Thomas PlumDEIN Leben ?¿

“Herr Kovac, machen Sie endlich auf…” Inkassounternehmer Peters lässt seine Faust gegen die Wohnungstür des Bewohners donnern. 

“Ich habe Sie eben noch gehört, es nützt doch nichts.” Endlich hört Peters Schritte näher kommen, er stellt sich auf die, mit Sicherheit folgende, Diskussion ein. Es ist einfach immer dasselbe. Seine “Klienten” haben niemals die Übersicht und die Verantwortung für Ihre EIGENE finanzielle Lage. “Wie kann man nur so leben”, fragt Peters sich wie jedes Mal, wenn er seine Aufwartung machen muss. Die Türkette gibt dem Geldeintreiber den Startschuss, um noch einmal durchzuatmen. Er lockert seine Muskeln, streckt seinen Rücken und hustet einmal kräftig in die Armbeuge. Ein Ritual, dass Peters sich in seinen Jahren zugelegt hat.

Endlich öffnet sich die Tür und ein Mann mittleren Alters, steckt seinen Kopf durch die Öffnung der Wohnungstür.

“Guten Morgen.” Peters wird freundlich begrüßt. “Was kann ich für Sie tun?” 

Das linke Augenlid des Mannes zuckt. 

“Nun, Herr Kovac. Peters, mein Name. Herbert Peters, Inkassounternehmen. Norbert Kamphauser schickt mich. Sie haben sich offenbar bei den letzten Spielen ein wenig, wie soll ich sagen, verkalkuliert. Ich möchte Sie nun um Ihre Kooperation bitten.”

Das Gesicht verschwindet aus dem Türspalt. Der Moment der Wahrheit, denkt Peters, als er den nächsten Moment abwartet. Das ist der Scheidepunkt, ob es gesittet oder chaotisch weitergeht. Entweder öffnet sich die Tür, oder er muss ungemütlich werden, äußerst ungemütlich.

Die Tür öffnet sich nach einigen Sekunden und verspricht Peters weiterhin, einen guten Tag erwischt zu haben.

“Kommen Sie rein…” Kovac lässt die Tür offen und geht dem Geldeintreiber voraus durch den Schlauch seines Hausflures. Vorsichtig setzt Peters seinen Fuß in den Flur und folgt Kovac. Vorbei an der Garderobe und einem Spiegel. Peters bleibt vor dem Spiegel stehen und betrachtet seine abstehenden Haare.

“Wie sehe ich denn aus?” denkt der Vollstrecker. Kurz danach bricht ein Baseballschläger seinen Schädel.

 

 

“Meine Güte, was dauert denn da so lange?” Frank starrt durch die Beifahrerseite des Mercedes auf die Einfahrt seines Hauses. Seine Töchter Lisa und Anna haben wieder den Bus verpasst… natürlich. Vorwerfen kann er den beiden die lahmarschige Art, welche die “Trantüten” an den Tag legen, nicht. 

“Das kommt schon nicht von ungefähr…”, versicherte Franks Mutter ihm während ihres letzten Besuchs. 

Ja, das stimmt schon. Seine “kommst Du heute nicht, kommst Du morgen” Attitüde hat Frank schon oft in die Bredouille gebracht. Verpasste Abgabetermine, versäumte familiäre Verpflichtungen, enttäuschte Fans und ein rotierendes Management zeugen von seiner Schusseligkeit und seinem Hang zur Unpünktlichkeit.

Trotzdem. Dass seine Mädels sich ausgerechnet heute so viel Zeit lassen, lässt Frank verzweifeln. Taschen abklopfend, begibt Frank sich auf die Suche nach seinem Handy.

Natürlich, er hat es mal wieder im Flur liegen lassen. Dabei hatte er sich eine Routine gegen seine Schusseligkeit erdacht. Er legt sein Handy neben seinem Autoschlüssel. 

So einfach ist das. 

Und dennoch… jeden Tag sitzt er in seinem Auto- und zwar ohne Handy.

Frank reißt die Autotür auf. Wütend über sich selbst überquert er seine Auffahrt, um vor seiner Haustür stehen zu bleiben. Die Autoschlüssel… Natürlich… Die stecken inklusive Haustürschlüssel noch im Mercedes. 

Genervt läutet Frank Sturm.

“Papa, was ist denn los? Wir kommen ja schon.” Lisas Stimme dringt durch die Haustür, bevor sie geöffnet wird.

Schon ist gut” brummt Frank durch die Zähne, während er sich an Lisa vorbeiquetscht um sein Handy anzusteuern. Er greift nach seinem Handy, erwischt es nur am Rand und stößt es von der Kommode. Zum Glück tritt Anna aus der Küche und fängt es.

“Chill mal, Paps…” lacht Anna ihrem Vater entgegen, während sie ihm sein Handy zurückgibt. “Wir sind jetzt soweit.”

Entwaffnet von der Frohnatur beider Töchter, ringt Frank sich ein Lächeln ab und starrt auf sein Handy. Es ist 07:59 Uhr, was sein Lächeln erfrieren lässt.

“Na super, euer Unterricht beginnt in genau einer Minute. Das haben wir ja wieder einmal sauber hinbekommen.” Verzweifelt sucht Frank den Blickkontakt zur weisesten Frau in seinem Leben, seiner Frau Christine. Der Blick seiner Christine transportiert ihm dieses Mal jedoch nicht das “ist doch nicht so schlimm” Gefühl, sondern eher ein Gefühl von “Ihr mal wieder”. Augen rollend durchschreitet sie die Diele, gibt Frank einen Klaps auf den Po und raunzt:

“Los jetzt!” bevor sie sich der Treppe nach oben und der Dusche widmet.

“Ihr habt eure Mutter gehört, ab ins Auto.” ruft Frank den Mädels nach, die bereits über die Anfahrt zum Auto eilen.

“Reg dich bitte nicht auf, Papa” versucht Lisa ihren Vater zu beruhigen, während sie sich auf die Rückbank des Mercedes schraubt und nach dem Anschnallgurt fischt.

Ein Getöse vom Nachbargrundstück macht die letzten ihrer Worte unhörbar. David Tenner holt seinen geleerten Mülleimer vom Bordstein zurück aufs Grundstück. Frank hatte wieder vergessen, seinen Eimer an den Straßenrand zu setzen. Heute Abend kann er sich auf jeden Fall etwas anhören, stellt er fest. Er seufzt.

“Was hast du gesagt, Süße?” Frank richtet seinen Rückspiegel, welchen Christine verstellt hat.

“Ich sagte, du brauchst dich nicht aufzuregen. Wir haben heute in der ersten Stunde Sport!” wiederholt Lisa.

Frank stutzt: “Und wo genau ist dein Sportbeutel?”

Das Vergnügen in Lisas Gesicht weicht einem fragenden und anschließend sorgenvollen Ausdruck.

“Oh…”

 

 

Als Frank völlig verspätet ins Büro seines Managements platzt, wabert ihm zugleich der Dunst des Vorwurfs entgegen, gewürzt mit der Note des…

“Ach, sieh mal an. Nur eine Stunde zu spät…” Richtig: Gewürzt mit der Note des Sarkasmus. 

Angela, Franks Managerin, räkelt sich in ihrem Bürostuhl und grinst ihm entgegen.

Wie kann sie sich in diesem unbequemen Bürostuhl so räkeln, fragt Frank sich wie schon oft, während er sich ihr gegenüber setzt.

Und wieder einmal muss er sich erklären: 

“Lisa und Anna haben den Bus verpasst.” beginnt er. “Das alleine hätte mich nicht so in Verzug gebracht, aber Lisa hatte auch noch Sport und vergessen…”

Schon ab der Mitte seiner Verteidigung beginnt Angela zu feixen, jetzt aber unterbricht sie ihn mit ihrer unverbesserlichen Art.

“Jajaja, blablabla… Geschenkt, Frank.” Ihr Grinsen scheint schier festgewachsen auf ihrem hübschen, jedoch verlebten Gesicht. Frank lehnt sich zurück, korrigiert seine Sitzhaltung, bewundert die Körperhaltung seines Gegenübers und harrt der Dinge, die nun auf ihn zukommen werden.

“Vergiss es, mein Lieber. Was du selbst seit Jahren nicht an dir ändern konntest, werde ich mit Sicherheit nicht in den paar Jahren schaffen, in denen wir zusammenarbeiten.” wirft Angela ihm entgegen, während sie bereits durch ihren PC klickt. 

“Wir haben viel zu tun, Frank. Ich hoffe, du bist darauf vorbereitet.” Angela hält in ihrer Ansprache ein, schaut über ihre Brille nach oben und fixiert Frank. 

