Lacrima5Der Betrug

Es war schon weit nach Mittag als Marlene aus ihrem Bett kroch. Ganz langsam und mit halb verschlossenen Augen tapste sie in Richtung Zimmertür. Ihr Schädel fühlte sich an, als hätte er nähere Bekanntschaft mit dem Kühlergrill eines LKWs gemacht. Sie verließ das Schlafzimmer und ging über den Flur in das Wohnzimmer mit offener Küche. Gott sei Dank waren die Vorhänge überall zugezogen. Das helle Licht der Mittagssonne hätte sie jetzt nicht verkraftet. Scheiße.. hab ich einen Brand..“, fluchte sie. Währen sie im Dunkeln vorsichtig nach einer Flasche Wasser suchte, hörte sie plötzlich das Vibrieren eines Handys aus Richtung Sofa. Schnell griff sie nach der erstbesten Pulle, die sie in dem Chaos finden konnte. Sie war leer. Hastig füllte sie sie mit Leitungswasser. Verkatert wie sie war, war Kohlensäure vermutlich eh keine besonders gute Idee und sie hatte das Gefühl, ihre Eingeweide würden aneinander kleben. Von dem pappigen Geschmack von Alkohol im Mund ganz zu schweigen. Sie brauchte sofort etwas zu trinken. Dessen war sie sich sicher. Sie nahm einen großen Schluck und bewegte sich Richtung Sofa, um nach ihrem Handy zu gucken. 

Besprechung 15 Uhr – Terrain“. Ihr Kalender hatte ihr eine Erinnerung geschickt. „Oh Fuck!“, entfuhr es ihr, als sie oben rechts in der Ecke die Uhrzeit erblickte.  Es war bereits Viertel nach zwei. Wie vom Blitz getroffen schnappte sie sich das erstbeste T-Shirt vom Stapel auf ihrem Sofa und fischte eine Jeans vom Küchenstuhl. Ein kurzer Geruchstest – das T-Shirt war grenzwertig, doch mit etwas Deo durchaus noch tragbar, und schon war sie angezogen und suchte nach ihrer Handtasche. Nebenbei kaute sie auf ihrer Zahnbürste rum, doch der widerliche Geschmack war nicht tot zu kriegen. Es war 14:25 Uhr als sie die Tür hinter sich schloss und zur Straßenbahn hetzte. „Nach der Besprechung muss ich dringend Wäsche waschen“, dachte sie noch.  

Das Terrain 

Das Terrain war eine kleine belebte Studentenkneipe. Als Marlene hier vor zwei Jahren angefangen hatte zu arbeiten, war sie selber noch Studentin gewesen. Kunst und Französisch hatte sie studiert. Auf Lehramt versteht sich, sonst hätten ihre Eltern ihr das nie erlaubt. Ihr Traum war es gewesen, im Pariser Viertel Montmartre zu leben und das Leben eines Künstlers zu führen. Eine Woche hatte sie mit Freunden in der Stadt der Liebe verbracht und ihr Herz an jenen Hügel verloren, von dem aus man Paris in voller Pracht erleben kann. Renoir, Gauguin, van Gogh, Dali. Die Liste der Namen bewundernswerter Künstler war schier endlos. Sie alle hatten dort gelebt und gearbeitet. Und Marlene wollte gerne ein Teil dieser Liste werden.  

Sie liebte die Fotografie und das Zeichnen und konnte sich nur schwer an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Dies führte letztlich auch zum Abbruch ihres Studiums vor einem Jahr. Ihren Eltern hatte sie davon allerdings noch nicht berichtet. Ihr Vater, ein hohes Tier bei einer Bank und ihre Mutter, Architektin, würden diese Art leben nie unterstützen. Ihnen war finanzielle Sicherheit das wichtigste. Das wünschten sie sich auch für ihre Tochter. Daher wollte Marlene warten, bis sie von ihrer Kunst leben konnte.  

