came1988Der Eindringling

 

Beim Öffnen der Tür merkt sie noch nichts. Laufen diese Handlungen des Alltags nicht immer gleich ab? Keine zusätzlichen Gehirnwindungen werden gebraucht, keine besondere Aufmerksamkeit. Die Hand sucht den Schlüssel, streicht verhalten über die Seiten der beiden viereckigen Exemplare am Schlüsselring. Einer davon, der richtige, hat rechts eine glatte Seite. Diese wird erspürt, die Finger greifen danach und bringen ihn in die richtige Position. Bewegen der Schlüsselspitze am Schloss, erst leicht nach links dann nach rechts und schon ist die Mitte ausfindig gemacht. Er gleitet hinein, die Zacken finden die Einkerbungen. Ein Uhrwerk. Das Bewusste ICH steht still im Hintergrund. Wird nur aktiv, wenn bei der automatischen Handlung etwas geschieht, was den Automatismus lahmlegen könnte. Ein Steinchen in der Öffnung. Ein Klemmen der Tür. Heute gibt es keinen Grund aus dem Hintergrund nach vorne zu kommen und den Autopiloten auszuschalten. Wenn sie hier bereits auf manuelle Kontrolle umgestellt hätte, wenn sie die Sinne wieder geschärft, den fremden Geruch, die knisternde Stille wahrgenommen hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen.

 

Sie schließt die Tür hinter sich und ist in Gedanken gleich zweifach anderweitig beschäftigt. Zum einen versucht sie irgendwo in ihrem Hinterzimmer des Gedächtnisses die Textpassage der zweiten Strophe des Liedes zu angeln, welches sie gerade im Radio gehört hat. Your pride has built a wall, so strong that i can´t get through….  Die andere Beschäftigung ist wesentlich intensiver. Und erfreulicher. Die Erinnerung an den Mann, der sich dort befand, wo sie sich vor einer halben Stunde noch befunden hat. Ihr Trainer im Fitnessstudio ging wieder einen kleinen Schritt weiter. Seit Monaten achtet sie auf jeden Blick, jede scheinbar unverfängliche Berührung. Wie er ihr den Rücken durchdrückt, wenn sie die falsche Haltung einnimmt, den Bauch berührt, wenn sie tiefer einatmen soll. Zu Beginn sehr verhalten, jetzt mit immer mehr Auflagefläche seiner Hände. Zu Anfang mit ernster Miene, nun immer aufgeschlossener und mit immer neugierigeren Blicken. Letzte Woche hat er sie zum ersten Mal nach dem Training angesprochen. Wie sie mit ihrem Fortschritt zufrieden ist, wie sehr ER mit IHR zufrieden ist und so weiter. Heute dann, nachdem er während der Pilatesstunde wieder mehrfach ihren Körper korrigierte, obwohl sie sich sicher war, dass sie alles richtig gemacht hatte, kam er wieder zu ihr. Natürlich nicht offensiv. Wie zufällig lief er an ihrem Laufband vorbei, musste wohl dringend in diese Richtung, da hinter ihr ja so viele Orte waren, zu denen er wollen konnte. Die ersten privaten Fragen. Ob sie sich zu Hause auch oft genug dehne, ob sie auf der Arbeit genügend Zeit hatte zwischendrin zu entspannen. Was sie eigentlich arbeite und so weiter. Smalltalk. Ganz unverfänglich. Natürlich. Erfreulich, obwohl er eigentlich nicht ihre erste Wahl ist. Ihr Favorit ist und bleibt Daniel. Die momentane Beziehungsflaute liegt nur daran, dass er es noch als „zu früh“ erachtet. Selbst schuld, denn man kann sich ja umschauen, nicht wahr?