“Frank?”

Wie oft hatte er seiner Managerin und Freundin nun schon gesagt, sie solle doch DURCH die Brille schauen, statt darüber. Dieser Blick… er machte sie nicht nur oberlehrerhaft, sondern schlichtweg alt. 

Und damit, so sinniert Frank weiter, haben wir mein Problem. 

Der Grund, warum ich schusselig und unzuverlässig wirke. Ich mache mir Gedanken über Sachen, die gar nicht thematisiert werden, schweife ab und hänge meinen eigenen Gedanken nach. 

Das macht mich vielleicht zu einem guten Autor… aber auch zu einem guten Menschen? 

Wieder überkommen Frank seine Selbstzweifel, die ihn ständig dazu einladen noch abwesender zu wirken. 

Ein Teufelskreis.

“Frank!” mittlerweile hat Angela sich wieder ihrem Lineal gewidmet, mit dessen Hilfe sie es stets vermag, Frank auf den Teppich zurück zu holen. Sie lässt das Lineal auf die Tischplatte knallen.

“Tut mir leid, Angela. Ich bin jetzt bei dir!” Frank schwingt sich aus dem Bürostuhl und durchquert das Büro zur Kaffeemaschine. Angelas Kaffee ist grässlich, kein Wunder, denn immerhin dümpelt die “nur-morgens-gebraute-Brühe” den ganzen Tag in derselben Kanne vor sich hin. Aber er weckt einen müden Geist mehr als alles andere. Mit vollem Becher, findet Frank seinen Weg zurück zu seinem Stuhl.

“Was liegt an? Ich bin zu allem bereit!” grinst er Angela entgegen. Er pustet den Kaffeedampf weg.

Angela lächelt: “Na das will ich hoffen. Eine Lesetour liegt an. Lass mich mal zusammenfassen. Nächsten Donnerstag Wiesbaden, Freitag danach Mainz… schreibst du mit?”

Angela wirft Frank einen Blick ÜBER ihre Brille entgegen.

“Moment…”, Frank setzt seinen Kaffeebecher auf die Tischplatte aus Marmor, Kaffee schwappt über und kramt in seiner Aktentasche nach seinem Notizbuch. Während Frank die Suche nach seinen Schreibutensilien fortsetzt, wischt Angela mit einem Lappen den Kaffee von ihrer Tischplatte. 

Auf dem Lappen steht bestimmt mein Name, vermutet Frank. Er grinst.

“Schieß los!”, fordert Frank seine Freundin, mit einem Kuli klickend, auf. 

Wenn Angela sich doch endlich angewöhnen würde, Termine digital zu besprechen und ihn per Freigabe dazu einladen könnte, würde er sein altgedientes Notizbuch in Rente schicken können.

“Also: Nächsten Donnerstag Wiesbaden, Freitag Mainz. Montag darauf Köln, gefolgt von Düsseldorf am Dienstag und am Mittwoch Dortmund. Dann hast Du den Rest der Woche frei. Die nächsten Termine besprechen wir dann beim nächsten Mal. Die Übernachtungen zu den genannten fünf Terminen sind allesamt gebucht. Alles soweit klar?” Blick ÜBER die Brille.

Franks Seufzen als Antwort muss genügen, um sein Missfallen über Angelas Blick auszudrücken. 

Angela versteht und schaut DURCH ihre Brille. Ein Moment des Triumphes erheitert Frank.

“Soweit alles klar, liebste Angela.” grinst Frank seiner Managerin entgegen. “Gibt es in allen fünf Locations Merch-Verkäufe? Haben wir noch genug?”

“Seit wann interessiert Dich SOWAS denn?” Angela scheint verwundert.

“Naja, ich möchte nur nicht, dass Du glaubst, dass ich mich um nichts kümmere. Außerdem weiß ich dadurch, wie viel Zeit ich mir noch NACH der Lesung hinzuaddieren muss. Wegen Signierungen und Selfies etc.” Während Frank seinen Eifer präsentiert, sieht er schon den amüsierten Blick von Angela und gibt seine Bemühungen auf.

 

 

Beinahe. Ein wirklich verheerendes Wort. Es wird zwar beiläufig ausgesprochen, als Adjektiv, ändert jedoch vollständig einen Ist-Zustand. 

Beinahe hätte der Hund den Hasen erwischt, hätte er nicht gekackt. 

Beinahe hätte die alte Dame die Straße überquert, hätte ein Auto diesen Versuch nicht vereitelt. 

Beinahe wäre Christine nicht sauer auf Frank gewesen, hätte er an all seine Tourtermine gedacht und nicht nur an die ersten beiden.

Betrübt sitzt Frank im “Em Schlörres”, einer Kneipe unweit entfernt von der Lese-Location “Bürgerhaus Stollwerk”, und lässt sein Kölsch in der Stange kreisen. Es gab wieder Ärger heute morgen und er kann dieses Mal Christine auch ihren Dickkopf nicht vorwerfen. Sie hat Recht. Punkt.

Er sollte heute mit Anna zum Berufsberater-Termin der Schule und das war seit Wochen so geplant. 

Die Termine von Angela sind zwar nicht verschiebbar, aber er hätte Schlimmeres verhindern können, indem er seine Abwesenheit zeitig seiner Frau mitgeteilt hätte. 

“Beinahe” und “hätte”. Er verteufelte diese beiden Worte.

Soeben hat Frank seinen Versöhnungsversuch per Handy beenden müssen, denn Christine war einfach noch nicht so weit. 

Sie musste den ganzen Tag lang rotieren, um Franks Ausfall so gut wie möglich abzufangen. 

Sie selbst hatte einen wichtigen Geschäftstermin schon seit Monaten festgelegt und Frank, mit gutem Beispiel voran, mitgeteilt. Das Chaos und die Ordnung. Keine Frage, welcher Zustand welcher Person zugeteilt wird. Oder?

Am Ende musste Franks Mutter Roswitha mit Anna zum Termin. 

Roswitha ist vollständig in Franks Familie integriert und weiß ganz genau um die Fähigkeiten und Wünsche der Mädels. 

Es hat also alles geklappt. Trotzdem bleibt das Gefühl der Schuld in Frank und wächst und gedeiht mit Unterstützung von Christines Weigerung zu vergeben.

Es war ein toller Abend, keine Frage. Der Erfolg seines Fortsetzungsromans über Psychokiller “Detlev Trost”  mit dem Titel “Frank Schmied – Der Trost bei Nacht” ist nicht nur an den Verkaufszahlen, sondern eben auch an den ausgebuchten Lesetouren auszumachen. 

Frank hat noch fast zwei Stunden nach der Vorlesung in der Bürgerhalle verbracht, Selfies mit seinen Fans über sich ergehen lassen und Mengen aktueller “Trost-Ausgaben” sowie auch Ausgaben der Vorgänger signiert. 

Ein Fan hat ihm sogar ein abgegriffenes Exemplar seines Erstlings “Oswald”, ein fiktiver Roman aus der Sicht des mutmaßlichen Kennedy-Killers, zur Signierung vorgelegt. Das macht stolz, findet Frank.

Jetzt sitzt Frank in der Kneipe “Em Schlörres” weil ein paar seiner Fans ihn hierher eingeladen hatten und er mit seinem schuldbewussten Kopf sowieso nicht zu früh ins Hotel möchte. Schnell stellen seine Fans fest, dass mit Frank nicht viel los ist ,überlassen ihn seinen trüben Gedanken und ziehen in die nächsten Kneipen weiter. 

Frank bleibt zurück und starrt abwechselnd seine halbleere Kölschstange und sein stummes Handy an. 

Er rappelt sich auf, trinkt in einem Zug den Rest seines schalen Bieres und schmeißt sich seine Jacke über die Schulter.

“Ciao” ruft Frank dem Wirt, hierzulande Köbes genannt, als Abschied zu und wankt zum Ausgang. 

Per Google Maps hat er sich vorab informiert, dass er von der Kneipe bis zum Hotel knapp fünf Minuten Fußmarsch benötigt. Auf diesen kurzen Spaziergang freut er sich bereits seit der letzten Stunde. 

Er liebt kurze Spaziergänge, gerne auch manchmal längere, um seinen Kopf vom Ballast zu befreien.

Ob das auch bei Schuldgefühlen funktioniert, bleibt zu beweisen.

“Wells de ding Handy nit mitnehmen, udder wat?” 

Frank bleibt stehen und dreht sich zu der Geräuschquelle. Kam das vom Wirt?

“Entschuldigung… Haben Sie mit mir gesprochen?” Frank war sich nicht sicher.