Solange besserte sie ihr elterliches Taschengeld eben im Terrain auf. Obwohl sie ihren Lohn meist direkt nach Feierabend wieder dort ließ. Immerhin sicherte guter Umsatz letztendlich ihren Arbeitsplatz. Bastian, ein Typ etwa um die vierzig, war der Besitzer des Ladens und mittlerweile eher ein Freund als ein Arbeitgeber. Er saß bereits mit den zehn anderen Mitarbeitern, allesamt Studenten, am Tisch als Marlene um 15:05 Uhr endlich durch die Tür kam. „Du stinkst“, begrüßte Bastian sie und rümpfte die Nase. „Erinnert mich daran, dass ich Tequila bestellen muss. Aber wenn du jetzt da bist, können wir ja starten.“ Marlene zeigte ihm den Mittelfinger und setzte sich auf einen der Barhocker. Ihr Kopf dröhnte immer noch und sie musste sich halb auf den Tresen legen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vor zwei Jahren hatte sie den Alkohol irgendwie besser verkraftet. Jetzt war sie fast 25 und die Kater wurden von Woche zu Woche heftiger. Zumindest fühlte es sich so an.  

Bastian erzählte etwas von Dienstplänen und kündigte zwei neue Mitarbeiter an, die ab nächster Woche eingearbeitet werden sollten. Dafür würden Lena und Chris das Team verlassen. Sie hatten ihren Master nun in der Tasche und waren bereit in die richtige Welt entlassen zu werden.. so oder so ähnlich formulierte Bastian es zumindest. Marlene wusste nicht so recht, ob das Leben für die beiden jetzt echter oder richtiger werden würde, aber das ging sie ja auch nichts an. Sie sah sich im Raum um.  

Die alten Holztische waren überseht mit Kreisrunden Abdrücken und Kerben. In manche waren Buchstaben eingeritzt oder es war einfach nur die Farbe abgekratzt worden. Die Stühle waren ein heilloses Durcheinander. Rote Polster, grüne Polster, Hocker, mit Armlehnen, ohne Armlehnen – alles stammte aus Kneipenauflösungen. Bastian hatte gesammelt. Immer wenn eine „seiner“ geliebten Kneipen im Viertel dicht machen musste, hatte er ein oder zwei Erinnerungen gekauft. Bis er schließlich auf die Idee kam, selbst eine Kneipe zu eröffnen. So fanden die „Möbel mit Geschichte und Herz”, wie er seine Einrichtung nannte, auch eine neue Heimat.  

An den Wänden hingen die dazugehörigen Fotos. Alle von Bastian oder von Bastians Freunden und Bekannten geschossen, konnte man auf ihnen die ehemaligen Behausungen der Tische und Stühle des Terrains sehen. Diese Fotos erinnern Bastian an Menschen, die mittlerweile alle ein „anständiges Leben“ führen oder bereits nicht mehr unter uns weilten. Und an Zeiten, in denen das gemütliche Beisammensein in Kneipen, wichtiger war als die neue Staffel „Haus des Geldes“.  

Wenn einer der Gäste etwas zu den Bildern fragt, wird er direkt an Bastian verwiesen. Und nicht selten enden solche Fragen damit, dass Bastian einen Tequila nach den anderen ausgibt und mit viel Lachen und unter vielen Tränen die Geschichten der Fotos, der Kneipen und der Menschen erzählt. So haben sie sich auch kennengelernt, die Marlene und der Bastian.  

Die Fundsache  

Nach der Besprechung eilte sie schnell Richtung Ausgang. Sie wollte sich nur noch aufs Sofa lümmeln und etwas essen. Am besten war es, sie machte auf dem Heimweg noch einen Abstecher zum Türken ihres Vertrauens. „Hey! Warte mal!“, rief Bastian. „Dein Freund hat hier gestern sein Handy liegen gelassen!“ Freund? Welcher Freund? Ihre Augen mussten ihre Verwirrung verraten haben, denn erklärend fuhr Bastian fort: „Der Typ der dir gestern die vielen Tequila ausgegeben hat. Der hatte schon vor deinem Schichtbeginn nach dir gefragt. Ich dachte ihr würdet euch kennen.“ Langsam erinnerte sich Marlene. Lukas hieß er. Er hatte sie gestern angesprochen und nach ihrem Feierabend hatten sie noch ordentlich gebechert. Viel mehr wusste sie nicht mehr. Warum er wohl nach ihr gefragt hatte? Sie hatte ihn vorher nicht gekannt, aber manchmal verguckte sich ein Gast in sie. Mit ihrer großen, schlanken Figur und den kinnlangen dunklen Haaren, kam sie immer gut an bei den Kerlen. Und man sollte nicht unterschätzen, wie sexy eine Frau sein konnte, die ein Bier trank und über schmutzige Witze lachte. Vermutlich war er einfach schon öfter hier trinken gewesen und war Marlene nur nicht weiter aufgefallen.  