 

Sie bemerkt also die veränderte Energie des Raumes nicht. Die Entweihung der Heiligkeit ihres Reiches. Sie geht in der Küche vorbei an der leeren Ladestation ihres Festnetztelefons. Nachdem sie ihre Sporttasche auf einen Stuhl im Esszimmer gestellt hat, begibt sie sich, immer noch vor sich hin summend, in das obere Stockwerk und dort ins Badezimmer. Das Beste am Sport ist die erfrischende Dusche danach. Sie genießt den kalten Schauer. Die steifen Gelenke erholen sich langsam und es stellt sich wieder das befriedigende Gefühl ein, man habe den Schweinehund für heute in den Zwinger gesteckt. War es das kühle Nass, dass sie völlig ins Hier und Jetzt zurückholte? Als sie diesmal die Stufen betritt sieht sie es sofort. Das Esszimmer ist anders. Zuerst kann sie sich nicht erklären warum. War vorhin der Autopilot ihres Körpers eingeschaltet, so befindet er sich jetzt im Analysemodus. Was ist hier anders? Als sie das Erdgeschoss erreicht, weiß sie es. Es ist sehr sonnig draußen, aber es dürfte hier trotzdem nicht so hell sein. Sie liest hier oft, da es der Raum mit den größten Fenstern ist. Genau das ist Vor- und Nachteil, denn das Licht ist perfekt zum Lesen geeignet, aber es ist zur Mittagszeit zu grell. Die Sonne steht um diese Uhrzeit senkrecht über dem Garten. Sie wird von innen nur zum Teil durch das beginnende Dach verdeckt. Den Rest übernehmen die Rollläden. Sie kann sich nicht einmal erinnern wann sie zum letzten Mal das Band in der Hand hatte, da sie schon lange die richtige Position ermittelt hatte. Warum etwas ändern, dass funktioniert? Also warum zum Teufel sind die Läden komplett im Kasten verschwunden? Mit einer Hand schützend über den Augen, steht sie am Fuße ihrer Treppe und sieht der Sonne ins brennende Gesicht. Als sie den Blick wieder abwendet, kann sie kurze Zeit gar nichts wahrnehmen. Die gelben Flecken in ihrem Sichtfeld erlauben nur eine schemenhafte Kontur von allem. Sie geht halb blind durch den Raum, bis zu ihrem Esstisch. Sie findet durch Tasten ihre Sporttasche auf dem Stuhl, auf der sie sie vorhin abgestellt hat. Seltsamerweise entlockt sich ein leiser Seufzer der Erleichterung. Doch bevor sie hineingreifen kann, lichtet sich langsam der Film über ihren Augen. Sie erkennt einen schwarzen Gegenstand direkt vor ihr. Ein viereckiges Ding. Nachdem sie danach greift, weiß sie sofort, dass es sich um ein Handy handelt. Ein Smartphone. Nach ein paar weiteren Sekunden erkennt sie auch das Logo. Dieser angebissene Apfel ist schließlich weltweit bekannt. Auch wenn sie inzwischen weiß um was es sich handelt, dreht sie das Gerät in ihren Händen hin und her. Als könne eine eingehendere Untersuchung das plötzliche Auftauchen erklären.

 

Anders als beim intuitiven Öffnen einer Haustür finden jetzt ausschließlich bewusste Gedankengänge statt. Im Prinzip können Menschen, die ein Rätsel lösen müssen, froh sein, dass ihre Grundfunktionen wie die Schließmuskeln noch normal funktionieren. Dies wurde vor langer Zeit an einer höheren Stelle einprogrammiert. Eine Stelle die weit über die Gehaltsstufen der Menschheit hinaus geht. Noch während sie die Läden anstarrt, steigt die Hirnleistung signifikant an. Fragen werden gestellt und wenn auch nicht gleich eine Lösung gefunden werden kann, so werden doch Vorschläge unterbreitet. Was allerdings ebenfalls stattfindet, ist das zwangsläufige Leugnen von Gefahr. Es wird sofort nach rationalen Erklärungen gesucht. Der Angriffs- und Fluchtinstinkt scheint verkümmert. Nein, es ist natürlich nichts Gefährliches. Meinst du ein schwarzer Mann hat die Läden hochgezogen? Du hast es bestimmt unbewusst gemacht. Vielleicht schon vor ein paar Tagen, als das Wetter nach dem langen Grau endlich besser wurde. Überleg doch mal, warum sollte ein Einbrecher MEHR Licht und MEHR potenzielle Zeugen wollen? Nur dass es hier keine Zeugen gäbe. Der Garten liegt hinter den Fenstern und der ist mit Bäumen und Hecken umzäunt. Aber es stimmt tatsächlich, dass mehr Licht, eigentlich nur grelles Sonnenlicht, nichts ist, was einem Eindringling so wichtig sein kann, dass er das Risiko eingeht entdeckt zu werden. Oder etwa doch.