“Dat möch isch minge, dat isch met dir gesprochen han. Ov de ding Handy he liet, möch isch wesse.” Der Köbes starrt Frank mit einem verschmitzten Lächeln auffordernd an.

Frank mag die Kölner Mentalität, was er jedoch niemals verstehen und akzeptieren wird, ist die penetrante Art der Wirte, ihren Dialekt auf Biegen und Brechen durchzuboxen.

“Mein Handy?” Frank tastet seine Taschen ab, mittlerweile ein typisches Merkmal Franks. Auf Anhieb kann er sein Handy nicht finden. Weiterhin auf seinen Taschen klopfend wankt Frank zurück zum Tresen.

“Vielen Dank.” Frank nimmt sein Handy in Empfang und quetscht es sich in die Gesäßtasche, wo es hingehört.

“Kei Problem. Bes morje.” grinst der Köbes Frank entgegen.

Der Humor der Kölner… Herrlich.

 

 

“Verdammte Scheiße!”. Wütend pfeffert Alex Kovac die Büchse Ravioli gegen die Wand eines Raumes in der “Villa Oppenheim”. Der Putz der Wand bröckelt. Das linke Augenlid zuckt unkontrolliert. Es ist eine Eigenart, die sich immer dann zeigt, wenn Kovac aufgeregt oder wütend ist. Also fast immer.

Nachdem der Geldeintreiber Peters sich nicht mehr geregt hatte, raffte Kovac ein paar seiner Sachen zusammen und floh aus seiner Wohnung. Ein bis zwei Google-Suchen auf “Lost Places” sorgten für den perfekten, temporären Unterschlupf. 

Die “Villa Oppenheim” in Köln. Ein leerstehendes Gebäude, abgeschottet von fremden Blicken.

Vor drei Stunden kam er hier an und hat sich spärlich eingerichtet, immer mit der mentalen “Flucht nach vorne” falls die Situation es erfordern würde.

Zuvor hatte er sich noch um die ein oder andere Sache kümmern müssen, um ein paar Tage hier zu überbrücken. Danach möchte, nein muss, er das Land verlassen. Er glaubt zwar nicht, dass er Peters getötet hat, aber schwer verletzt wird er sein, daran bleibt kein Zweifel. 

Hinzu kommen etliche andere Vergehen, die dafür sorgen werden, dass sein Leben sich nicht vorteilig entwickelt. Und das alles in so kurzer Zeit – nimmt man die Tatsache, dass er noch nicht allzu lange hier in Deutschland ist.

Also ab in die City und einkaufen. Nach dem Einkauf hat er sich früh abends noch mit einem kurzen Kneipenbesuch belohnt, bevor er die “Villa Oppenheim” bezog. 

Eigentlich hat also alles soweit geklappt. Als er jedoch mit Hilfe seines Handys surfen wollte, während er seine Ravioli aß (wenigstens wollte er erfahren, ob etwas über ihn und den Inkassounternehmer bekannt ist) stellte er fest, dass sein Handy nicht mehr da war.

Das könnte sein, ohnehin fragwürdiges, Schicksal besiegeln und das durfte einfach nicht passieren. 

Seine Wut weicht einer begrüßenswerten Besonnenheit. Er denkt nach. 

Sein linkes Augenlid zuckt langsamer, das Zucken ist beinahe kaum noch zu sehen. 

In der Kneipe hatte er das Handy noch bei sich, da ist Kovac sich sicher. Also muss er es dort vergessen haben, als eine Gruppe von Leuten in die Kneipe strömte, ihn sah und unbedingt mit ihm Selfies machen wollte. 

Er war überrascht, erinnert Kovac sich. Dabei muss er sein Handy außer Acht gelassen und vergessen haben. Gleich morgen muss er nochmal dorthin, daran führt kein Weg vorbei. 

Mit seinem Vorsatz, kommt die Ruhe. 

Er weiß, was zu tun ist, das beruhigt. Untätigkeit hasst Kovac mehr als alles andere. Und diese gilt es gleich morgen abzulegen. Mit dieser Gewissheit schafft Kovac es, sich zu entspannen. 

Sein Augenlid kommt zur Ruhe. 

Als Ersatz fürs Handy schlägt er die Zeitung aus dem Kiosk auf und blättert ein wenig darin herum. 

Plötzlich durchzuckt Kovac ein Gefühl, etwas Wichtiges entdeckt zu haben. Irgendwas hat er verpasst, da ist er sich sicher. Er blättert die Seiten zurück. Aus den Augenwinkeln hat er eben etwas gesehen, jedoch nicht sofort realisiert. Als er nicht sofort die Seite entdeckt, beginnt er schon an seiner Wahrnehmung zu zweifeln. Dann jedoch findet er die richtige Seite. Sein linkes Augenlid beginnt zu zucken.

“Das gibt’s doch nicht…” Vor Erstaunen starrt Kovac so lange auf die entdeckte Seite, bis seine Augen trocken werden. Tränen quellen hervor, als er endlich blinzelt.

“Das gibt es einfach nicht…” wiederholt er und sein Kopf beginnt zu planen. Sein Augenlid zuckt.

 

 

Es gibt kaum etwas, das Frank lieber als Geräuschkulisse mag als rauschende Autos in stiller Nacht. 

Deswegen hat Angela auch nie Schwierigkeiten, Übernachtungen für Frank ausfindig zu machen und zu buchen. Hotels oder Pensionen, die an Straßen liegen, sind kaum ausgebucht und nur selten teuer. 

Hastig öffnet Frank das Fenster seines Hotelzimmers und blinzelt in die kühle Nachtluft hinaus. Wie dämlich kann man sein, fragt er sich erneut und blinzelt stärker, um das Ziepen aus dem linken Auge zu bekommen. Damit er ein wenig klarer im Kopf wird, war er eben noch unter die Dusche gesprungen. Dabei ist ihm Shampoo ins Gesicht und damit in seine Augen gelaufen. Jetzt steht er wie ein Trottel im Fenster und hofft auf eine Linderung der Schmerzen durch die kühle Luft. Sein Kopf schwirrt immer noch von seinem Kneipenaufenthalt und der “Kölsch-Kater” kündigt bereits seine Ankunft an. Seine Schläfen beginnen schon zu pochen. Nachdem der gröbste Schmerz in den Augen vorbei ist, wendet Frank sich vom Fenster ab und greift zu seiner Jeans, um aus der Gesäßtasche sein Handy zu holen. Er will es nochmal mit einer Entschuldigung bei Christine versuchen.

Er findet das Smartphone auf Anhieb in seiner Jeans. Wenigstens einmal konnte er sich etwas merken. Frank starrt auf das Display, das sich umgehend öffnet. 

“Hä? Was zur Hölle soll das denn?” . Murmelnd klickt Frank sich durch das Menü des Smartphones. 

Er findet sich gar nicht mehr auf seinem Handy zurecht, stellt er verwundert fest. 

Es muss ein Update sein. Eines von diesen Updates, die das Gerät komplett auf links drehen. 

Ärgerlich, verdammt ärgerlich. Wenn es um Frank geht, so ist er ein Gewohnheitstier, das sich nur schwerlich auf neue Gegebenheiten einlassen kann. Aber nicht nur die neue Optik nach dem Update macht Frank zu schaffen. Er kennt sich gar nicht mehr aus. Wo sind seine Apps und was sind das für neue Apps, die er jetzt sieht? Haben die sich etwa selbstständig installiert? Frechheit! Er wird sich bei Gelegenheit mal die Zeit nehmen, um eine deutliche Mail an seinen Mobilfunkanbieter zu verfassen.

Die Kontakte-App ist zum Glück schnell gefunden und hier wartet bereits der nächste Schreck. All seine Kontakte scheinen gelöscht und durch unbekannte Kontakte ersetzt zu sein. Panisch schließt er die App und sucht seine Galerie. Mit schwitzigen Händen scrollt er sich eilig durch das Handy-Menü und findet seine Bildergalerie. Undenkbar, allein die Idee, seine Fotos von Lisa, Anna und Christine verloren zu haben. Frank entdeckt zu seiner Beruhigung ein paar Selfies, die ihn darstellen. Von der Erleichterung beflügelt, streicht Frank sich durch ein paar Fotos. Seltsam, an die wenigsten Bilder…  nein an keines der Bilder kann er sich so recht erinnern. Fahrig verlässt Frank die Galerie, um nochmal in den Kontakten nach der Nummer von Christine Ausschau zu halten. Er blättert hin und her, vor und zurück. Filtert die Kontakte nach dem Alphabet, filtert die Vornamen nach dem Alphabet, filtert die Nachnamen nach dem Alphabet. Nichts. Er flucht in sich hinein, während er die Nummer von Christine als Versuch auswendig in sein Handy eintippt. Frank spricht die Nummer seiner Frau in einem Rap Takt vor sich her. So hat er sich schon immer besser an längere Nummern erinnert. Seine IBAN rappt er auch immer vor sich hin, wenn er Online-Käufe tätigt. 