„Nie vorher gesehen“, sie zuckte mit den Schultern. „Kannte er meinen Namen?“ „Ja.. deswegen dachte ich, du könntest ihm sein Handy wiedergeben. Kannst du dich trotzdem darum kümmern. Ihr schient euch ja gut zu verstehen.“ Er zwinkerte und warf ihr das Handy zu. Sie fing es gerade so. „Idiot..“, murmelte sie. „Mach ich..“ und sie verließ den Laden. Kurz überlegte sie, woher er wohl ihren Namen gewusst hatte, doch schon in der Straßenbahn drehten sich all ihre Gedanken nur noch um fettiges Essen und eine eiskalte Cola. 

Die Kunst guter Fotos 

Zwei Lahmacun später zog sie das Handy aus ihrer Hosentasche. Sie rutschte tiefer in die Kissen, um mehr über den geheimnisvollen Lukas herauszufinden. Wenn sie sich recht erinnern konnte, war er recht attraktiv gewesen. Vielleicht ein wenig ungestylt, doch er hatte definitiv Potenzial gehabt. Für eine Nacht oder auch eine kurze Affäre hätte es gereicht. Doch viel mehr ließ sich aus dem Tequila-Nebel nicht mehr entnehmen. Mal schauen, ob wir meinen Gedächtnis auf die Sprünge helfen können“, sagte sie in den leeren Raum hinein. „Seltsam..“, entfuhr es ihr. Auf dem Handy gab es weder Instagram, noch Facebook oder irgendwelchen anderen Dienste. „Wie vertreibt der sich wohl die Zeit? Auch kein Tinder oder so. Ziemlich oldschool der Typ.“, dachte sie. „Deswegen spricht er auch fremde Frauen in Bars an. Mal was anderes, mal sehen wie gut das ankommt.“ 

Sie öffnete die Galerie um über seine Fotos mehr über Lukas und sein Leben zu erfahren. Nach kurzer Zeit wurde sie kreidebleich. Neben vielen normalen Fotos, auf denen Surfer auf dem Eisbach zu sehen waren oder er mit anderen im Biergarten saß, waren da immer wieder Fotos von ihr.  

Sie auf dem Weg zur Straßenbahn, beim Einkaufen, sturzbetrunken im Terrain. Die Bilder waren gut. Schon fast künstlerisch, aber was hatte das zu bedeuten? Hatte sie einen Stalker? Hatte er auch deswegen ihren Namen gekannt? Und hatte sie gestern auch noch mit ihm gefeiert. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Plötzlich klingelte es an der Tür.  

Lukas  

Nach einem kurzen Moment des Schocks, betätigte sie den Summer. Die Gegensprechanlage war sowieso kaum zu verstehen und bestimmt war es nur einer ihrer Freunde. Es war bereits nach sechs und so langsam würden viele sich für das Feiern bereit machen. Noch was fettiges essen und schon mal mit einem oder zwei Bier vorglühen. Dadurch, dass sie beim besten Türken des Viertels um die Ecke wohnte, fand das oft bei ihr statt. Manchmal auch ganz spontan. Für ein Bier war Marlene immerhin immer zu haben. 