 

Diese anfangs lauten Gedanken treten in den Hintergrund, sobald sie das Smartphone aufhebt. Sie besitzt zwar eines, aber es ist weiß und von einem anderen Hersteller. Und es ist in ihrer Tasche. Sie drückt auf den runden Knopf, der ein Smartphone der Marke Apple leicht erkennbar macht. Das Gerät leuchtet auf. Ihre Augen weiten sich bei dem Anblick, der sich ihr bietet. Sie kann den Schrei nicht unterdrücken, der ihrer Kehle entweicht. Sie wirft das Handy zurück auf den Tisch und tritt vorsichtshalber 3 Schritte nach hinten. Man muss möglichst viel Abstand zwischen sich und den Feind bringen, da ist sich ihr Körper wohl sicher. Übelkeit droht sie zu übermannen und diesmal blitzen Fragmente von Gedanken nur so durch ihren Kopf. Viele in Bildern, manche als Erinnerungen. Die Haustür. Das Schlüsselloch. Manche jedoch recht klar formuliert. Wer kann hier rein? Niemand hat einen Schlüssel, aber du hast die Tür AUFGESCHLOSSEN! Alles war intakt! Sicher? Sie versucht sich die letzten 30 Minuten ins Gedächtnis zu rufen. War alles wie immer gewesen? Sie schwenkt ihren Kopf hektisch nach links, um auf die Haustür zu schauen. Geschlossen. Keine Spuren von Gewalt an Rahmen oder Schloss. Sie schaut sich um. „Ist hier jemand?“. Keine Antwort. Was für eine sau dumme Frage. Natürlich. Jetzt übernimmt ihr Körper wieder die Führung. Ihr Geist ist zu beschäftigt mit dem WIE, um irgendwelche Befehle geben zu können. Sie geht die paar Schritte auf ihre Tasche zu, versucht nicht daran zu denken, was sie auf dem Display dieses schwarzen Dings gesehen hat und kramt nach ihrem eigenen Handy. Sie kann nichts finden. Die Tasche ist zu voll, es kann überall sein. Beeilung. Sie wirft die Tasche auf den Boden, kniet sich hin und leert sie komplett aus. Scheiß auf alles was herausfällt. Aber nirgends ist das Handy. Sie atmet stoßweise und viel zu schnell. Langsam schließt sie die Augen und versucht sich zu beruhigen. Leichter gesagt als getan. Sie versucht aufzustehen, doch ihre Beine zittern zu sehr, als dass es einfach so gelingen würde. Sie nimmt die Stuhllehne zur Hilfe. Langsam und mit zitternder Hand, greift sie wieder nach dem schwarzen Fremdkörper und drückt nochmals auf die Taste. Sie ist nicht sicher was sie diesmal erwartet. Vielleicht will ein hoffnungsvoller Teil in ihr nicht glauben, was sie gesehen hat. Es wird sich als unwahr herausstellen. Sie wird schon sehen. Da hat ihr ihre Angst einen Streich gespielt. Ganz einfach. Achja? Was macht dann dieses Ding hier, wenn du dir alles nur einbildest? „Das weiß ich nicht.“ Sie drückt den Knopf und sieht in ihr eigenes, lachendes Gesicht. Keine Einbildung.

 