Ein seltsames System möglicherweise, aber es funktioniert. 

Ein Freizeichen ist zu hören, aber kein Name wird in seinem Display angezeigt. Bevor Frank zu einem weiteren Fluch, einer weiteren Verwünschung in Richtung Mobilfunkanbieter, ansetzen kann, hört er eine bekannte Melodie in seinem Hotelzimmer dudeln. 

“The Raiders March” von John Williams, das Hauptstück aus dem Soundtrack von “Indiana Jones – Jäger des verlorenen Schatzes”. Frank hat dieses Stück schon seit Ewigkeiten als Klingelton für sein Handy. Die Melodie kommt aus seiner Jacke. 

Frank starrt auf das Gerät in seinen Händen. Jetzt erst bemerkt er, dass sich das Handy seltsam in seiner Hand anfühlt. Das ist nicht mein Handy, denkt Frank und dreht und wendet es in seiner Hand. Das ist ein ein ganz anderes Modell! Seine Sinne schwirren. Was geschieht hier? 

Wessen Handy ist das? Warum ertönt sein eigener Klingelton in seiner Jacke, wenn er seine Frau anrufen möchte? 

Während sich Frank verwirrt diese Fragen stellt, fällt ihm eine noch dringlichere Frage auf. Erschrocken springt Frank von seinem Hotelbett auf, seine wackligen Beine können den benommenen Körper nur schwerlich tragen. Aus dem Schrecken heraus, stellt sich Frank die viel wichtigere Frage. Laut stellt er die Frage laut dem stummen Hotelzimmer entgegen: 

“WARUM SIND FOTOS VON MIR AUF DIESEM HANDY?!”

 

 

Christine stolpert ihren Weg treppab zum Wohnzimmer, in dem sie ihr Handy vermutet. Gerade heute verteufelt sie wieder ihren eigenen Vorsatz, kein Handy mit ins Schlafzimmer zu nehmen. Der Vorsatz resultiert zum einen aus einem Bericht, den Christine vor geraumer Zeit einmal im “Reader’s Digest” gelesen hat; darin ging es um die Strahlungen eines solchen Smartphones und um deren Schäden bei regelmäßigem Kontakt. Zum andern, so empfand Christine mittlerweile, gehört es sich einfach nicht ein Handy im Schlafzimmer zu haben. 

Im Schlafzimmer gibt es Schlaf und Liebe. Punkt.

Aber gerade heute hätte sie gegen ihren Vorsatz verstoßen sollen, findet sie. Wenn sie jetzt die Treppe herunter stürzt, hat sich das mit den “gefährlichen Strahlen” auch erledigt. 

Natürlich ist das Frank, der da Sturm läutet, das ist Christine so klar wie nur irgendetwas klar sein kann. 

Sie wollte eigentlich sein Betteln rigoros ignorieren und ihn zappelnd am anderen Ende der Leitung in seinem eigenen Saft schmoren lassen.

Gott, was konnte dieser Mensch sie zur Weißglut bringen! 

Seine Vergesslichkeit war das eine, aber seine Art all seine Versäumungen und Fehltritte auf seinen maroden Kopf zu schieben und die dadurch mitschwingende Ignoranz war eine ganz andere Sache. 

DAS ist es, was Christine so wütend macht. 

Die nonchalante Art, ihre Termine, ihre Dringlichkeiten durch ein profanes “Sorry, hab ich vergessen” ab zu tun und durch seine Absichten und Tätigkeiten als dringlicher zu ersetzen. 

Das ist “New Age Macho – Scheiße”, da ist sich Christine sicher. 

Nachdem sie in ihrem Schlafzimmer, welches sie sich heute mit dem neuen Buch von Stephen King teilt, allerdings schon zum achten Mal ihr Handy unten läuten gehört hat, beginnt sie sich zu sorgen und befindet sich nun auf dem abenteuerlichen Abstieg nach unten. Soviel zum Thema zappeln lassen, denkt sie.

Naja, ein Vorsatz eingehalten, einer gebrochen. Ein guter Schnitt stellt Christine fest. Ungefähr in der Mitte der Treppe hält Christine inne und lauscht zu den Kinderzimmern. 

Die Mädels schlafen, das ist gut. Lisa hatte heute abend wieder für Trubel gesorgt. Sie konnte (und wollte) partout nicht einschlafen, weil Frank nicht da ist. 

Gott, was konnte dieser Mensch sie zur Weißglut bringen, wiederholt Christine gedanklich ihr mittlerweile zur Gewohnheit gewordenes Mantra. Im Wohnzimmer angekommen, findet Christine ihr Handy nicht sofort und gräbt sich durch die Sofaritzen. Die Sofaritzen dienen stets als finale Lösungsfindung. Nichts. 

“Kann nicht sein… das darf einfach alles nicht…” murmelt Christine vor sich hin, als sie ein erneutes Klingeln des Handys vernimmt und sie aus der schier ausweglosen Suchaktion befreit. 

Es liegt unter dem Couchtisch. Eine hervorragende Aufbewahrungsstätte, findet Christine und denkt unwirsch darüber nach, dass sie demnächst vielleicht auch mal die Trumpfkarte des “Schussels” spielen könnte.

Das Display zeigt Franks Gesicht mit ausgestreckter Zunge. Ein Foto, das Anna vor Jahren von Frank geschossen hat.

“Frank, was willst du? Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Das ist keine sonderlich gut durchdachte Art sich zu entschuldigen. Warum können…” Christines knapper Monolog wird von Wortfetzen der unsinnigsten Art zerrissen. 

Zweites Handy… Fotos von mir… Stalker…  war noch nie in Rom… “, all diese Informationen prasseln auf Christine ein. Ungefiltert und völlig ohne Sinn und Zusammenhang.

“Frank!” Christine versucht den Wortschwall ihres angeheirateten Deppen, den sie immer noch mehr liebt als alles andere auf der Welt, zu unterbrechen. Vergebens. Frank klingt seltsam. Verwirrt und aufgewühlt. Sorgenfalten legen sich über Christines hübsches Gesicht. Sie hat keine Ahnung, was in Köln vor sich geht. Sie hat nicht die geringste Einschätzung, was ihren Mann so aufwühlt. Aber irgendetwas passiert gerade, sie fühlt es und sie bekommt Angst. Entsetzliche Angst.

 

– 

 

“… hast du getrunken, Frank?” Christines Stimme dringt dünn aus dem Lautsprecher in Franks schwirrenden Kopf.

“Was? Ja…” Frank versucht sich in Multitasking. Während Christine auf der einen Seite versucht, Licht ins Dunkel von Franks Tiraden zu bringen, was Frank durchaus verstehen kann, wischt er sich auf der anderen Seite durch die Galerie des fremden Handys. Unzählige Fotos tauchen vor Frank auf. 

Fotos mit ihm, Fotos an die er sich jedoch nicht erinnern kann.

Sein erster Verdacht war so klar, dass er das Handy eigentlich schon weggesteckt hatte, um es gleich morgen im Fundbüro abzuliefern. Das Handy gehört bestimmt einem der Fans, die ihn zur Kneipe geschleppt hatten und dann zügig von dannen zogen, als Franks Trübsinn eher abtörnend wirkte.

Dann aber erinnert er sich an ein paar Bilder und holt es wieder hervor.

Frank vor dem Dom – okay möglich.

Frank vor dem Alexturm Berlin – absolut möglich.

Frank vor dem Hofbräuhaus – unwahrscheinlich.

Frank vor dem Kolosseum in Rom – UNMÖGLICH.

Frank wollte immer nach Rom, Christine auch. Sie hatten sogar eine Reise nach Rom gebucht und bezahlt. Das war vor sieben Jahren. Jedoch hat die zu früh ankommende Lisa diesen Plan vereitelt und dadurch wurde die Reise nach Rom auf unbestimmte Zeit verschoben.

FRANK WAR NIEMALS IN ROM.

“Frank!” Christines Stimme klirrt durchs Telefon und reißt Frank aus seinen Gedanken.

“Bitte?” Frank lässt das fremde Handy sinken. Er muss jetzt seiner Frau zuhören, schließlich hat er sie ja auch angerufen. Vielleicht schafft sie es mit ihrer einmaligen Art, ihm den ganzen Schlamassel begreifbar zu machen.