Sie ließ die Tür angelehnt, während sie sich im Spiegel auf dem Flur die Haare etwas richtete. Als sie ihren Blick wieder Richtung Treppenhaus wendete, erschrak sie. Dort stand Lukas im Türrahmen 

„Hey Marlene.. alles gut bei dir?“ mhm.. ja.. etwas verkatert noch.. was machst du hier? Woher weißt du wo ich wohne?“ Marlene versuchte sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Vielleicht gab es ja auch eine logische Erklärung für die Bilder. Vielleicht war Lukas kein Stalker. „Dein Chef hat mir gesagt, dass du mein Handy hast und hat mir deine Adresse gegeben. Ich hoffe ich störe nicht?“, antwortete er. „Ah, natürlich. Ich hole es dir.“ Marlene eilte ins Wohnzimmer und nahm das Handy vom Couchtisch. Schnell wollte sie zurück in den Flur, doch Lukas stand bereits vor ihr. „Danke, bestimmt hab ich schon um die 100 Nachrichten“, sagte er lachend und entsperrte das Display. Sofort leuchtete ihn die Fotogalerie an. Offen war das Foto, auf dem Marlene im Rewe um die Ecke Wodka kaufte. Sie schluckte.  

Lukas Gesicht schien für eine Sekunde wie eingefroren. Dann hob er seinen Blick und schaute Marlene tief in die Augen. Seine Mundwinkel waren fast unmerklich ein Stück nach oben gewandert. Sein Lachen war einem eiskalten Lächeln gewichen. Fest hielt er seinen Blick auf Marlene. Er blickte ihr tief in die Augen. Sie hatte Mühe seinen Blick stand zu halten. Am liebsten wäre sie davongelaufen.  

Sie wich einen Schritt zurück. „Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, dich zu kontaktieren..“, stammelte sie. „Im Terrain kennt doch fast jeder jeden. Ich dachte, ich könnte jemanden aus deinem Freundeskreis fragen…“ 

Gefallen dir die Bilder?“, fragte er. „Was?“, Marlene verstand nicht recht. „Ob dir die Bilder gefallen? Fotografieren ist ja nicht so leicht wie die meisten Menschen meinen. Aber was sag ich das dir. Einer „Künstlerin”. Künstlerin. Selten hatte jemand dieses Wort so abschätzig ausgesprochen. „Zeig doch mal ein paar deiner Werke.“, forderte er sie auf. „Meiner..? Äh.. ich hab zur Zeit nichts hier. Eine Blockade, verstehst du? Hatten wir uns gestern darüber unterhalten? Kennst du ältere Bilder von mir? Ich habe eins von…“ „Von vor vier Jahren?“, unterbrach er sie. „Nein, wir haben gestern nicht darüber gesprochen. Du warst zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Na jedenfalls… Die Kunst des Fotografierens wird unterschätzt. Gerade ein Handy bietet nicht die Bequemlichkeiten einer guten Kamera. Auf einmal reicht nicht mehr nur das „gute Auge”. Man braucht auch Gefühl für Licht und Bewegung“, erklärte er Marlene, die sich vorkam wie in einer Vorlesung.  

Er hatte mittlerweile aufgehört sie anzustarren und wischte mit dem Finger über sein Display. Er sah seine Bilder durch, die Bilder auf denen Marlene zu sehen war. Dieses hier zum Beispiel“, er drehte sein Handy zu ihr um. Das Bild zeigte sie beim Tanzen mit einem Typen. Ihr Rock war ein Stück hochgerutscht, die Laufmaschen ihrer Strumpfhose waren deutlich zu sehen. Sie war betrunken. Das sah man ihr deutlich an. Marlene erinnerte sich nicht. Nicht an den Abend, schon gar nicht an den Typen.  

