Schwabing umkurvte, sah er sie schon. Die Schaulustigen versuchten vor dem aufgestellten Sichtschutz irgendwie einen Blick zu erhaschen.

Er stellte seinen Dienstwagen im Halteverbot ab und bahnte sich den Weg durch die Menge. Mit dem Polizeiausweis in der Hand verschaffte er sich Zutritt zu dem abgesperrten Bereich. Tatort war der Eingang eines edlen Bürokomplexes. Sara musterte ihn abschätzend.

»Alles in Ordnung, Paul?«

»Ähm, ja. Danke der Nachfrage, warum nicht?«

Ihr Blick glitt auffordernd von seinem Gesicht nach unten.

»Das alte Ding musst du mal loswerden.«

Er folgte ihren Augen.

»Ach du scheiße! Was ist das denn?« Sein grauer Trenchcoat war am unteren Ende in Fetzen gerissen. Das muss eben an der Garderobe passiert sein.

»Egal jetzt. Was haben wir hier?«

Mit jedem Meter, den sie dem Tatort näherkamen, pochte der Gestank deutlicher an Pauls Nasenscheidewand. Blut und Exkremente. Der Geruch einer Hinrichtung.

»Er wurde abgeschlachtet. Wieder viel mehr Stiche als nötig gewesen wären«, sagte Sara.

Paul kniete sich neben den Toten. Er konzentrierte sich und schluckte das Gefühl von Übelkeit runter.

»Wer ist das?«

»Valentin von Valley. Sohn von Viktor von Valley, dem Chef und Gründer der ›VvV Bau‹. Stinkreich und, wie soll es auch anders sein, einschlägig polizeibekannt.«

»Wieder ein Handy mit Video?« Pauls Vermutung war mehr Feststellung als Frage.

»Wieder auf der Leiche platziert, wieder von der Verhandlung, kurz nach dem Freispruch«, bejahte Sara.

»Viktor von Valley…«, murmelte Paul. »…kommt mir bekannt vor.«

»War auch ein ziemlich großes Thema. Er soll einen Jungen entführt, missbraucht und getötet haben. Gerüchten zufolge ist er dank seines Anwalts und einer Menge Schmiergeld davongekommen.«

»Bis jetzt«, stellte Paul fest, während er das schwarze Mobiltelefon in seinen behandschuhten Fingern begutachtete.

»Wieder keine Fingerabdrücke?«, fragte er.

Als Antwort schüttelte Sara den Kopf.

Das Handy ließ sich ohne Code entsperren. Wie immer bisher.

Er klickte sich in die Videoübersicht. Es war nur eine Aufnahme auf dem Gerät.

Paul drückte auf Play. Und traute seinen Augen nicht.

 

¨

 

Sie nennen mich den ›Henker‹.

Ich hatte schon immer ein Faible für die Schlagzeilen der Boulevardpresse.

Ob ich ein wahnsinniges Ungeheuer bin? Im Gegenteil.

Manchmal glaube ich, ich bin der Einzige, der noch bei klarem Verstand ist.

Die Öffentlichkeit ist sich bei dieser Frage nicht ganz einig. Manche halten mich für den verlängerten Arm des Gesetzes, andere für ein Monster, einen ›Selbstjustiziar‹.

Was ich fühle, wenn ich diese Menschen töte? Ruhe. Einen inneren Frieden. Genugtuung.

Was die Polizei und die Gerichte wegen des bürokratischen Irrsinns verbocken, bringe ich in Ordnung. Ein Land, das Steuerbetrüger härter bestraft als Kinderschänder – es braucht Menschen wie mich.

Ich räume den Dreck weg. Ich bestrafe. Ich verhindere. Ich stehe im Dienst der Gesellschaft.

Als Richter. Als Henker.

Gern geschehen!

 

¨

 

Das Video startete mit einer ruckeligen Einstellung. Zu sehen war erst nur ein gefliester, heller Fußboden. Dann stabilisierte sich das Bild. Der prachtvolle Innenraum des Münchener Justizpalastes war voll von Menschen, Kameras und Mikrofonen. Eine Reporterin strich sich ihre Haare glatt und brachte sich eilig vor der Linse in Pose.

»Viele sprechen von einem Justiz-Skandal. Valentin von Valley wurde trotz vermeintlich klarer Beweislage freigesprochen. Ihm wurde vorgeworfen im September den 12-jährigen Andreas Baum entführt und ermordet zu haben.«

Im Hintergrund wurde es lauter. Ein Gedränge begann. Die Kamera machte einen Satz nach vorne und erwischte die Reporterin fast an der Schulter. Die Menge schob sich dem großen Treppenaufgang entgegen.