“Ob du etwas getrunken hast!” fragt Christine nochmal, offenbar mit seiner vorangegangenen Antwort nur leidlich zufriedengestellt.

“Ja schon, aber nur vier oder fünf Kölsch. Das ist es nicht, Schatz. Ich habe deine Nummer gewählt und MEIN Handy hat geklingelt” Frank rutscht unruhig auf seiner Bettkante hin und her. 

Ein genervtes Atmen wabert durch das Telefon: “Welche  Nummer hast du gewählt? Rap sie mir mal vor.”

Sie kennt ihn einfach zu gut. Er beginnt auf den Beat von “The Message” von Grandmaster Flash & the Furious Five ihre Nummer zu rappen.

Christines Lachen unterbricht seinen Rap. Frank bricht ab.

“Das ist meine Nummer, oder?” Frank kommt sich reichlich blöde vor. Das passiert ihm ständig.

“Japp” Christine scheint amüsiert… auch nicht schlecht.

“Trotzdem… Die Fotos. Ich bilde mir das nicht ein.” verzweifelt versucht Frank sich glaubhaft zu erklären.

“Sag ich doch gar nicht, Schatz.” Sie hat Schatz gesagt. Ein Gutes hat das Ganze also doch. Frank atmet tief durch.

“Christine, das mit heute tut mir so leid. Wirklich.” Frank steht auf und starrt aus seinem Fenster. Er beobachtet die reisenden Autos, die sich ihren Weg zu einem unbekannten Ziel bahnen.

“Das ist jetzt aber kein dämlicher Versuch sich bei mir, auf ungewöhnliche Weise, zu entschuldigen? Frank?” Der Vorwurf von Christine reißt Frank aus seinem starren Blick Richtung Schnellstraße.

“Was? Nein. Wirklich nicht, Schatz. Es war mir nur ein Bedürfnis, dir das zu sagen.” Frank öffnet sein Fenster um frische Luft hereinzulassen. Er hat keine Ahnung, wie oft er jetzt schon das Fenster geöffnet und geschlossen hat. 

“Okay, dein Glück.” Christine holt seufzend Luft. 

Gespannt wartet Frank auf eine Lösung seiner Frau, eine Möglichkeit, die ihn schlafen lässt.

“Vielleicht ist es das Handy eines Fans?” bestätigt Christine Franks anfänglichen Verdacht.

“Hab ich auch zuerst gedacht. Aber ich war noch nie in Rom, Schatz. Das weißt du genauso gut wie ich. Es sind zudem noch andere Fotos auf dem Handy, die mich an völlig unbekannten Orten zeigen. Zum Beispiel am Münchner Hofbräuhaus.” Frank fühlt sich jämmerlich. Er war sich sicher, Christine konnte ihn nicht beruhigen.

Nach einer kurzen Pause, setzt Christine zu einer weiteren Erklärung an.

“Fans machen seltsame Sachen, Schatz. Das weißt Du doch. War das nicht sogar mal ein Thema in einem deiner Romane?” Christine hat vielleicht den Nagel auf den Kopf getroffen.

“Red weiter…” fordert Frank seine Frau auf und fühlt sich nach Minuten nochmal in der Lage, sich ruhig auf die Bettkante seines Hotelbettes zu setzen.

“Stichwort: Photoshop?” Das ist es! Natürlich! Oh Gott, wie liebt er seine Frau. 

Er kann gleich schlafen, er weiß es. 

Mehr noch. Er merkt unweigerlich, dass sein Körper sich entspannt. Müdigkeit überkommt ihn und er nimmt sie dankbar an.

“Das wären aber verdammt gute Photoshop-Arbeiten” merkt er gähnend an. Mit dem Handy in der Hand legt Frank sich auf sein Bett, die Glieder von sich gestreckt.

“Naja, vielleicht macht Dein Fan sowas beruflich und dein angeheiterter Kopf macht das Photoshop-Ergebnis besser als es ist.” Christine klingt so zuversichtlich, dass Frank vor Freude jubeln könnte.

“Danke mein Engel. Du hast mit Sicherheit recht. Ich gebe das Handy gleich morgen früh beim Fundbüro ab. Christine?” Frank wartet auf eine Antwort.

“Ja?” Die Antwort von Christine klingt zögernd.

“Vielen Dank… für alles.” Frank lächelt seiner Frau gedanklich entgegen.

“Schlaf jetzt, Frank.” Die Antwort von Christine droht wieder in eine abkühlende Stimmung zu kippen. Er setzt nochmal auf die Karte “Versöhnung”.

“Die ganze Geschichte heute Abend hat mir auf jeden Fall etwas deutlich gemacht, Schatz.” Frank lauscht in die statische Stille, auf eine Antwort hoffend, sie jedoch nicht erwartend. Somit muss er ungefragt fortsetzen. “Rom wartet immer noch auf uns.”

Christine lacht: “Das stimmt!”

Mutig setzt Frank hinterher: “Am Ende des Monats? Nur wir beide? Meine Mutter passt bestimmt auf die beiden Mädels auf.”

“Meinst du das ernst?” Da ist sie wieder, die Zärtlichkeit in Christines Stimme.

“Vollkommen ernst. Ich schreibe es mir sofort auf. Versprochen.” Frank kramt bereits in seiner Tasche nach dem vermaledeiten Notizbuch. Er findet es und notiert “ROM. Ende des Monats. Mama anrufen.”

“Das wär schön.” Christine freut sich, das kann Frank hören.

“Abgemacht. Schlaf schön. Danke, und ich liebe dich.” Frank schließt bei den letzten Worten seine Augen um gedanklich wirklich bei seiner Frau zu sein.

“Ich liebe dich auch” hört er Christine noch sagen, bevor der Schlaf ihn übermannt. Er schafft es nicht einmal mehr, sein Handy auszuschalten.

 

“…na, wann de su Sturm klingels, muß isch jo ens kontrolleere.” mürrisch blickt der Köbes des “Em Schnörres” Kovac entgegen.

“Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.” versichert Alex Kovac dem Wirt. 

“Na dat well Isch och minge. Wat Isch allerdings nit verstonn, es dat du noh dinne Handy frogst. Isch han dich dat Handy doch förmlich aufgezwungen. Beinoh noh geworfen.” mit fragendem Gesicht und beinahe auffordernd, starrt der Wirt Kovac an.

“Entschuldigen Sie, ich habe jetzt wirklich nicht verstanden, was Sie gesagt haben.” Noch möchte Kovac sich in Freundlichkeit üben. Wenn der dämliche Wirt aber nicht augenblicklich seinen lästigen Dialekt ablegt oder zumindest verständlicher macht…

Der Köbes seufzt: “Ich habe Ihnen Ihr Handy gestern in die Hand gedrückt, ja beinahe nachgeworfen. Da bin ich mir zu tausend Prozent sicher. Sie waren beinahe die Tür raus, da habe ich Ihnen hinterhergerufen.”

Ach, sieh mal an. Es geht also doch. Zwar ist die schwere Sprachfärbung deutlich zu vernehmen, aber eben jetzt auch der Inhalt.

“Bös do donoh wigger gezogen?” frech zwinkernd überprüft der Köbes Kovacs Reaktion auf den Wechsel zum Kölsch.

“Soweit ich weiß, nicht.” überlegt Kovac laut.

“Nja, soweit isch woß. Dat es bei ener Kneipentour en wage Aussage. Normalerweise woß mer am Dag donoh nit mieh vill.” Kovacs Blick lässt den Gastronomen die Aussage automatisch übersetzen. “Am Tag nach einer Kneipentour weiß man nicht mehr viel. Ich hab Ihnen auf jeden Fall das Handy gegeben.”

“Entschuldigen Sie die Störung und vielen Dank. Sagen Sie mal,” Kovac blättert durch seine gestrige Zeitung. “Wie komme ich denn zum “Bürgerhaus Stollwerk”?”

“Dat es nit wigg. Dreihundert Meter der Stroß langk un dann schäl abbiegen. Künnste nit mankeere… ähm das können Sie nicht verfehlen.” Der Wirt schließt grinsend die Tür.

“Alles klar, vielen Dank!” Kovac wendet sich ab, schlägt seinen Kragen hoch. Es beginnt zu regnen. Er weiß, was geschehen ist und er weiß, was zu tun ist. Zufälle passieren und es liegt an einem selbst, diese Zufälle für sich auszunutzen.