„Dieses Bild zeigt förmlich den menschlichen Abgrund. Alles entschuldigt mit einem „freien Geist“ den man für die Kunst behalten möchte. Das Motiv scheint über alle anderen erhaben, über diese sogenannten Spießer. Das wahre Leben ist für sie ohne wirkliche Verpflichtungen und Zwänge. Das schränkt nur die Kreativität ein. Alkohol, so meint sie, ist die Droge der Künstler und hilft dabei, der Kreativität freien Lauf zu lassen. Dass das einzige was Alkohol bei ihr bewirkt peinliches Verhalten ist, sieht sie nicht. Oder dieses:“, er wischte zwei Bilder weiter. Es zeigte Marlene beim Arbeiten hinter der Bar. Sie redete mit Bastian, guckte in Richtung Schankraum und schien sich zu amüsieren. „Auf diesem Bild verhöhnt das Motiv geradezu alle, die für ihre Zukunft mehr tun, als sie nur durch exzessiven Alkoholkonsum zu zerstören. All die Menschen, die für ihre Träume morgens früh aufstehen und jeden Tag ihr Bestes geben um einmal stolz auf ihr Leben zurückblicken zu können. Die ein nützlicher Teil unserer Gesellschaft werden wollen. Die nicht in den Tag hineinleben und einen Scheiß auf alles und jeden geben.“ „Ich verstehe nicht”, stammelte Marlene. „Ich weiß, du verstehst gar nichts“, antwortete Lukas.  

Die Vergangenheit  

„Du hast auch noch nie etwas verstanden. Vor allem nicht, wie viel Glück du im Leben gehabt hast. Du hattest schon immer alles und hast nie etwas zu schätzen gewusst. Du wirfst lieber alles hin um deine Freiheit zu behalten. Wichtig bist nur du, alle anderen sind dir egal. Du kotzt mich einfach an.“, Lukas Gesicht spiegelte mittlerweile den tiefen Hass wieder, den er zu empfinden schien. Er kam einen Schritt näher auf Marlene zu, diese schob sich langsam Richtung Küchenzeile. Um zu entkommen, müsste sie an ihm vorbei. Und selbst wenn ihr das gelänge, sie hatte keine Ahnung, ob sie ihm entkommen könnte. Ihre einzige Bewegung, war das gelegentliche Tanzen in Bars und Kneipen. Sport hatte sie das letzte Mal in der Schulzeit gemacht. Er hingegen sah nicht unsportlich aus, vermutlich hätte er sie bereits im Hausflur eingeholt. Sie konnte nur auf ihre Nachbarn hoffen. Diese kannte sie allerdings nicht und hatte keine Ahnung, wie diese reagieren würden, wenn sie plötzlich völlig aufgelöst an ihre Tür hämmern würde. Würden sie überhaupt die Tür aufmachen? Und wenn ja, wie schnell? Was hatte sie diesem Lukas nur getan?  

„Du weißt immer noch nicht wer ich bin oder? Hätte ich mir ja eigentlich denken können.. ich war viel zu bedeutungslos für dich. Du hast mein Leben zerstört und dachtest wahrscheinlich, dass dich das niemals einholen würde. Er kam wieder einen Schritt auf Marlene zu. Diese stand nun schon fast mit dem Rücken an der Wand und suchte unauffällig nach einem Ausweg. Da entdeckte sie, dass sie die Bratpfanne von gestern auf dem Herd stehen gelassen hatte. Sie musste nur versuchen unauffällig ihren rechten Arm ein Stück auszustrecken, schon hätte sie eine reelle Chance zu fliehen.  

„Was auch immer ich dir angetan habe, es tut mir leid. Hatten wir einen One-night-stand?“, fragte sie so ruhig wie es ihr in dieser Situation möglich war. 

„Einen One-night-stand?“, lachte er. „Du glaubst wirklich du wärst was besonderes oder?Hasserfüllt funkelte er sie an. Nein, es ist jetzt vier Jahre her, dass du mein Leben zerstört hast. Du hast das Leben geführt, das für mich  bestimmt war und hast dann nicht mal die Chance genutzt..“  

Der Einstellungstest  

„Was? Vor vier Jahren?“ Marlene dachte nach. Vor vier Jahren hatte sie mit ach und Krach das Abitur beendet. 3,6. Eine wahre Glanzleistung. Danach hatte sie die Zeit bis zum Studium fürs Ausschlafen und Feiern genutzt. Dabei war sie oft sehr betrunken gewesen, aber konnte sich an keinen Vorfall erinnern, der so etwas rechtfertigen könnte. Mit Beginn des Studiums war ihr Leben sogar ruhiger verlaufen, hatte sie die Sache doch anfangs sehr ernst genommen. Gerade nach der Sache mit der Aufnahmeprüfung. Die Aufnahmeprüfung! War es vielleicht das? Eigentlich konnte das nicht sein. Die Bilder waren aus dem Netz gewesen. Von irgendeinem Hobbyfotografen. Klein genug, um nicht so schnell auf Google auffindbar zu sein.  