Sie kann den Blick nicht abwenden. Wie kam ein Bild von ihr auf dieses Handy? Wo kam es her? Kann es dir nicht einfach reichen, dass hier was faul ist? Hier war jemand! Ist bestimmt noch hier! Diesen sehr lauten Gedanken kann sie endlich aus dem Meer des Frage-Antwort-Spiels herausfiltern. Sie dreht sich um und rennt zu ihrem Festnetztelefon. Doch es ist nicht da. Sie sucht schnell die Umgebung des Esszimmers und der Küche mit den Augen ab. Nichts. Aber dann wird ihr Mund trocken. Das Kabel an der Wand ist durchtrennt. „Was zum…“ und plötzlich erklingt etwas hinter ihr. Am Scheitelpunkt ihrer geistigen Klarheit angelangt, fährt sie übertrieben zusammen. Das Geräusch durchzuckt die Stille wie ein Donner. Wie ein Klang der nicht von dieser Welt zu sein scheint, weil er einfach nicht passt. Er wiederholt sich. Beim zweiten Mal ist es schon nicht mehr so schlimm, da ihr schmerzender Kopf eine Verknüpfung herstellen konnte. Erstens, es ertönt hinter ihr. Zweitens, sie hat es schon einmal gehört. Sie kramt wieder in ihren Erinnerungen. Sie siebt, sondiert und schlussfolgert. Sie kennt das Geräusch. Es stammt aus ihrer Kindheit UND dem Jetzt. Es ist die Hupe eines Oldtimers. Des Waltons-Autos. Und einer der Töne, die ein iPhone von sich gibt, wenn ein Anruf eingeht. Langsam dreht sie sich um und begibt sich zum Esstisch zurück. Ihr lachendes Gesicht auf dem Tisch leuchtet noch auf und wird dann von der Schwärze überflutet. Es war kein Anruf, sondern eine Nachricht. Beim Betätigen des verhassten, runden Knopfes wird wieder Leben in das Ding eingehaucht. Sie sieht ein grünes Fenster über ihrem Gesicht. Darin stehen sechs Ziffern. 031183. Ihre Stirn legt sich in Falten, jedoch nur für einen Moment. Die Verknüpfung hat diesmal nicht so lange gedauert. Es ist ihr Geburtsdatum. Jemand weiß ihr beschissenes GEBURTSDATUM. Darum geht es nicht. Er will, dass du es entsperrst. Siehst du? Keine Punkte. Das ist der Code für den Zugriff. Sie glaubt nicht, dass ihre Finger ihr gehorchen werden. Trotzdem drückt sie den Knopf erneut und das Smartphone verlangt einen Entsperrungscode. Sie tippt zitternd auf dem Touchscreen herum. Falsch. Ihre Finger sind zu nass. Zu verschwitzt. Sie probiert es wieder. Diesmal klappt es. Sie hört ein leises KLACK und befindet sich im Menü. Ohne die Nachricht zu lesen, versucht sie sofort das Telefon aufzurufen. Aber es ist durch einen weiteren Code gesperrt. Sie versucht es wieder mit ihrem Geburtsdatum, aber natürlich funktioniert es HIER nicht. Bevor sie dem Drang nachgibt das Ding auf dem Boden aufzuschlagen, zuckt ihr Blick auf das rote Symbol, das eine eingehende Nachricht anzeigt. Sie tippt darauf, also eigentlich ist es mehr ein klebriges Wischen. Der Ordner geht auf und sofort sieht sie das Bild, das der Inhalt der letzten Nachricht war. Der Gedanke an das Wegwerfen ist verschwunden. Ihr Kopf ist vollkommen leer. Mit einem lauten Knall, der die Stille durchbohrt wie ein Eindringling, landet das iPhone mit einem lauten Aufprall auf dem Boden. Sie hat es fallen lassen. Auf dem Bild war wieder sie zu sehen. Nur diesmal war es kein Portraitfoto, dass sie auch selbst besitzt und zum Beispiel schon für Bewerbungen genutzt hat. Diesmal war es eine normale Alltagsaufnahme. Davon, wie sie mit einer Hand über den zusammengekniffenen Augen in ihrem Esszimmer steht und von der Sonne geblendet nach draußen sieht. In die Kamera. Plötzlich denkt sie ein Geräusch wahrzunehmen.

 

Wenn der menschliche Körper sich in einem Schockzustand befindet, vergeht die Zeit für das scheinbar gleichzeitig schnell und langsam. In ihrem Fall schnell, weil sie sich bereits im obersten Stock befindet, bevor sie es realisieren kann. Langsam, weil sie in einer Minute so viele Szenarien ihres Todes durchdenkt, dass sie selbst zu einem echt guten Killer werden könnte. Sie wird verfolgt, das ist klar. Sie rennt in ihr Schlafzimmer (denn suchen wir nicht ein Leben lang Schutz nach einem Alptraum unter der warmen Decke des Bettes) und schließt die Tür hinter sich ab.