 

 

Er hatte schonmal einen schlimmeren Kater, da ist Frank sich sicher. Aber besser ging es ihm auch schonmal. Mit müden und schmerzenden Gliedern schält Frank sich aus dem Hotelbett, sein Kopf schreit ihm seinen Unmut entgegen und sein Magen rotiert. Mit schweren Armen greift Frank nach seinem Handy, um die Uhrzeit ausmachen zu können. 09:30 Uhr, das muss genug Schlaf sein. Anbei findet er noch eine WhatsApp-Nachricht.

Die Müdigkeit weg zwinkernd, öffnet er die App und liest die eingetroffene Nachricht. 

Christine schreibt: “Guten Morgen, Schatz. Ich hoffe, Du konntest einigermaßen schlafen. Vergiss nicht, dieses Handy am Fundbüro abzugeben, bevor du nach Düsseldorf weiterreist und es die ganze Zeit mitschleppst. Guck nicht so, du weißt, du würdest das tun. Ich liebe dich! Testfrage: Was hast du mir gestern Abend zum Abschied versprochen? Antworte nur mit einem Wort!” Ein Herz und zwei Emojis mit zwinkernden Augen ziert die Nachricht von Christine.

Frank grinst und tippt schnell zurück: “Sex!” Bevor er die Nachricht in den Äther jagt, setzt er noch zwei lachende Emojis (die mit den vor Lachen tränenden Augen) hinter sein einsames Wort und versendet die Nachricht.

Das Handy! Er hat es tatsächlich beinahe vergessen. Dabei war der Inhalt des fremden Gerätes gestern durchaus beunruhigend. Er lässt sein Handy sinken und überlegt, wo er das fremde Handy abgelegt haben mag. Die Fensterbank, es fällt ihm siedend heiß bei dem Geräusch der Schnellstraße wieder ein.

Frank springt auf die Füße, streckt sich und steuert die Fensterbank an. Bingo! Da liegt es, als könne es kein Wässerchen trüben. Bei näherer Betrachtung ist Frank über seinen gestrigen Irrtum mehr als verwundert. 

Es ist ein iPhone, er hat noch nie ein iPhone besessen. Er besitzt seit längerer Zeit ein Pixel 3. Außerdem ist das iPhone weiß und um ein paar Zoll größer als seines. Deswegen musste er es auch in die Gesäßtasche quetschen, erinnert er sich. Das ist mal wieder eine typische Frank-Sache, denkt er sich. Nur ihm kann es passieren, dass er ein fremdes, optisch völlig anderes, Handy einsteckt.

Frank nimmt das fremde Handy hoch, starrt auf das leere Display. 

Bevor er den Gedanken “Ist der Akku leer” noch fassen kann, erwacht das Display zum Leben und strahlt ihn an.

“PIN eingeben”

Seltsam. Konnte Frank gestern nicht sofort durch das Handy klicken? Er war doch im Menü, hat doch in den Kontakten gesucht. Er hat doch die Bilder gesehen.

War das doch alles nur Einbildung? Hat er Christine umsonst geängstigt?

Beiläufig versucht Frank zweimal eine willkürliche PIN-Eingabe. Nichts. Ein drittes Mal möchte er sein Glück nicht herausfordern, weil er an den armen Besitzer des Mobiltelefons denkt, der mit Sicherheit nicht seine PUK mitführt.

Endlich schiebt er das fremde iPhone in seine Tasche, schnappt sich sein Handy und googelt sich die Adresse eines Fundbüros in Köln zurecht. 

Köln Kalk also, nicht einfach zu Fuß erreichbar, aber mit dem Auto nur knapp 20 Minuten. 

Er wird den Umweg auf sich nehmen, wenn er sich auf den Weg nach Düsseldorf begibt. Das ist er dem armen Besitzer des Handys schuldig.

Sein Handy vibriert. Die Reaktion von Christine auf Franks Antwort schiebt sich schelmisch nach vorne:

“Blödmann!” ein zwinkerndes Emoji entschärft ihre gespielt entrüstete Aussage.

Frank lacht, markiert Christines Frage: “Testfrage: Was hast du mir gestern Abend zum Abschied versprochen? Antworte nur mit einem Wort!” und antwortet dieses Mal:

“Rom!”

Er packt seine Klamotten zusammen, wäscht sich und verlässt das Hotelzimmer.

 

 

“Roswitha Schmied?” Roswitha keucht, als sie den Telefonhörer entgegennimmt. Sie KANN einfach kein Telefon klingeln lassen. Es geht einfach nicht. Selbst wenn sie sich im Garten aufhält. 

Wenn das Telefon läutet, läuft sie los. Daran führt kein Weg vorbei. Neugier kann ein zuverlässiger Antrieb sein.

“Mama?” Die Stimme ihres Sohnes klingt blechern. “Hörst Du mich?”

“Frank. Das ist ja eine Überraschung. Ja, ich höre dich. Zwar dumpf, aber es geht schon. Wo bist du?” Automatisch greift Roswitha zu ihrem Schreibblock, welcher neben dem Telefon auf dem Flur liegt und beginnt Kreise zu malen. Ein Telefon-Ritual, das sie schon ewig macht. So kann sie Stunden am Telefon verbringen.

“Ich bin noch in Köln und muss gleich durch nach Düsseldorf.” Frank hüstelt ein wenig. Ist er erkältet?

“Läuft es gut?” fragt Roswitha und malt ihre Kreise. Das Blatt ist bereits voller großer Kreise, nun beginnt sie kleinere Kreise in die großen Kreise zu zeichnen.

“Ja, läuft wirklich sehr gut. Aber anstrengend ist es auch.” Irgendwas bedrückt Frank, das spürt Roswitha. Hat er wieder Streit mit Christine oder immer noch?

“Das glaube ich dir. Hast du nochmal mit Christine gesprochen?” Roswitha war nie ein Freund davon, um den heißen Brei herum zu reden. Probleme müssen angesprochen und aus der Welt geschafft werden.

“Ja, habe ich heute morgen noch. Ist alles gut.” druckst Frank ein wenig herum, bevor er mit der Sprache rausrückt. “Du Mama, ich habe eine Frage. Wer ist Alex Kovac?”

Für einen Moment erwischt Roswitha sich dabei, tatsächlich nachdenken zu müssen. Die folgende Erinnerung beschämt sie und lässt sie geschockt schweigen.

“Mama? Bist du noch dran?” Er weiß es. Frank weiß von Alex. Seine Stimme verrät, dass er es nur noch aus ihrem Mund hören muss. Er braucht nur eine Bestätigung, aber er weiß es.

“Ja. Frank, ja. Ich bin noch hier. Woher kennst du diesen Namen?” Roswitha versucht, ihre Stimme so stabil wie möglich zu halten. Ihre Atmung macht kurze Aussetzer.

“Sagen wir mal, der Name ist mir über den Weg gelaufen. Mama, ist er mein Bruder?” Stille breitet sich aus, klammert sich an Roswithas Hals und drückt kräftig zu.

Langsam beginnt Roswitha mit brüchiger Stimme zu erzählen. Ihr Stift beginnt wilde Kreise zu malen.

“Ja, Frank. Alex ist dein Zwillingsbruder. Als ihr zur Welt gekommen seid, war es undenkbar für uns, zwei Kinder durchzufüttern. Dein Vater hatte seinen Beruf in der Fabrik verloren und wir standen vor einem wirtschaftlichen Ruin. Eigentlich mussten wir euch beide abgeben. Wir hatten auch schon schweren Herzens den Plan durchdacht, euch in einem Berliner Waisenhaus abzugeben. Aber wir hatten es beide sehr schwer damit. Wir haben Tage und Nächte geweint und haben nach Möglichkeiten gesucht, euch zu behalten. Die Abfindung von der Fabrik hat uns dann umdenken lassen und wir haben uns entschieden, einen von euch zu behalten. Die Wahl fiel auf dich, Frank.” Roswithas Stimme bricht. “Du hast geweint, weißt du? Das ist der einzige Grund. Wir waren um jede Entscheidungshilfe dankbar und haben dein Weinen als Entscheidung angenommen. Bitte denk nicht böse über uns, Frank. Ich bitte dich.”

Roswitha beginnt unkontrolliert zu schluchzen. Frank wartet ab, bis sie sich beruhigt hat.

“Ich werfe euch nichts vor, Mama.” Frank raunt Roswitha die Worte tröstend entgegen und setzt noch zu einer Frage an, die ihn offensichtlich quält. “Wo habt ihr meinen Bruder hingebracht?”

Roswitha braucht einen Moment um sich zu sammeln.