„Wie ich sehe, geht dir langsam ein Licht auf. Du dachtest wohl, dein Betrug hätte keine Folgen. Du dachtest, es würde nie einer merken, dass das nicht deine Arbeit war. Ein Verbrechen ohne Opfer quasi. Doch, naja, wie das so ist, hast du dir die Bilder von jemanden rausgesucht, der selber an die Akademie der Bildenden Künste wollte.“ Marlene schluckte. Das durfte doch nicht wahr sein. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit für so etwas? Sie hatte wirklich lange nicht an diese Zeit gedacht. Für den Studienplatz beworben hatte sie sich auf drängen ihrer Eltern. Für ein Auslandsjahr hatte sie jegliche Bewerbungsfrist verpasst. Ein Jahr zu Hause wollten ihre Eltern nicht finanzieren. Bilder hatte sie schon immer gerne geschossen. Es schien zu passen.  

Doch durch ihre schlechten Noten, war sie sich sicher, dass ihr mindesten ein Jahr chillen sicher war. Und dann kam der Umschlag. Der große Umschlag. Eine Einladung zur Prüfung. Es sollte ein Kunstprojekt erschaffen und vorgestellt werden. Das Thema war Umwelt. Stichtag in vier Wochen. Massig Zeit für ein, zwei Fotos von der Blumenwiese dachte Marlene und frönte weiter der schönen freien Zeit. So richtig vergessen hatte sie das Projekt nicht. Aber irgendwie passte es nie. Entweder war es schon dunkel oder sie war verkatert oder die Stimmung passte einfach nicht. Für Kunst muss die Stimmung stimmen, sonst könnte man es auch lassen. Das wusste ja wohl jeder. Und so rückte der Termin immer näher, bis ihre Mutter ihr eines Abends viel Glück für den folgenden Tag wünschte. „Scheiße“, hatte Marlene leise geflucht. 

Für eigene Bilder war es zu spät. Also surfte sie ein wenig im Netz. Dort fand sie einen winzigen, aber doch tollen Blog. Ein ganzer Post behandelte sogar das Thema Umwelt. Unter den Fotos gab es Untertitel, die erklärten, was der Künstler sich dabei dachte. Es war perfekt. Die Zeit war knapp und ein Scheitern würden ihre Eltern nicht gelten lassen. Sie schob das schlechte Gewissen und die Angst beiseite und erstellte mit Hilfe dieser Fotos eine Präsentation für die Prüfung. 

„Ich muss kurz nach dir dran gewesen sein“, unterbrach Lukas ihre Erinnerungen. „Als sie meine Werke gesehen haben, wurde ich darauf hingewiesen, dass das unmöglich meine Bilder sein könnten. Immerhin hatte eine junge Frau diese bereits eingereicht und glaubwürdig vorgestellt. Ich wollte ihnen mithilfe meines Blogs beweisen, dass das meine Bilder sind. Doch sie haben mir gar nicht zugehört.“ „Wieso bist du nicht vor Gericht gegangen?“, fragte Marlene. „Weil nicht jeder Mensch Eltern hat die einem Zucker in den Arsch blasen können.. mit welchem Geld bitte hätte ich mir einen Anwalt nehmen sollen?“ Er schrie jetzt. Sein Gesichtsausdruck spiegelte den ganzen Hass und die ganze Wut wieder, die er wohl all die Jahre mit sich herumgetragen hatte.  