 

Als nächstes sitzt sie schon an die Wand gelehnt hinter ihrem Bett und hofft, dass es als eine Art Barrikade herhalten kann. Sie sieht nach unten und bemerkt, dass sie ihre Leselampe in die Hand genommen hat. Vermutlich als Waffe. Wirklich bemerkt hat sie das alles nicht. Sie weiß aber in diesem Moment wo sie ist und was gerade geschieht. Sie weiß, dass sie wartet.

 

Es war jemand im Haus. Er hat die Rollläden nach oben gezogen. Hat das Telefonkabel durchgeschnitten. Hat während du geduscht hast dein Handy mitgenommen und ein anderes deponiert. Dann hat er gewartet und ein Bild davon gemacht, wie du die Treppe runterkommst.

 

„Nicht ganz. Er hat gewartet bis es mir aufgefallen ist.“

 

Richtig. Er hat gewartet, dich fotografiert und dir dann den PIN und das Foto geschickt. Irgendwas stimmt nicht. Warum hat er dich nicht einfach überwältigt? Zum Beispiel als du die Tür aufgeschlossen hast oder als du nackt in der Dusche warst.

 

„Keine Ahnung. Wie logisch denkt ein Irrer?“ Bei dem Gedanken an sämtliche schlechten Horrorfilme hört sie sich ein trockenes Lachen ausstoßen. Ist sie nicht wie alle dummen Blondinen-Opfer nach oben gerannt?

 

Mit sich selbst redend auf einen Mörder zu warten, eine Lampe als Waffe, das sieht nicht gerade nach geistiger Gesundheit aus. Das sieht sie, als sie sich gegenüber ins Gesicht sieht. Eine Tür des Schranks dient ihr als Ankleidespiegel. Schweißnasses, rotes Gesicht. Zerzauste Haare. Wahrscheinlich sehen alle Menschen, denen so etwas passiert gleich aus, unabhängig von ihrem sonstigen Äußeren. Die gepflegte Schönheit schwindet und Grauen macht sich breit. Das Innere nach außen gestülpt. Plötzlich kriegt sie keine Luft mehr.

 

Der Schrank!

 

Sollte sie direkt in die Falle gegangen sein? So leichtfertig? So bescheuert? Langsam erhebt sie sich. Die Wand dient als Stütze. Sie durchquert scheinbar in Zeitlupe den Raum. Diesmal sind ihre Sinne so geschärft, dass sie den Teppich unter ihren nackten Füßen spürt, den frischen Duft ihrer Bettwäsche riecht und irgendwo weit weit weg in ihrem Garten, in einer anderen Dimension, einen Vogel singen hört. Sie steht vor Angst schlotternd vor ihrem Schrank. Alle Türen sind fest geschlossen. Es gibt keine Möglichkeit für eine Person im Inneren aus selbigem hinauszusehen. Ein taktischer Vorteil für sie. Sollte man meinen. Wenn man mit einer Lampe umgehen kann vielleicht. Und wenn der Kerl da drin nicht 2 Meter groß ist. Aber was ist, wenn sie jetzt das Schlafzimmer verlässt und DANN dem Killer in die Hände läuft? Sie hält die Luft an. Greift nach der ersten Schranktür und zieht ruckartig daran. Erst nachdem sie die Augen wieder geöffnet hat, bemerkt sie, dass nichts dahinter ist als Kleidung. Augen zu? Ernsthaft? Die anderen beiden macht sie genauso schnell auf, aber mit mehr Bedacht. Vor allem optisch. Womöglich ist der Schrecken mit der ersten Tür abgeflaut, denn jetzt geht es schneller. Niemand ist drin. Durchatmen. Sie ist allein hier. Sie bewegt sich zur Tür. Lauscht. Keine Schritte im Flur, keine Schritte auf der Treppe. Nichts. Alles still. Zu still.

 

Also dieser Typ spielt Psychospiele. Er hinterlässt Spuren, DAMIT du sie findest. Er nähert sich dir aber nicht. Klingt das schlau?