“Wir wollten ein zufälliges Treffen mit allen Mitteln verhindern. Wir wollten, dass es nicht zu einem Kontakt kommt. Wir…” Roswitha unterbricht sich, ihr Schluchzen erschwert ihr Weitersprechen “… haben uns so geschämt. Es war eine schwere Zeit für uns, Frank. Das musst du uns glauben. Wir haben versucht ein gutes Waisenhaus in Polen ausfindig zu machen. Es gab ja damals kein Internet und es war schwierig Informationen zu beschaffen. Wir hörten aber von einem Waisenhaus mit gutem Ruf in der Slowakei, wo deutsche Ordensfrauen tätig waren. Also haben wir  aus Schmied den Namen Kovac gemacht und deinen Bruder dorthin gebracht. Wir legten ihn vor der Türe ab, läuteten die Türglocke und stahlen uns davon. Wir fuhren mit zwei Babys hin und kamen mit nur einem Baby zurück. Es tut mir so leid, Frank.” 

Roswitha bricht ihre Erzählung ab. Sie weint hemmungslos. Zu lang hat sie dieses dunkle Geheimnis mit sich herumgetragen. Als ihr Mann vor Jahren an Lungenkrebs starb, musste sie ihr Schuldgefühl alleine aushalten und jetzt fühlt sie sich auf der einen Seite ertappt und bloßgestellt, auf der anderen Seite erleichtert. Endlich ist es raus. Mühsam stellt sie Frank eine Frage, die sie trotzdem quält:

“Wie bist du darauf gekommen, Frank? Woher weißt du davon?”

Franks beruhigende Stimme lässt seine Mutter kurz innehalten.

“Mach es dir bitte nicht so schwer, Mama. Ich mache dir keine Vorwürfe. Wirklich nicht. Ich kenne dich schon ein Leben lang und weiß, dass du kein schlechter Mensch bist, natürlich nicht. Ich bin auf seinen Namen gestoßen, als ich für mein nächstes Buch recherchiert habe. Es gab ein Bild zu seinem Namen. Und dieses Bild sah mir verflixt ähnlich. Außerdem weiß ich, dass Kovac das slowakische Wort für Schmied ist. Ich habe einfach eins und eins zusammengezählt, Mama.” Frank hält inne und lauscht.

Roswithas Schluchzen verrät ihre Anwesenheit.

“Mama?” Frank wartet geduldig.

Roswitha wiederholt flüsternd: “Es tut mir so leid, Frank.”

“Ich weiß, Mama. Ich kann dir dein schlechtes Gewissen nicht nehmen, versichere dir aber, dass ICH dir nichts vorwerfe. Das bleibt ein Mutter und Sohn Geheimnis, okay? Das braucht niemand zu wissen und bleibt unter uns. Alex Kovac ist tot, Mama. Wir unterhalten uns später. Bis bald.” Während er auflegt hört er seine Mutter noch rufen. Er weiß, was er wissen muss.

Er verläßt die Telefonzelle, nach der er lange gesucht hatte, richtet seine Kleidung und steigt in ein Taxi. Sein Augenlid zuckt.

 

 

“Dürfen wir noch ein Selfie mit dir machen?” fragt ein hübsches Mädchen nach der Lesung im “Museum Kunstpalast Düsseldorf”. Der Abend ist wirklich gelungen. Frank ist glücklich. Nicht nur der Abend, der ganze Tag ist heute völlig ohne Pannen verlaufen. Er hat tatsächlich daran gedacht, das fremde Handy im Fundbüro abzuliefern, hatte noch ein längeres Telefonat mit Christine und den Mädels und bei seiner Managerin erfolgreich seinen Rom-Urlaub für die letzte Monatswoche durchgeboxt. Eigentlich wollte er auch gleich alles erledigen und seine Mutter bitten, bei Lisa und Anna zu bleiben, damit alles in trockenen Tüchern ist und er endlich einmal sein Wort Christine gegenüber hält. Leider war bei Roswitha das Telefon durchgehend besetzt, also will Frank gleich morgen früh sein Glück versuchen. Und dann dieser Abend. 

Der Kunstpalast war ausgebucht, das hatte er vorher gewusst, aber nicht nur das: Die Zuhörer hatten Spaß, wie Frank feststellte und sie stellten anschließend abwechslungsreiche und interessante Fragen. 

Ja, natürlich war der Abend toll,aber daran liegt es nicht nur. Frank selber fühlt sich um einiges besser als die Tage zuvor. Er hat sich endlich einmal mit seiner Frau ausgesprochen, das beflügelt seine Laune und macht ihn deutlich entspannter und offener für sein Publikum. Für seine Fans. 

Kurzentschlossen sagt Frank zu, wieder mit ein paar Leuten in die Altstadt für ein paar Bier zu gehen. Heute wird es besser laufen als gestern. Da ist Frank sich sicher. Nach diesem Selfie wollen sie los.

“Na klar.” strahlt Frank dem Mädchen entgegen. “Dann stell Dich mal neben mich. Lächeln. Uuuund…”

 

– 

 

“Aufwachen, Frank!” eine Ohrfeige bekräftigt den Weckruf. Benebelt bewegt Frank seinen schweren Kopf, der unstet von einer Schulterseite zur anderen kippt. Frank kann nichts sehen. Was ist los? Wollten sie nicht in die Altstadt aufbrechen? Ist das Taxi schon da? Frank findet sich nicht zurecht.

Noch eine Ohrfeige. Außerdem hört er ein hässliches Lachen. Irgendwo vor ihm, nein hinter ihm oder neben ihm?

“Wach auf, Dornröschen. Du hast genug geschlafen.”

Ein metallischer Geschmack breitet sich in Franks Mundraum aus. Er beugt sich zu Seite und spuckt aus. Er bereut sofort diese Bewegung. Übelkeit und Schwindel legen sich wie eine schwere Decke über seine Wahrnehmung. Frank versucht seine Augen zu öffnen, es fällt ihm schwer. Die Augenlider wollen ihm nicht gehorchen, versagen ihren Dienst. Er versucht zu blinzeln. Es funktioniert. Grelles Licht strahlt ihm ins Gesicht. Frank entscheidet sich, weiter zu schlafen und lässt die Augen zu. Ein Schatten verdeckt das grelle Licht und Frank schafft es, seine Augen zu öffnen. Das fehlende Licht ist eine Wohltat.

“Guten Morgen!” Er sieht sein Spiegelbild sich anlächeln. Er sieht sich, sich selbst gegenüberstehen. Meine Güte, was hat er letzte Nacht bloß gemacht? Sein Spiegelbild nähert sich. Sein Spiegelbild hat eine eigene Stimme, die zu ihm spricht.

“Na? Was denkst du? Überrascht?” Sein Spiegelbild hat Mundgeruch. 

“Ich fürchte, das wird einer dieser unsäglichen James Bond Momente. Kennst du James Bond?” Der Mann, der wie Frank aussieht, schaut Frank erwartungsvoll an.

Frank bemüht sich, seine Stimme zu mobilisieren: “Ja. Ja natürlich kenne ich James Bond. Was soll das alles hier?”

Der Mann scheint Franks Frage zu ignorieren: “Nervt es dich nicht auch immer wieder? Immer dann, wenn der Bösewicht eines jeden Bond-Filmes für kurze Zeit den Helden in seiner Gewalt hat, was tut er dann? Hm?”

“Weiß nicht.” Franks Kopf beginnt zu pochen. Die Worte, die Frank hört, ergeben keinen Sinn.

Der Mann scheint enttäuscht zu sein: “Komm schon. Du musst schon mitmachen. Was tut er? Oder wir fragen mal anders: Was würdest du tun, wenn dir dein Erzfeind gegenüber steht?”

Frank wird das alles zu blöd: “Wer sind Sie, und wo bin ich?”

“Du sollst verdammt nochmal mitmachen!” brüllt der Mann Frank an und ohrfeigt ihn fester als zuvor.

Durch die Wucht der Ohrfeige kippt Frank zur Seite. Mit ihm kippt auch der Stuhl um, auf dem Frank sitzt. 

Frank schafft es nicht aufzustehen und stellt beunruhigt fest, dass er an dem Stuhl fixiert ist.

“Tut mir leid,”, kommt es, nur wenig glaubwürdig von dem Mann, der wie Frank aussieht “ich helfe dir auf.” 

Der Mann greift nach Franks Stuhl und wuchtet ihn hoch. Wütend starrt Frank seinen Peiniger an.

Giftig antwortet Frank auf die gestellte Frage: “Ich würde meinen Erzfeind erledigen. Auf der Stelle!”