„Mir hätte der Studienplatz zugestanden. Ich hätte dort studieren sollen, wie es immer mein Traum war. Nach diesem Vorfall bin ich nie wieder zu einem Test eingeladen worden, anscheinend hatte ich den Ruf als Betrüger weg. Ich wollte nur herausfinden, wer mir das angetan hat. Es hat mich viel Arbeit gekostet. Fast alle Frauen des Unijahrgangs habe ich überprüfen müssen. Und dann hab ich dich gefunden. Und nicht nur dein Background hat dich verraten. Das Mädchen aus einer guten, glaubwürdigen Familie. Nein, auch dass du den Studienplatz aufgegeben hast, meinen Studienplatz, und quasi in einer Bar lebst. Wenn man deinen Namen bei Google eingibt, findet man Videos von einer halbnackten Betrunkenen, keine Kunstwerke. Das erklärt, warum ein Diebstahl nötig war, sonst wärst du im Leben nicht genommen worden.“ „Ich.. ich hatte den Termin verschwitzt.. “, stotterte Marlene. „Halt die Fresse. Es ist mir egal. Du hast mir mein Leben gestohlen und dann hast du es weggeworfen! Für nichts!“ Er schrie so sehr, dass ihr die Spuckebläschen ins Gesicht flogen. Sie zuckte ruckartig nach rechts, griff Richtung Herd und schlug ihn die Pfanne auf den Kopf. 

Die Flucht 

Er taumelte und fiel zu Boden. Ohne lange zu zögern sprang sie über ihn hinweg und rannte aus der Wohnung. So schnell sie konnte, eilte sie durch das Treppenhaus, raus, über die Straße, sie rannte bis sie am Dönerimbiss ankam. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, schrie sie: „Ruf die Polizei! Jemand ist hinter mir her!Doch er schien ihr nicht gefolgt zu sein. Zehn Minuten später war dann die Polizei da und von Lukas war weiterhin nichts auf der Straße zu sehen. „Der Schlag war wohl ziemlich heftig. Er schien das Bewusstsein zu verlieren. Nur so konnte ich überhaupt fliehen.“ Gab sie bei der Polizei zu Protokoll. Aufgelöst und unter Tränen erzählte sie die ganze Geschichte. Es war ihr alles egal. Sie wollte sich nur in Sicherheit wissen. Lukas Blicke hatten für sie keine Zweifel gelassen. Er wollte ihr wehtun oder sogar schlimmeres antun. Und er würde vorher keine Ruhe finden. Die Polizei musste ihn wegsperren. Anders wäre sie hier nicht mehr sicher. Ihr Leben,  so wie es jetzt war, wäre für immer vorbei.  

Sie kehrte gemeinsam mit den Beamten zurück in die Wohnung. Marlene zitterten die Knie als sie über die Schwelle der Haustür trat, die natürlich offen stand. „Warten Sie hier“, sagte der Polizist bevor er über den Flur ins Wohnzimmer ging. Kurz darauf kam er zurück. Da ist keiner mehr.“ Erschrocken lief Marlene selbst hinein. Das Handy war weg und auf dem Küchenfußboden war ein kleiner Tropfen Blut, doch Lukas war weg. Die Polizei gab sofort eine Fahndung raus. Marlene verbrachte die Nacht erst einmal auf der Wache, doch auch am nächsten Morgen gab es keine Spur von Lukas. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.  

2 Monate später 

Marlene wohnte wieder bei ihren Eltern. Es war nicht anders gegangen. Sie musste weg aus der Stadt, aus ihrer Wohnung und auch auf der Arbeit hatte sie sich nicht mehr sicher gefühlt. Ohne Rücklagen blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Eltern die Wahrheit zu erzählen und vorerst zurück zu ziehen. Die Begeisterung hielt sich auf beiden Seiten in Grenzen. Nun suchte Marlene eine Ausbildungsstelle, das war die Prämisse gewesen. Mit den nächtelangen Feiern war es vorbei, ihre Eltern erlaubten dieses „Lotterleben” nicht. Marlene vermisste ihr früheres Leben, doch immerhin war sie hier nicht in Gefahr. Auf einmal vibrierte ihr Handy. Es war eine WhatsApp-Nachricht. Die Nummer kannte sie nicht. Die Nachricht bestand nur aus einem Foto. Auf dem war sie zu sehen, wie sie sich im Garten ihrer Eltern sonnte.. 

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