 

Es hat sie jedenfalls aus der Fassung gebracht. Was ist, wenn genau das das Ziel war. Sie dreht langsam den Schlüssel der Schlafzimmertür. Diesmal geschieht dieser Vorgang mehr als wachsam. Sie öffnet sie und sieht nach beiden Seiten in den Gang. Nichts. Immer noch kein Laut. Der Typ spielt Verstecken mit ihr. Nachdem sie das Foto gesehen hat, ist sie nach oben gestürmt. Das sollte er gehört haben. Aber es tut sich nichts. Wenn sie jetzt umherläuft und so wenig Laut wie möglich macht, könnte es sein, dass sie IHN überraschen kann. Immerhin hat sie die Lampe.

 

Er muss durch ein Fenster eingestiegen sein. Die Waschküche?

 

Vermutlich. Damit sich kein Schimmel bildet, lässt sie immer ein Fenster offen, wenn auch nur in Kippstellung. Für einen geübten Einbrecher womöglich kein Problem. Das heißt, dass ihr Versteckspielkamerad ungehindert ein- und ausgehen kann. Daher auch das Foto von draußen. Wenn sie warten würde, bis er wieder hineinkommt, ihn umgeht und dann selbst hinausklettert…

 

Er will dich mürbe machen!

 

Langsam läuft sie weiter. Sie kommt an ihrem Gästezimmer vorbei, sieht und horcht hinein und erreicht bald darauf die hintere Treppe zurück ins Erdgeschoss. Gleichzeitig kann sie von dort direkt in den Keller gelangen. Nur dort kann das Ziel sein.

 

Diese Psychonummer ist persönlich. Das Geburtsdatum. So persönlich, dass es einem gegönnt wird den Verstand fast zu verlieren. Intrigant und grenzüberschreitend. Vor allem aber feige.

 

Das ständige Frage- und Antwort- Spiel in ihrem Kopf führt zu einer Empfindung, die in solch einer, sagen wir mal nicht alltäglichen Situation, hilfreich sein kann. Sie kann dazu führen, dass Qualen besser erlitten werden können. Es kann dazu führen, dass man Schmerz fast nicht mehr wahrnehmen kann. Es führt aber meistens auch dazu, dass man unvorsichtig wird. Zorn ist eine starke Emotion. Die Frage wer dahinter stecken könnte hat das unbewusst entfacht, denn was tut man mit demjenigen, wenn man ihn findet? Darüber schonmal nachgedacht? Was, wenn man ihn überwältigen kann? Die Bullen rufen?

 

Nicht sofort Schätzchen.

 

Auf Zehenspitzen betritt sie die Treppe. Sämtliche Antennen ihres Körpers sind so gespannt, dass sie zu knistern scheinen. Sie ist leicht gewunden und versperrt ihr ein wenig die Sicht. So kann sie zwar das meiste ihres Wohnzimmers einsehen, aber eben doch nicht alles. Vor allem kann sie nicht nach unten in den Keller sehen. Trotzdem geht sie weiter, die Lampe vor sich. Wenn sie jemand frontal angreifen würde, hätte er zuerst die Glühbirne und anschließend das feste Metall im Gesicht. Der Aufprall wäre unschön mitanzusehen. Oder doch nicht? Grinsen. Wieder droht der Schweiß an ihren Händen überhand zu nehmen, doch sie nimmt ihre Waffe fester in den Griff. Im Wohnzimmer angekommen ist sie sich nun zu 100 Prozent sicher, dass niemand hier ist. Immer noch hat sie keinen Ton gehört. Allerdings schlägt ihr Herz so laut, dass sie Angst hat sich nur dadurch einem möglichen Feind zu offenbaren. Langsam schleicht sie durch das gesamte Erdgeschoss. Wäre hier ein Spiegel angebracht, hätte sie sich selbst nicht erkannt. Nichts.

 

Was bringt jemanden dazu, so eine Nummer abzuziehen. Einbruch, Diebstahl, Vandalismus. Nur um dann die Biege zu machen? Weibischer geht’s ja nicht.

 

Und plötzlich weiß sie es.

 

Sie bleibt stehen und sieht um die Ecke ihren Esstisch stehen. Die Erinnerung an das schwarze iPhone projiziert es fast wieder an seinen alten Platz, wenn es auch inzwischen irgendwo auf dem Holzboden liegt. Warum hält man sich ein Opfer klein. Weil man selbst klein ist. Warum sperrt man Tiere in einen Käfig- weil sie stärker als man selbst sind. Sie wurde zuerst überrumpelt, dann geschockt und bloßgestellt. Sie wurde gejagt. Doch nicht körperlich.