“Nicht wahr?” Der Mann mit Franks Gesicht scheint erfreut. “Das würde jeder vernünftige Mensch tun. Aber nein, in jedem richtigen Bond-Film philosophiert der Bösewicht sich einen Wolf. Erklärt seine Absichten, erläutert sein unvergleichliches Genie, offenbart seine Oberhand. Und wofür? Nur um im letzten Moment bei der Vernichtung seines Gegners zu versagen. Deswegen frage ich dich, Frank: WIE DUMM KANN MAN SEIN?!” Er lacht. Selbst das Lachen klingt wie das Lachen von Frank. Nur ein wenig rauer, ein wenig animalischer.

“Nun, wie gesagt: Dies ist ein James Bond Moment. Nur hier ist es anders. Hier muss ICH noch jede Menge von DIR erfahren. Nicht wie bei den Filmen, keine Angst. Ich laber dir nicht die Taschen voll.” Der Mann kommt wieder näher, zu nahe. Frank kann seinen Atem spüren und entdeckt noch etwas. 

Das Augenlid seines Doubles zuckt. Unentwegt. Es zuckt die ganze Zeit. Als hätte er etwas ins Auge bekommen. Frank versteht plötzlich:

Natürlich.

Das Handy.

Die Bilder.

Shampoo.

Zuckendes Auge.

Face-ID.

“Es war dein Handy, oder?” Frank ist sich sicher. Das Handy war ein iPhone 8. Mit Face-ID. Gestern abend konnte er es öffnen, weil er Shampoo in seine Augen bekommen hatte und deswegen den Identifikationen des iPhones entsprach. Heute morgen, ohne zuckendes Auge, blieb ihm der Zugang zum Handy verwehrt. 

Die Bilder: Es war nicht FRANK vor dem Hofbräuhaus, nicht Frank vor dem Dom, nicht Frank vor dem Kolosseum. Das war alles dieser Typ vor ihm.

“Ich hatte dein Handy.”, wiederholt Frank mehr zu sich.

“Hervorragend. Der Starautor gibt sich mal wieder alle Ehre und beweist seinen Durchblick.” höhnt der Mann vor ihm.

“Wer bist du? Was willst du von mir?” Frank spürt Verzweiflung in sich aufsteigen.

“Gestatten: Alex Kovac. Ich bin dein Zwillingsbruder, frag deine Mutter nach mir. Falls du sie noch einmal siehst, was unwahrscheinlich ist.”. Schallendes Gelächter schwirrt durch das kahle Gemäuer, in dem sich die beiden befinden.

“Und was ich will, ist ebenso schnell wie einfach erklärt. Deine Frau, deine Kinder. Kurz: dein ganzes Leben. Jetzt bin ich mal dran. Du wirst hier sterben, mein Lieber. Daran führt kein Weg vorbei. Aber ich verspreche dir, wenn du kooperativ bist, bleiben deine Lieben am Leben. Bruder-Ehrenwort.”

“Nein!”, schreit Frank seine Wut heraus. Er beginnt gegen seine Fesseln zu kämpfen. Wütend zerrt er an den Schnüren. Eine weitere Ohrfeige sorgt dafür, dass der Stuhl mit Frank nochmals umkippt. Dieses Mal, so ist sich Frank sicher, hört er etwas brechen.

“Hast du dich beruhigt?”. Unbeeindruckt richtet Kovac den Stuhl wieder auf.

Die Armlehne ist auf jeden Fall angebrochen, spürt Frank. Zaghaft beginnt er in kleinen Bewegungen die Bruchstelle der Lehne ausfindig zu machen. Er glaubt Kovac jedes Wort, aber warum sollte er das zugeben? Mit ein wenig Ignoranz kann man bestimmt Zeit schinden.

“Das ist doch eine Verarschung, oder? Versteckte Kamera 2.0? Mit körperlichen Schmerzen? Ich mein, nach dem Dschungelcamp ist doch alles…” Ein Stoß gegen seine Brust stoppt seinen lächerlichen Versuch Zeit zu schinden. Diesmal kippt der Stuhl nach hinten.

Frank schlägt hart mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Die Schmerzen sind unerträglich. Aber er bemerkt auch, dass die Armlehne endgültig ihren Geist aufgegeben hat. Putz bröckelt auf Franks Gesicht. Nach Luft ringend dreht Frank seinen Kopf und hustet.

“Entschuldige bitte meine klägliche Unterkunft. Villa Oppenheim ist auch nicht mehr das, was es mal war.” Kovac lacht theatralisch. “Der Luxus lässt stark nach, muss ich schon sagen. Dieses karge Gemäuer…” Alex macht eine ausladende Geste, dreht sich präsentierend im Kreis- zeigt auf blinde Fensterscheiben, das brüchige Treppengeländer, die Stockflecken an der Decke.

Das ist Franks Gelegenheit. Mit einem Ruck reißt Frank die angebrochene Armlehne aus dem Stuhl. Er befreit sich von den herabfallenden Seilstücken, während Kovac sich überrascht zu ihm wendet. Frank setzt mit einem kurzen Sprung über den zerbrochenen Stuhl und rammt Kovac die abgerissene Armlehne ins Gesicht. 

Kovac schreit auf, seine Beine geben unter der Wucht des Schlages nach. Als Kovac benommen auf dem Boden liegt, sieht Frank seine Chance. Er stürzt Richtung Treppe, doch Kovac greift nach Franks Beinen und zieht. Frank landet bäuchlings und ringt nach Luft. Kovac scheint sich zu erholen, baut sich vor Frank auf.

“Du miese Ratte.” Kovac tritt Frank in die Seite. “Jetzt wirst du nie erfahren, was ich mit deiner Familie vorhabe.”

Wut übernimmt das Handeln von Frank. Er dreht sich auf den Rücken, setzt einen kurzen Tritt gegen Kovacs Knie an. Kovac brüllt und stürzt zu Boden. Frank schleppt sich auf die Beine, greift zu dem Rest seines Stuhles und hebt ihn zu einem Schlag an. Mit lautem Kampfgeschrei stürzt Kovac sich in die Magengrube von Frank. Beide prallen durch das marode Treppengeländer und stürzen in die Tiefe.

 

 

“Hallo Schatz, hallo Kinder!” Von der Stimme ihres Ehemanns angelockt, erscheint Christine im Flur und sieht Frank, wie er seinen Schlüssel in die Schlüsselschale wirft. Seine Laptoptasche baumelt an der Seite und er setzt sie neben der Haustür ab.

“Frank? Was machst du denn hier? Hast du heute nicht die Lesung in Dortmund?” Zwar ist Christine verwundert über Franks Erscheinen, aber sie freut sich. 

“Auf nächste Woche verschoben. In Dortmund wird heute demonstriert.” grinst Frank ihr entgegen.

Sie wechselt ihr Geschirrtuch von der einen zur anderen Schulter, will ihn mit einem Kuss begrüßen.

Lisa und Anna wissen den Kuss zu verhindern und stürmen auf Frank zu. Sie umarmen ihn. Christine lächelt, sie lässt den Kindern gerne den Vortritt. Nach der Begrüßung der Kinder, geht Christine auf Frank zu.

Erschrocken hält sie inne: “Um Gottes willen, Frank. Wie siehst du denn aus? Dein Gesicht! Hast Du Dich verletzt?”

“Später Schatz. Das, was mir passiert ist, glaubst du nicht. Ich erzähle es dir heute abend, okay?” Frank lächelt Christine entgegen.

“Ja, ist gut.” sorgenvoll gibt Christine ihm einen Kuss auf die Wange.

“Ich springe mal kurz unter die Dusche und dann setzen wir uns gemütlich zusammen, abgemacht?” Frank ist bereits auf dem Weg zur Treppe.

“Abgemacht!” echoen alle drei hinterher.

“Hast du an dein Versprechen gedacht?” Christine kann nicht anders. Sie möchte einfach auch mal an erster Stelle stehen. Die Reise stand ihnen zu. Sie stand IHR zu.

Ihr Mann dreht sich zögernd auf der Treppe um: “Klar. Alles ist geregelt. Wir fahren in zwei Wochen nach Rom.”

Christine strahlt: “Ich freu mich so sehr!”

“Ich mich auch, mein Schatz”. Frank geht wieder nach oben. “Ich mich auch.”

Christine überlegt. Irgendetwas war gerade. Sie hat irgendwas gesehen, was sie nicht zuordnen kann. 

Sie denkt nach, während sie zur Küche zurück schlendert. Was hat sie gestört? Plötzlich erinnert sie sich, lacht und tut es als Macke ab. Warum nicht? Haben nicht alle Künstler die ein oder andere Macke? Was soll’s?

Sein linkes Augenlid zuckt, na und?

 

Ende

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