Lässig herunter spaziert kam Valentin. Mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht. Sein Anwalt – halb neben, halb vor ihm – bahnte ihnen einen Weg vorbei an den Journalisten.

Etliche Fragen prasselten auf die beiden ein. Alle wurden sie mit einem »Kein Kommentar« abgeschmettert.

Pauls Hals schnürte sich zusammen. Wie dieser Kindermörder lächelnd unter den verbundenen Augen der Justitia aus dem Gebäude geleitet wurde, machte ihn wütend.

Kurz vor Ende der Aufnahme schwenkte die Kamera nach links. Die Tür ging auf und ließ das Tageslicht in die Halle. Gerade, als sich alles auf Valentins Schritte zurück in die Freiheit konzentrierte, bemerkte Paul etwas für ihn Unerklärliches, etwas Verstörendes.

Er sah eine Person im Schatten der Tür stehen. Sie trug einen Trenchcoat.

Seinen zerrissenen Trenchcoat.

 

     ¨

 

Auf die Sache mit dem Verkleiden bin ich schon vor einiger Zeit gekommen. Die Klamotten dafür habe ich mir zum Teil im Internet, zum Teil in Second-Hand-Läden zusammengekauft. Das war einfach.

Schwieriger ist das Schauspielern. Stimme verstellen, Bewegungen der Rolle anpassen. Alles, um im toten Winkel zu bleiben. Interessantes Wortspiel.

Mittlerweile ist aber auch das leichter geworden. Gelegentlich übe ich vor dem Spiegel und fühle mich, als würde ich gleich eine Bühne betreten. Tue ich ja eigentlich auch. Die Bühne des Todes.

Viermal habe ich das bisher durchgezogen. Und immer noch sind sie mir kein Stück näher. Die Polizeiarbeit krankt an Bürokratie und Bequemlichkeit.

Bei jedem Opfer riskiere ich mehr. Manchmal muss ich mich sogar bremsen, damit ich es nicht übertreibe. Der TV-Mitschnitt, den ich bei meinem letzten Einsatz zurückgelassen habe zum Beispiel. Er war länger, aufschlussreicher als die Aufnahmen zuvor. Aber wie schon erwähnt – die Menschen haben das Sehen verlernt.

Ich sehe in der Zwischenzeit weiter. Und ich beobachte. Mein Henkersknoten zieht sich schon wieder zu. Im letzten Video habe ich sogar einen konkreten Hinweis gegeben. Auf mein nächstes Opfer. Wahrscheinlich übersehen sie ihn wie üblich.

Das könnte Konsequenzen haben.

 

¨

 

Eine gute Stunde nach Verlassen des Tatorts saßen Sara, Paul und Hannes von der IT-Abteilung nebeneinander am Schreibtisch. Zum bestimmt fünften Mal sahen sie sich das vom Handy heruntergezogene Video auf dem veralteten Computer-Bildschirm an.

Niemand außer Paul hatte bislang die dunkle Gestalt am Ende des Films entdeckt. Und selbst er hatte bei dieser Qualität seine Schwierigkeiten. Am liebsten hätte er sich eingeredet, es sei alles nur Einbildung gewesen.

Aber er war sich sicher. Irgendwas stimmte hier nicht.

Es war mittlerweile zehn Uhr abends. Die letzten Stunden nagten an Pauls Nervenkostüm und noch mehr an seiner Konzentration.

Ein kreischendes Piepen erfüllte den Raum. Die drei Beamten zuckten zusammen.

»Was zum Teufel?«, rief Hannes und machte mit seinem Bürostuhl einen Satz zurück.

Pauls Handy lag auf dem Tisch und fiepte sie an.

Zeit fürs Bett‹ stand auf dem Display.

»Sorry. Das ist die Erinnerung, dass Lily jetzt ins Bett gehen muss«, entschuldigte sich Paul und knetete seine Augenlider mit Daumen und Mittelfinger.

Sara sah ihm eine Zeit lang still dabei zu.

»Geh du schon mal. Wir kommen ja gerade sowieso nicht weiter. Wir hauen auch gleich ab«, schlug sie vor.

»Sicher?«

»Ja, vielleicht kannst du Lily ja noch zudecken.« Auch ihre Stimme wirkte mit einem Mal erschöpft.

»Danke. Bis morgen.« Paul verließ gedankenverloren die Dienststelle.

 

¨

 

Endlich kommt er aus dem Büro. Es ist schon dunkel geworden.

Ich war zwar selbst etwas spät dran, aber ich hatte noch genug Zeit, um meine Stimme zu ölen. Für meinen nächsten Auftritt. Ich stehe auf einem Parkplatz in der Nähe des Haupteingangs.

Meine Rolle? Daniel von der Sicherheitsfirma.