 

Es ist eine Frau!

 

Natürlich. Und sie wusste auch wer. Wie konnte ihr das entgangen sein? Die Blicke.

 

Es ist die Frau, die seit ein paar Wochen in dasselbe Fitnessstudio geht. Ihr war aufgefallen, dass sie jemandem ähnlichsieht, aber sie kam nicht drauf. Diese Frau hat letzte Woche sogar ihre verfickte Mitgliedskarte aufgehoben, als sie ihr heruntergefallen war. Nett, aber unscheinbar. Unsicher. Bei dem Gedanken läuft es ihr eiskalt über den Rücken. Auf den Karten des Studios steht das Geburtsdatum jedes Mitglieds.

 

Es war seine Frau. Natürlich. Eine neuerliche Woge der Schwäche überkam sie. Der Zorn löste sich auf. Sie hatte es sozusagen selbst herbeigeführt. Sie hatte billigend in Kauf genommen, dass eine Frau verletzt wird, die ihrem Mann vertraut. Einem Mann, der mit ihr ins Bett ging. Und das schon seit Wochen. Der ihr zugesagt hatte, seine Ehe aufzugeben, wenn die Zeit reif dazu sei. Bald. Beim letzten Mal trafen sie sich sogar in Daniels Haus. IHREM Haus. Seine Frau Clara war auf einer zwei-tägigen Geschäftsreise. Die Verruchtheit des Treffens, weil es in seinem Haus stattfand hatte alles noch viel geiler gemacht. Sie konnten sich kaum zurückhalten. Später hatte sie die Bilder von ihr gesehen und schon wenige Wochen später erkannte sie die gleiche Frau nicht, als sie ihr die Mitgliedskarte des Studios aufhebt und ein wenig lächelt, als sie sie dankend annimmt.

 

Ist das jetzt nicht scheißegal? Die Bitch ist hier! Mach‘, dass du rauskommst!

 

Der Keller war egal, solange sie die Treppe im Blick behielt, konnte sie durch die Haustür gehen. Clara musste dort unten hocken und auf sie warten oder plante eine neuerliche Tortur im Handy- Foto- Rollladenstil. Doch wie weit würde sie noch gehen? Sie rannte zur Haustür, schloss sie auf und öffnete sie. Eine Handlung die sie schon so oft vollzogen hatte. Diesmal fast zu bewusst, sodass es zu tollpatschigen Schwierigkeiten kam, denn der Schlüssel schien zu klemmen. Doch das war natürlich nur das Adrenalin. Die Überschwänglichkeit der Handlung. Jede ach so unwichtige Aufgabe war für einen Körper in ihrem Zustand fast nicht zu bewältigen. Als die Tür zur Freiheit sich öffnet und sie noch einmal schnell hinter sich sieht, feststellt, dass sie immer noch allein ist, tritt sie nach draußen. Plötzlich stellt sich eine Gestalt vor sie. Sie wirft einen Schatten auf ihr Gesicht und so kann sie sehr gut erkennen, wer vor ihr steht. Es ist nicht Clara. Dann wird alles dunkel.

 

One thought on “Der Eindringling

  1. Ahhh, wieso nicht??!! Ich will wissen wer es war!! 🤪😄Wirklich gelungen deine Story. Dein Stil lässt vermuten, dass du beruflich etwas mit dem Geist bzw. dem Körper des Menschen zu tun hast. Eine Frage hat sich mir aber erschlossen, warum grinst sie in dieser Stelle:
    Der Aufprall wäre unschön mitanzusehen. Oder doch nicht? Grinsen.

    Sie wirkte auf mich in dieser Situation doch sehr ängstlich, darum passt dieser Grinser irgendwie nicht, aber ist nur meine Meinung ✌️😊

    Ich bin froh, dass du bei meiner Story “Wegen mir!” kommentiert hast und mich so zum Lesen deiner Geschichte ermuntert hast. Sie war wirklich packend…. Und ich will immer noch wissen wer da steht🤪🤪🤪

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