Nebendarsteller? Der Mann im Mantel, der an den parkenden Autos vorbei seinem Wagen entgegensteuert.

Eine Weile habe ich überlegt, ob er den Strick verdient.

Aber, um im Henker-Jargon zu bleiben: Mitgehangen, mit-gehangen.

Ich steige aus und pirsche mich leise von hinten an. Mit jedem Schritt hole ich ein bisschen auf.

Kurz bevor er die Tür seiner schwarzen Limousine erreicht, mache ich auf mich aufmerksam.

»Entschuldigen Sie!« Der antrainierte Bass in meiner Stimme beeindruckt mich selbst.

Er dreht sich um. Sein Blick huscht zu dem Schriftzug ›Security‹ auf meinem schwarzen Pullover.

»Was ist denn? Ich will jetzt los.«

»Dauert nicht lang, versprochen.« Die letzten Meter gleite ich wie ein Tänzer an ihn heran, hole in einer fließenden Bewegung mein Messer aus der hinteren Hosentasche und stoße zu. Exakt so, wie ich es geübt habe. Wie ein Fechter.

Sein Gesichtsausdruck wechselt von ungeduldig zu ungläubig. Dann fängt er an zu röcheln.

»Sag Valentin in der Hölle einen schönen Gruß«, gebe ich ihm noch mit auf den Weg. Ich steche erneut zu.

Dann verabschiedet sich das Leben aus seinen Augen.

Der Anwalt ist tot.

 

¨

 

Hannes sah Sara verwirrt an. »Seine Tochter ins Bett bringen? Ich dachte…«

»Ja«, seufzte sie kraftlos. »Er hat bessere und schlechtere Momente. Seit die beiden bei dem Einbruch ermordet wurden, wechselt seine Verfassung fast von Tag zu Tag. Hast du das Hintergrundbild auf seinem Handy gesehen? Er hat die beiden immer bei sich. Mich würde das verrückt machen. Den Psychologen konnte er irgendwie davon überzeugen, ihn wieder in den Dienst zu lassen. Das hat ihn früher zu einem der besten Ermittler gemacht: Er ist extrem wandlungsfähig. Ein Meister darin, die Leute zu täuschen. Ich fürchte im Moment täuscht er aber auch sich selbst.«

 

 ¨

 

»Ich bin wieder da«, rief Paul in den dunklen Eingangsbereich des Hauses.

Seinen zerrissenen Mantel hängte er an den Kleiderständer, der an die Wand gekippt war. Den Pullover mit der Security-Aufschrift warf er achtlos daneben.

Er nahm das Foto von seiner Frau und seiner Tochter von der Kommode und gab beiden einen Kuss auf die Stirn.

»Ja Schatz, gleich kann’s losgehen«, antwortete er dem leeren, stillen Raum auf eine schon lange nicht mehr gestellte Frage.

Er kletterte über einen Pizzakarton auf die Couch. Seine Augen richteten sich auf den schwarzen TV-Bildschirm.

In der Spiegelung sah er, wie schon einige Stunden zuvor, sich selbst. Einen Polizisten – am Boden zerstört. Frau und Tochter wurden ihm genommen, sein Leben war eine einzige Tragödie.

Stumm beobachtete er sich in dieser jämmerlichen Szenerie, mehr Zuschauer als Protagonist. Das blutige Messer legte er neben die Flasche Korn auf den dunklen Holztisch. Eine Stimme meldete sich in seinem Kopf. Leise, fast nicht hörbar.

Gut gemacht. Weiter so. Einen nach dem anderen.

Er realisierte sie kaum.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich.

Und seine Hand wanderte wieder langsam zu der Dienstwaffe auf seinem Schoß.

2 thoughts on “Dein Freund und Henker

  1. Moin Chris,

    noch keinen Kommentar? Warum?

    Egal, mach ich mal den Anfang!

    Deine Geschichte ist sagenhaft! Da steckt so viel drin. Ein gut erzählter Plot mit dem Twist zur richtigen Zeit.
    Ich konnte sogar Gemeinsamkeiten zu meiner Geschichte feststellen. Aber hier geht es ja um deine Geschichte.

    Du schreibst ganz sicher nicht zum ersten Mal, oder? Du hast einen so geradlinigen Schreibstil, hängt man einmal an deinen Worten, deinen Sätzen ist man im wahrsten Sinne des Wortes GEFANGEN! Und du lässt deine Leser dann nicht mehr los.
    Nach und Nach bereitest du uns auf das Finale vor. STARK! FESSELND, PACKEND und SPANNEND erzählst du deine Geschichte.

    Ich bin echt begeistert. Deine Charakter Skizzierung kommt authentisch rüber.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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